Austausch - Organisationen Allgemein Testbericht

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  • Betreuung vor Ort:  schlecht

Erfahrungsbericht von fa[Q]

Musik als Mittel der Opposition von Lukaschenko

Pro:

-

Kontra:

-

Empfehlung:

Ja

Am 30 März um 23 Uhr fuhr der Ost-West-Express auf Gleis 9 im Hannoveraner Hauptbahnhof ein. Die Schlafabteile waren klein und mensch konnte die Beine nur quer ausstrecken. Es stand uns eine 17-stündige Fahrt bevor. Das Ziel Gommel erreichen wir über Berlin, Warschau und Minsk.
Ich weiß nicht wie, aber irgendwie haben wir es geschafft, das kilogrammschwere sperrige Gepäck zu verstauen, darunter 1200 Kondome für eine geplante Anti-Aids-Kampagne im Winter. Schließlich wurde das Sitzabteil in eine Schlafzimmer umfunktioniert. Die Wagen ratterten über die Schienen und jede Weiche begrüßte uns mit einem kleinen Schaukler. In den Schlaf gewogen muss es gegen 2.30 Uhr an der Tür geklopft haben. Moritz und Heik waren zumindest schon wach und versuchten, mich aus meinen Träumen zu reißen. Im Schlaf habe ich zum BGS-Beamten wohl noch gesagt:" Wer klopft so spät bei Sturm und Wind, es ist bestimmt nicht das himmlische Kind", bevor ich im Gelächter aufwachte und den BGS-Beamten sagen hört:" So, du himmlisches Kind, dann zeig mir mal deinen Reisepass." Erst kontrollierten die Deutschen Castor-Verteidiger und dann die Polnischen Grenzhüter. Jede Kontrolle hinterließ einen Stempel im Reisepass. Schnell kehrte ich der realen Welt wieder den Rücken und träumte, bis unser Abteil gegen 10 Uhr von Kindern auf dem Gang und hochfahrenden Betten in Nachbarabteilungen geweckt wurde.
Die Sonne schien und wir standen auf dem Hauptbahnhof in Warschau. Im Hintergrund Plattenbausiedlungen. Die Landschaft an unserer Zugstrecke in Polen lag noch im Winterschlaf. Kein grünes Gras, keine blühenden Blumen, alles schien einen Monat zurück zu liegen. Nur der Schnee fehlte in dieser leblos wirkenden grau-braunen Landschaft. Immer wieder raste unser Wagon an kleinen Dörfern vorbei, die oft aus nicht mehr als 10 Häusern bestanden. Statt Ziegeln hatten die Häuser Blech auf dem Dach. Meistens war die Farbe vom Dach längst abgeblättert. Viele Häuser waren nicht verputzt.
Nach dem Grenzübergang Polen/Russland hatten wir vier Stunden Aufenthalt in Brest. Auf dem Bahnsteig wurden wir freundlich von Alexander und seinem Kumpel empfangen, die schon mal das gröbste Gepäck, also z.B. die ganzen Gummihüte, unsere Nahrungsvorräte und die Wäsche, in ihr Auto karrten und mit nach Gommel nahmen. Zwei Straßenkinder in alten Klamotten standen neben uns und gaben uns mit Handzeichen unmissverständlich zu verstehen, dass sie Geld für Essen haben wollten. Michel gab ihnen Snickers und Twix. Unser restliches Gepäck haben wir im Bahnhof eingeschlossen, um uns die Stadt ansehen zu können. Schon wurden wir von einem Mann angesprochen. Er war vielleicht Mitte Dreißig und sprach mit Olga, unserer weißrussischen Begleitung. Angeblich sei er Baptist und wollte nur freundlich sein und uns in Brest begleiten. Einige unserer 11-köpfigen Gruppe glaubten gleich an Spitzel der Staatssicherheit. Der Typ wollte keine Gegenleistung und führte uns durch eine Allee, die direkt auf einen riesigen großen schwarzen Kommunistenstern zuführte. Der Stern war 3-D in einen Felsen gemeißelt und schmückte den Eingang einer alten Festung, die im 2. Weltkrieg von wichtiger strategischer Bedeutung gewesen sein muss. Die Deutsche Wehrmacht hatte die Festung einnehmen und zwei Wochen halten können, ehe sie wieder von russischer Seite zurück erobert werden konnte. Steinernde Statuen und im Urzustand befindliche zerstörte Gebäude erinnerten an die schlimme Zeit.
Auf dem gesamten Gelände waren Lautsprecher angebracht. Daraus kamen vertonte Kriegsszenen, wie Fliegerangriffe mit Alarmsirenen und melancholische Kriegschöre, die dem ganzen den Eindruck gaben, als hätten sich die Truppen erst gerade von dem Trümmerschlachtfeld zurückgezogen. Es war sehr eindrucksvoll.
