Pro:
eine der besten CDs der 90er
Kontra:
danach löste sich die Band auf
Empfehlung:
Ja
1997 war es, in einem englischen Pub in Birmingham, als die Streicher von "Bitter Sweet Symphony" einsetzten. Herbst. Ich hörte zum ersten Mal DEN Song überhaupt. Der eigentlich monotone Rhythmus, dazu der melancholische Text und die darin aufgehende Stimme machten mich im wahrsten Sinne des Wortes sprachlos. Mein erster Gedanke war: Wer ist das? Diese Worte richtete ich dann auch in die Runde, wir waren ca. 5 deutsche und 3 Belgier. Es war zu Beginn meiner 6 Monate, die ich in Birmingham gewohnt habe, The Verve im allgemeinen stehen und dieser Song im speziellen stehen noch heute für diese Zeit. Zurück zu meiner Frage, die deutschen wussten keine Antwort, doch einer der Belgier, er war selbst sehr musikbegeistert, kannte den Song nach kurzem Überlegen. Nun muss ich dazu sagen, der Song war im Sommer 1997 Nr. 2 in den britischen Charts, unbewusst mag ich ihn also auch durchaus schon vorher gehört haben, es lag vielleicht auch daran, dass die Umgebung einfach auch stimmte, dass dieser Song schließlich doch auch bei mir so einschlagen konnte.
Am nächsten Tag führte mich dann natürlich der erste Weg sofort zu Virgin, einer der beiden großen Musikketten, die quer über das ganze Land verstreut Filialen haben. Und was sah ich hocherfreut? Es gab eine komplette CD mit 13 Songs, und noch besser: man konnte auch reinhören. Ich höre oft vorm Kauf in CDs rein, meist aber spiele ich die Songs dann nur kurz an, um einen schnellen Eindruck zu gewinnen. Nicht so bei dieser CD. Wir waren damals zu zweit in den Laden reingegangen, ich schätze, ich habe die Geduld meiner Begleitung ziemlich strapaziert, denn ich habe den ersten Song ca. 3 mal angehört, und dann auch noch bis zum 7. Song alles komplett und konnte mich kaum trennen – musste es aber dann doch mal langsam. Ans mitnehmen war aber irgendwie nicht zu denken. Deutsche Preise war ich ja noch grade so bereit zu zahlen, aber die sollte 14 Pfund, also umgerechnet über 42 DM, kosten. Das war mir dann doch zuviel. Auf dem Weg zur Uni, die direkt am Stadtzentrum gelegen war, wusste ich noch einen recht kleinen Record Shop, den ich natürlich auch noch schnell aufsuchte, und was erblickten meine hocherfreuten Augen? "The Verve – Urban Hymns" für "nur" 10,99 Pfund. Na ja, da gab es kein Überlegen mehr, gekauft.
Bevor ich nun auf das Album näher eingehe, noch kurz etwas zur trotz nur 3 Alben sehr abwechslungsreichen Geschichte, die leider auch mittlerweile wirklich Geschichte ist. 1989 in Wigan, ihrem Heimatort in Nordengland (deshalb wird die Band auch zuweilen schon mal Wigan’s Finest genannt), gegründet, erschien das erste Album, "A Storm in Heaven", erst 4 Jahre später, ohne einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen, auch der Verkaufszahlen lassen wohl eher auf einen typischen Insidertipp schließen. Dennoch sind einige recht interessante, aber eher psychedelische Songs auf diesem Album zu finden, ein reinhören lohnt sich auf jeden Fall. 1995 kam dann der zweite Streich "A Northern Soul", der dann schon einen richtigen Hit zu bieten hatte mit "History", der vom Arrangement her mit seinen Streicher schon an "Bitter Sweet Symphony" erinnert, wäre also quasi ein Vorläufer. Dann war Ende, ja, die Band löste sich einfach auf. Fast wäre der Nachwelt der famose dritte Geniestreich so vorenthalten worden, doch der Sänger und wohl auch Chef der Band, Richard Ashcroft, hatte ein Einsehen: Wie aus dem Nichts kamen sie 1997 wieder, besser denn je. "Urban Hymns" brach in Großbritannien alle Rekorde, belegte monatelang die Topposition der Albencharts und verkaufte sich allein dort mehrere Millionen Mal – und gewann dann auch zu Recht noch den Britaward für das beste Album 1997, neben noch einigen anderen Auszeichnungen. Leider war dann aber nach diesem Album schon wieder Schluß, diesmal wohl endgültig. Richard Ashcroft veröffentlichte 2000 sein erstes Soloalbum ("Alone With Everybody"), das mich aber nicht so recht überzeugen konnte.
Das Album im Einzelnen:
01 - Bitter Sweet Symphony (5:58)
Der Höhepunkt direkt am Anfang, versetzt einen auch gleich in eine sehr melancholische Stimmung. Einer der schönsten Songs, der je produziert wurde. Anleihen von den Rolling Stones sind nicht zu verleugnen, denn die Melodie stammt von ihnen. Da ich bereits eingangs auf diesen Song recht ausführlich eingegangen bin, an dieser Stelle einfach nur ein Textausschnitt:
…
"Cause it's a bitter sweet symphony that's life...
Try to make ends meet, you're a slave to the money then you die.