Auffällig an Brest waren die vielen herumstreunernden Hunde, Polizisten und Soldaten, die einem wirklich überall begegneten. Polizei und Armee unterschied sich nur von der Farbe ihrer Uniform. Die einen Grün, die anderen Grau. Die Gebäude schienen baufällig und wären in Deutschland von Amtswegen bereits längst versiegelt worden. Lediglich Kirchen und die staatlichen Gebäude, wie der Bahnhof, strahlten im Glanz der Sonne unter dem roten Stern, Hammer und Sichel. Es waren 20°C, blauer Himmel.
In der Luft lag ein Geruch aus verbrannten Holz, Lackfarben und Lösungsmitteln, Abgasen von Autos und Industrie. Der Rachen war schnell ausgetrocknet und das Schlucken tat dem Hals weh.
Um 19.30 Uhr fuhren wir mit dem Zug weiter in Richtung Gommel. Auf dem Bahnsteig dieses Mal keine Kinder, sondern alte Frauen mit verschiedenen Flaschengetränken, in der Hoffnung, den Touristen etwas verkaufen zu können.
Gegen 6 Uhr kamen wir am 01.04. in Gommel an. Ein kleines Begrüßungskomitee am Bahnsteig, darunter Olgas Eltern und drei Jugendliche, von denen zwei in der Band "Excelent" spielten, die mit Boring Diary bereits in Hannover gespielt haben. Sie brachten uns mit dem Bus nach Wolotova, einem Stadtviertel in Gommel. Über 40.000 Menschen leben hier in einer einzigen riesigen Plattenbausiedlung. In Gommel wohnen ähnlich viele Menschen wie in Hannover. Gommel liegt in der verstrahlten 1. Zone. Bei Tschernobyl hat sich hier radioaktiver Regen niedergelassen. Die 1. Zone ist die schwächste Zone, aber keinesfalls zu unterschätzten. Die Geburten werden in Gommel in einer Skala von Null bis Zehn bewertet. Null bedeutet Kerngesund, bei Zehn handelt es sich um eine Totgeburt. Die Durchschnittsbewertung liegt bei Sechs!
Wegen der radioaktiven Verseuchung sollte man keine Lebensmittel kaufen, die in Gommel oder Umgebung hergestellt werden. Vor allem Waldfrüchte wie Beeren und Pilze sind sehr gefährlich, aber auch von Milch, Kartoffeln oder andere Sachen aus eigenem Anbau sollte mensch ablassen.
Unsere Wohnung liegt im 21. Block und ist sehr karg. Auf dem Betonboden liegt Lamynahtfußboden, ein Bett ist durchgebrochen, als sich Katja drauf gesetzt hat. Die inneren zweiten Fensterscheiben fehlen meist, das Treppenhaus ist bröckelig-dunkel, wirkt ein wenig unheimlich. Aber auch der Fahrstuhl ist übel. Es knarrt, quietscht und schleift unter und über uns. Wir stehen jedes Mal Ängste aus, weil wir zudem im 9. Stock wohnen, also ganz oben.
Am Nachmittag haben wir die Wochenplanung besprochen, darunter die drei Konzerte in Gommel und Minsk. Die Situation hier ist sehr hitzig. Lukaschenko, der Präsident der Weißrussen, hat große Probleme mit diesen Aktionen und unterstellt meist staatsfeindliche Gesinnung. Der erste Gig findet in einem Club namens "Adrenalin" unter dem Motto "Punk unlimited" statt. An zwei verschiedenen Tagen spielen dort 9 Bands. Der Gig in Gommels "Light Club" trägt das Motto "Music & Democracy: FREEDOM" und geht schon etwas deutlicher in Richtung des Regimes. Überhaupt haben die Kinder und Jugendlichen hier kaum Möglichkeiten etwas zu unternehmen. Die Spielplätze sind nur etwas für die Kleine. Jugendlichen bleibt nur das Treppenhaus in ihren anonymen Plattenbauten. Mir wurde erzählt, dass es für sie keinerlei Jugendzentren gibt. Kaum eine Chance zur Selbstverwirklichung. Sie leben oft bis Anfang 30 in den kleinen Zwei- bis Drei-Zimmerwohnungen ihrer Eltern, weil das Ausziehen in ein eigenes Leben ein zu großes finanzielles Risiko bedeutet. Immerhin gehen 90 % des Einkommens für Nahrung und Lebensmittel drauf. Der Verdienst liegt im Durchschnitt bei 30 $ im Monat. Pavel, der Tourorganisator erwartet ausverkaufte Konzerte. Die Konzerte seien eine der wenigen Möglichkeiten, mal aus sich rausgehen zu können.
Am späten Abend trafen wir uns mit "Excelent" in einem kleinen Raum, in dem "Boring Diary" mit der russischen Band proben konnten. Das Schlagzeug war wirklich schlecht und die Becken kaputt. Musik ist sehr Teuer, vor allem Instrumente und Verstärker. Es werden entweder gebrauchte Sachen gekauft oder Instrumente selbst gebaut. Improvisation ist hier alles und Musik eine der wenigen Ausdrucksmöglichkeiten. Gegen 22 Uhr waren wir wieder zu Hause in der Ogorenko-Straße angekommen. Michel und ich saßen schon längst bei den anderen und staunten über einen Jungen, der "L –" an eine Wand gesprüht hatte. "L" für Lukaschenko" und "Minus" für Schlecht. Er wurde erwischt und ging 5 Jahre ins Gefängnis. Irgendwann fiel mir auf, das Heik und Moritz seit über 20 Minuten fehlen. Sie standen aber nicht vor der Tür und auch nicht vor dem Haus. Ich fand heraus, dass sie im Fahrstuhl steckten! Der Schock war groß, doch Bewohner des Hauses hatten bereits den Fahrstuhl-Service angerufen. Eine halbe Stunde später waren die Jungs frei.
Am 03.04. ist der Tag des 1. Boring Diary Konzertes in Weißrussland gekommen. Den Vormittag haben wir in Gommel im Stadtpark verbracht. Eine Führerin hat uns viele Sachen geschichtlich erläutert, ich kann aber nicht sagen, dass ich diese Führung wirklich interessant fand. Es ging hier nur um die tolle Vergangenheit. Aus der Zukunft wurde uns eine Kinderhort gezeigt, an dem die Kinder kreativ malen und basteln können. Wie es den Kindern in der Stadt aber wirklich geht wurde dezent verschwiegen. Anschließend sind wir über eine Brücke gegangen, um uns am anderen Ende ans Wasser zu setzen. Auf dem Rückweg brauchte ich einen Adrenalin-Kick und habe Michel überredet, mit mir den Stützbogen der Brücke hochzugehen. In 50 Meter Höhe, 20 Meter über der Brücke, mussten wir umkehren, weil unsere verantwortliche Begleiterin in ihrem Angstschweiß sonst die Brücke geflutet hätte.
Um 16 Uhr ging es zum Soundcheck für Moritz, Michel, Critop und Heik ins Adrenalin. Es lief alles glatt und wir trafen uns Backstage wieder. Der Backstage war riesig und edel. Fast so groß wie die Konzerthalle, mit eigener Bar mit Bedienung. Die zwei Stempel, beim Eintritt gab es eigentlich nur einen, berechtigten zum Eintritt in den Backstagebereich. Das große Thema: Was ist, wenn uns die Russen mit Hitlergruss begrüßen? Vor der Halle befanden sich einige Skinheads und die Organisatoren konnten derartige Aktionen nicht ausschließen. In einer Bandbesprechung wurde beschlossen, auf alle Fälle eine klare Stellung gegen Faschismus zu beziehen, verbunden mit einer Aufforderung, derartigen Shit zu unterlassen. Sollte das nicht passieren würden Boring Diary den Auftritt sofort abbrechen. 200 Besucher kamen und zahlten jeweils 1500 Weißrussische Rubel. Das sind knapp 3 DM. Im Publikum: Skins, Punks und alternative Menschen vereint und friedlich. Glücklicherweise keine Armheber.
Nach Boring Diary kam die lokale Punkgröße "Acitelin". Purer 77er Punkrock mit Sex Pistols-Gesang. Bei Boring Diary waren die Russen sehr gespannt. Ich persönlich war gespannt, ob Heik heute Gott oder Schrott ist. Die ersten Töne des "Now I Know"-Intros erklangen, als Heiko abbrach. Seine Gitarre hatte sich verstimmt. Man sah seine Hände zittern, doch glücklicherweise ging er vollkommen cool an die Sache, beseitigte das Problem und spielte das bisher beste Konzert. Die Menge tobte und tanzte. So, wie es Boring Diary und ich in Deutschland noch nie erlebt haben. Ein Gefühl, dass die Musik wahr genommen wird und den Menschen etwas bedeutet und mit gibt.
Fans gaben mir ihre E-Mail Adresse, andere warfen Zettel zu Michel auf die Bühne ("Fuck after the concert"). Das Konzert endete abrupt, als drei Soldaten herein kamen und den Laden dicht machten. Der Auftritt von Boring Diary war glücklicherweise bereits vorbei.



Setlist 03.04.01:
Now I Know
Teach Me Best
Full Of Emptiness
Wenn Du Allein Bist
Your Star
Insanity
Fog Above The Dessert



"Morgenstund hat Blei im Arsch" hieß das Motto am Morgen des 04.04. Als wir dann so halbwegs auf dem Damm waren, sind schon die Ruskies dagewesen, denn "Seminar" stand auf dem Programm. Die Jugendlichen der oppositionellen "Demos" hat von der Stadt Gommel und deren Region erzählt. So gibt es eine Stadt, in der jeder vierte Einwohner Aids hat und/oder stark von Drogen abhängig ist. Diese Stadt steht unter Karantäne und darf nur von Menschen verlassen werden, die eine einwandfreie Gesundheit nachweisen können. Im Winter plant "Demos" eine große Anti-Aids-Kampagne. Hier in Gommel wurde uns etwas über die Jugendsituation erzählt. Lukaschenko und sein Regierungsapparat erlassen sehr viele Gesetze, um eine freie und vor allem öffentliche Meinung zu verhindern. Es gibt eine Jugendeinrichtung, die "BPSM", die die jetzige Situation verteidigt und den unabhängigen Jugendorganisationen massiv mit staatlicher Unterstützung entgegenwirkt. Dazu kommt noch die staatlich mit Finanzspritzen gepuschte orthodoxe Kirche. So wurde z.B. die Erweiterung von Gemeinden anderer religiöser Strömungen verboten. "BPSM" hat ca. 1500 Mitglieder in Gommel und wirbt Mitglieder durch freie Diskobesuche und Rabatte bei zahlreichen Kaufhäusern. Das sei jedoch eine Form der Bestechung zu Propagandazwecken, kritisiert "Demos". Die "BPSM" hilft den Jugendlichen in keiner Weise aus ihrer jetzigen Situation und wirkt einer Selbstverwirklichung entgegen und unterstütz somit eine Jugend im Treppenhaus.
Die zahlreichen oppositionellen Jugendorganisationen seien anzahlsmäßig jedoch stärker und sind bestrebt, ein Jugendnetzwerk aufzubauen. Sie haben viele Kontakte und können so auch ohne staatliche Unterstützung Konzerte und andere Aktionen sehr sehr günstig durchführen.
Das Ziel von solchen oppositionellen Organisationen, die sich oft sehr stark im Untergrund bewegen müssen, ist es, für eine politisch vielfältige Bildung zu sorgen und die Jugend zu ermutigen, vom aktiven und passiven Wahlrecht gebrauch zu machen. Die Wahlbeteiligung der letzten Wahlen sei so niedrig gewesen, dass Neuwahlen nötig waren. Überhaupt sei auch der rechtliche Hintergrund katastrophal, denn die Wenigsten sind sich ihrer Rechte bewusst. "Demos" würde gerne rechtliche Beratungsstellen für Immigranten und Einheimische einrichten.
Der zweite Teil des Seminars fand in der Wohnung von Alexander statt. Uns wurde eine Untergrundvideo vorgeführt und übersetzt, welches die Verhältnisse in Weißrussland klar und deutlich aufzeigt. Lukaschenko – Interviews und Zitate, in denen er sich mit Hitler gleichsetzt und ihn als Vorbild nimmt ("Hitlers Politik war gut"), Beweise für Manipulationen bei den Abstimmungen im Parlament, Demonstrationen, in denen Polizei und Armee gegen friedliche Demonstranten vorgehen. Bilder von Polizisten, mit Gummiknüppel bewaffnet, die 50-jährige und ältere Bürger niederstrecken. Bilder, die mensch nicht vergisst.
Am 05.03. unternahmen wir einen Ausflug in die 3. Zone. Eine hochradioaktiv verseuchte Gegend, in der sich 1986 radioaktive Isotope wetterbedingt niedergelassen haben. Erst 1991 gab es die Entscheidung der Regierung, das Gebiet zu räumen. Die Werte liegen hier bei 40 Cyril und mehr. Zum Vergleich: Als Normal gilt 0,1 Cyril. Jenseits der geteerten Wege, so wurden wir gewarnt, sollen wir uns nicht aufhalten. Erdboden und Pflanzen binden mehr Strahlung, so dass die Steigerung wie von Null auf Einhundert ist. Das Dorf glich einer Geisterstadt. Leere Häuser ohne Fenster, Ruinen. Jenseits des Weges ein scheuer Haushund. Ein Zeichen für Menschen, die in ihrer Heimat ausharren. Strahlung kann man nicht riechen, nicht sehen, noch irgendwie anders spüren. Durch den Anblick dieses Dorfes hat sie für uns aber ein Gesicht bekommen.
Freitag, der 06.03. startete mit einem Besuch auf dem Morgenmarkt. Ein riesiger Flohmarkt mit Hunderten von Ständen und Menschen, meist Frauen, die in ihrer Not und Armut Plastiktüten verkaufen wollten. Das ganze diente natürlich mehr als Tarnung. Eigentlich bieten diese Menschen Zigaretten an. Da der Verkauf jedoch nur in Kiosken, Geschäften oder Restaurants gestattet ist, müssen diese Leute achtsam sein, nicht erwischt zu werden. Auf dem Markt gibt es fast alles: Elektrogeräte, CDs und CD-Roms, Fleisch, Fisch, Obst und Gemüse. Aus der Sicht von uns Deutschen alles zu Dumpingpreisen.
Im Anschluss sind Martin und ich mit Olga-English zu ihrer Universität gegangen, an der sie unterrichtet. Dort hat sie uns die Räumlichkeiten gezeigt. Die Uni wirkte sehr heruntergekommen, die Räume, die wir sahen, waren sehr klein und boten Platz für ca. 20 Studenten. Im Computerraum standen alte Rechner, die hier in Deutschland nicht einmal an eine Grundschule gegeben würden. Die Farbauflösung lag bloß bei 256 Pixel und die Internet-Leistung war für einen Uni-Server ein Witz.
Samstag war wieder Konzert – Tag. Boring Diary beim "Freedom. Music & Democracy" – Festival im Light-Club. Mit dabei waren u.a. Rasta, eine in Gommel sehr bekannte HC-Metal-Band und Godstower, straighter Metal. Godstower sind die No. 1 Metal-Band in Weißrussland, also ein absoluter Publikumsmagnet.
Michel und ich hatten für das Konzert ein 3 x 1,5 Meter langes Banner auf dem Dach unserer Plattenbauunterkunft gemalt. "Stand up for civil rights" stand drauf. Oben auf Englisch, unten auf Russisch und in der Mitte ein Friedenssymbol. Nach dem Soundcheck gaben Boring Diary einem lokalen Sender erst einmal ein Fernsehinterview. Fragen wie "Treibt ihr mit euren dunklen depressiven Texten nicht die Menschen in den Selbstmord?" konnte man nicht ernst nehmen und so gab es z.B. von Heik auf Fragen wie "Was mögt ihr an Weißrussland" Antworten wie "Das öffentliche Nahverkehrssystem".
Es kamen über 350 Menschen und die Spannung war groß, ob der Staat etwas gegen das Konzert unternimmt. Drei Polizisten wurden entsannt, sie blieben aber friedlich. Die Menschen feierten während dessen bereits Boring Diary. Die Moshpit füllte sich und die Menschen gingen ab. Mehr noch als im "Adrenalin". Stage-Diving schienen die Menschen hier in Gommel nicht zu kennen, aber sie ließen sich nach meinem und Michels Bühnensprung begeistern. Nachdem ich nur von Leuten aus unserer Gruppe gefangen wurde, waren am Ende die Russen nicht nur gut im Fangen, sondern auch unter den Waghalsigen dabei.
Nach dem Konzert kam es zu merkwürdigen Szenen. Mädchen mit Autogrammbüchern baten um Autogramme, darunter auch ein Mädchen, die Michel Fotos vom Adrenalin – Konzert gab. Auf der Rückseite steht in Russisch: Ich liebe Dich.
Stars aus Deutschland, die in Deutschland noch pure Underdogs sind und noch an ihrer ersten CD basteln. Das Konzert an sich war eine Steigerung zum Konzert im Adrenalin. Heiko war souverän wie nie, Heiko spielte mit einem der Drumsticks verkehrt rum, weil der Stick durchgebrochen war. Es war der schönste Abschluss, den uns die Stadt Gommel bieten konnte.



Setlist 07.04.01:
Now I Know
Teach Me Best
Full Of Emptiness
Wenn Du Allein Bist
World Is Down
Insanity
Fog Above The Dessert



Gegen 11 Uhr Morgens sind wir am Bahnhof in Minsk angekommen. Direkt auf dem Bahnhofsvorplatz sticht uns MC Donnald´s ins Auge. Die Bauart ein einziger Amerikanisch-Westlicher Egoismus. Das Restaurant passt überhaupt nicht zu den alt-ehrwürdigen Gebäuden seitlich und im Hintergrund des Burger-Betriebes. Auch der Unterschied zwischen Minsk und Gommel ist groß. Die Luft scheint wesentlich klarer und "atembarer", die Gebäude des Zentrums sind optisch in einem wesentlich besseren Zustand, farbenfroher und nicht so bröckelig. Natürlich ändert sich das bei der Busfahrt in den Außenbezirk. Wir schlafen in einem Jugendzentrum. Mittag aßen wir in einem Restaurant, wo es nur typisch russische Speisen, wie selbstgemachte Ravioli gab. Es war sehr lecker und 21.000 Rubel für 3 Personen auch kein Pappenstil. Für selbstgemachte Speisen würde man in Deutschland aber dennoch weitaus mehr zahlen.
Um 17.30 Uhr kamen wir am A-Club an und es gab gleich einen Soundcheck. Die Deko im Club war wirklich geil und total außergewöhnlich. Überall hing Plastikfolie von der Decke, was dem ganzen Raum einen total futuristischen Touch einhauchte. Leider waren die Besucherzahlen katastrophal. Es mögen 30 Menschen gewesen sein. Ob es an der Plakatierung lag? Wir haben nur an den vier Laternen vor dem Club Plakate gesehen. Oder der Eintrittspreis, der mit 2500 Weißrussischen Rubeln verdammt hoch lag. Boring Diary als Headliner hatten z.B. keine Gagenforderung, da die Auslagen ja vom Robert-Bosch-Institut übernommen wurden. Dennoch lag der Preis um 500 Rubel höher als beim Konzert mit den weitaus bekannteren und bestimmt auch teureren Godstower.
Dennoch: wie auch in Gommel wurden wir überaus freundlich aufgenommen. Die Jugendlichen vor dem Club waren überaus interessiert und wir unterhielten uns mit Händen, Füßen und Englisch über Musik, den 2. Weltkrieg und andere Krach- und Sachgeschichten. Die Bandauswahl auf dem Konzert sollte, aus meiner Sicht, die beste Auswahl bisher sein. Besonders "Airport" und "Acitelin", die schon im Adrenalin mit uns spielten, haben mir sehr gefallen. Boring Diary hatten auch im A-Club keine großen Probleme mit dem Publikum. Zwar gingen nicht so viele Leute ab, aber es schien, ob sie einfach positiv-überrascht erstarrten als angekotzt stehen blieben. Lustig war hier die Polizei, die sich im Backstage "Scary Movie" ansah. Besser, als sich über Statements wie "I hate Hitler and I hate Lukaschenko" aufzuregen.



Setlist 08.04.01:
Now I Know
Teach Me Best
Full Of Emptiness
Wenn Du Allein Bist
World Is Down
Insanity
Fog Above The Dessert



Unsere Gruppe ging anschließend nach Hause. Swan und ich beschlossen, noch etwas auf eigene Faust zu unternehmen. Wir hatten Hunger und so trieb es uns zum goldenen "M". Es war aber leider schon geschlossen. Wir wollten aber noch was essen und so haben wir einen Typen nach Möglichkeiten gefragt. Er empfahl uns einen Chinesen. Die Wegbeschreibung war umständlich und ich blickte nur auf seinen Autoschlüssel:" Kannst du uns da nicht kurz hinbringen?" Er machte es. Vor dem Restaurant standen zwei Typen und gaben uns zu verstehen, dass hier bereits geschlossen sei, empfahlen uns aber an ein weiteres Restaurant. Dort hingelatscht wussten wir sofort, dass es sich um einen Edelschuppen handelt. Wegen den "Clothes" wurde uns so auch der Zutritt verweigert. Irgendwann kamen wir wieder am A-Club vorbei. Dort saßen noch Jugendliche und feierten. Einer aus der Gang brachte uns schließlich zu einem 24-Stunden Kiosk, wo wir uns eindecken konnten. Dem Typen gaben wir ein Bier aus und wollten gehen, als uns ein besoffener Typ im Nacken hing. Erst erzählt er von seinen Bierkenntnissen, um dann das Thema zu wechseln. "Ich bin Künstler und will euch meine Werke zeigen" – "Wir kommen aber nicht mit zu dir" – " Versteht mich nicht falsch, ich habe eine meiner Keramiken hier in der Tasche. Darf ich sie euch zeigen?". Wir wollten nicht unhöflich sein und willigten ein. Uns rutschte das Herz in die Hose, denn was sich unter dem Stofffetzen eingerollt befand sah ehr aus wie eine Pistole mit langem Lauf als irgendeine Keramikkunst. Wir waren sehr erleichtert und konnten später auch drüber lachen, dass er uns nur seine Keramik-Gießkanne zeigen wollte. Angeblich mit echtem Gold und Platin verziert. Und wie konnte es anders sein:" Wollt ihr sie kaufen". Nein, wollten wir nicht. Wir wollten nur weiter gehen und haben uns freundlich aber bestimmend von ihm verabschiedet.
Die letzten 4 Kilometer mussten wir zu Fuß gehen. Die Tür des Jugendzentrums war geschlossen. Wir waren sehr froh, als der Nachtwächter uns mit seiner Taschenlampe blendete, uns dann aber rein ließ.
Am nächsten Morgen aßen wir in einem edlen Restaurant namens "Bylbyanaja". Es war alles überaus traditionell eingerichtet. Auch das Essen bestand aus russischen Spezialitäten. Anschließend enterten wir einen CD-Shop. Hier gab es auf 100 m2 alles, was das Musikerherz begehrt. Eine CD kostete schlappe 6 DM und die Raubkopien waren dem Original sehr ähnlich. Zum Abschluss unserer Russland-Reise trafen wir uns mit Olga-Deutsch, Julia und zwei Jungs von Excelent in einem Restaurant, was selbst im Weststandard mehr als nur nobel war. Wo gibt es schon Krokodil- oder Vogelfleisch auf der Speisekarte. Oder Hoden vom Bullen ("Bulls Balls")? Letzteres hatte sich Michael, unser Dolmetscher, bestellt. "Schmeckt wie Leber", kommentierte er. Ob er die restlichen 6 der 8 Klöten nicht gegessen hatte, weil er satt war oder es vielleicht doch nicht so sehr nach Leber geschmeckt hat wird sein Geheimnis bleiben. Auf alle Fälle hatten wir sehr viel Spaß, dieser High Society den symbolischen Stinkefinger zu zeigen, indem wir uns wie Rockstars kleideten und aufführten. Unser Gesprächsstoff aus der Pommes-Bude, die Kleidung Alternativ.
Das Thema auf dem Rückweg: Hätten wir dort Essen sollen? Kann man es als Gast einer Opposition mit sich vereinbaren, in einer Gesellschaft bzw. Lokalität zu Essen, gegen die man mindestens ideologisch ankämpft, weil sie Nutznießer einer politischen und vor allem auch sozialen Schieflage in Weißrussland sind?
Die Antwort lautet: Nein. Eigentlich nicht, aber die Frage hätte vorher gestellt werden müssen.
Am 10.04. ging es nach Hause. Um 6.40 Uhr war Abfahrt in Minsk. Ich habe 11.000 Weißrussische Rubel in vielen einzelnen Scheinen aus dem Zugfenster bei der Abfahrt auf dem Hauptbahnhof geworfen, weil ich ausgerechnet heute keinem Obdachlosen gefunden habe. Vielleicht hat es ja jemand gefunden, der es bitter nötig hat.

11 Bewertungen, 1 Kommentar

  • NB112

    23.02.2002, 17:28 Uhr von NB112
    Bewertung: sehr hilfreich

    Sag mal, willst du ein Buch schreibe??? Gruß Norbert