…
Well I never pray
But tonight I'm on my knees yeah
I need to hear some sounds that recognize the pain in me, yeah"
…
Kurz und gut, wunderschön stimmige Ballade für die traurigen Stunden, die auch noch passend zum Titel wie eine Symphony klingt.
02 - Sonnet (4:21)
Die vierte Singleauskoppelung, so mich meine Erinnerung nicht trügt. Im Gegensatz zu dem Opener, der doch ein wenig untypisch für dieses Album ist, gibt dieser dann die Richtung vor und fügt sich sehr harmonisch ein in das Gesamtbild, das vor allem vom Gitarrenspiel Nick McCabes geprägt ist. Rhythmuswechsel gibt es nur wenige, vor allem beim Refrain wird es etwas flotter, ansonsten ist es ein doch eher ruhiger Song. Gefällt mir sehr gut, verbreitet eine recht melancholische Stimmung – wie eigentlich alle Songs auf diesem Album. Wer zu Depressionen neigt, ist vielleicht nicht ganz so gut bedient – oder vielleicht grade doch?
03 - The Rolling People (7:02)
Dieser Song fängt schon etwas rockiger an, Drums stehen hier mehr im Mittelpunkt, dazu etwas verfremdet klingende Vocals. Vielleicht nicht der beste Song, aber durchaus auch gelungen. Da er eher einer der längeren Songs ist, gibt es auch ruhige Passagen, die dann wieder so typisch sind, dass er dann doch perfekt passt.
04 - The Drugs Don’t Work (5:05)
Ein weiteres Glanzlicht, und die mit Abstand bitterste Ballade auf dem Album. Vor allem der Refrain lässt einem Schauer den Rücken runterlaufen:
"Now the drugs don't work
They just make you worse
But I know I'll see your face again"
Bezaubernd schöne Melodie, der Gesang passt hier besser als auf irgendeinem anderen Stück. Und der Text wirkt so authentisch, man leidet schon fast mit bei dieser traurigen Liebesgeschichte:
"'Cause baby, ooh, if heaven calls, I'm coming, too
Just like you said, you leave my life, I'm better off dead"
War auch ein Nummer 1- Hit in England und brachte wohl auch in Deutschland den Durchbruch (so genau weiß ich das aber nicht, da ich zu der Zeit das, was sich hierzulande abspielte, nicht beobachtete). Soll wohl aussagen, dass eine zerbrochene Liebe auch nicht druch Drogen ersetzt werden kann. Erinnert ein wenig an "One" von U2.
05 - Catching The Butterfly (6:27)
Das ist ein recht mystisch klingender Song. Wieder ist auch hier die Stimme leicht verfremdet. Irgendwie auch psychedelische Einflüsse hörbar. Insgesamt auch wieder sehr ruhig, Tempowechsel gibt es kaum, gut geeignet zum entspannen.
06 - Neon Wilderness (2:38)
Ein recht kurzes Stück, dass ich auch nicht so herausragend finde, wirkt doch sehr eintönig und ist wohl eher als Übergang zum nächsten Song zu sehen. Sehr ruhig und wieder leicht verfremdeter Gesang mit dafür recht hellen Background-Vocals.
07 - Space And Time (5:37)
Wieder ein sehr schöner Song, sehr ruhig und sehr harmonisch. Die Stimme wirkt hier eher sanft. Beim Refrain wird sie allerdings dann auch etwas energischer. Passt eigentlich perfekt an diese Stelle, denn es leitet einige Songs ein, die eher im gemäßigten Tempo eingespielt wurden. Das auch dieser Song eine gewisse Melancholie ausstrahlt, wen wundert es zu diesem Zeitpunkt noch?
08 - Weeping Willow (4:49)
Klingt wie die logische Fortsetzung von Track No. 7. Der Spannungsbogen wird also gehalten, findet aber noch weitere Höhepunkte mit den beiden folgenden Songs.
09 - Lucky Man (4:54)
Klasse Song, war auch die dritte Singleauskoppelung und erneut ein Top 10 Hit in England. Ganz geprägt von einer Akustikgitarre und wie immer der prägenden Stimme von Richard Ashcroft. Diesmal allerdings eher von "Happiness" geprägt. Der Refrain hat regelrecht Ohrwurmcharakter:
…
"But how many Corners do I have to turn?
How many times do I have to learn
All the Love I have is in my Mind?
Well I’m A Lucky Man"
…
Kann man eigentlich nicht genug von bekommen, daher auch volle Punktzahl.
10 - One Day (5:03)
1000 Mal gespielt, also auf zum 1001. Mal. Vielleicht ungewöhnlich für diese CD; auf der viele "The Drugs Don’t Work" oder "Bitter Sweet Symphony" zu ihrem Lieblingssong auserkoren haben. Für mich ist das hier eigentlich der Song, der über allen anderen steht. Eine gescheiterte Liebesbeziehung wird versucht, musikalisch zu verarbeiten, die gesangliche Umsetzung des Textes ist einfach zauberhaft:
…
"You've been swimming in the lonely sea
With no company
…
Oh, don't you want to find?
Can't you hear this beauty in life?
…
One day maybe I will dance again
One day maybe I will love again
…
One day maybe you will love again
You've gotta tie yourself to the mast my friend
And the storm will end"
…
Als ich diesen Song das erste Mal hörte, wusste ich irgendwie sofort: das ist es, na ja, und kurz und gut, ich habe die Repeat-Taste gedrückt und schätzungsweise den halben Tag nur noch in voller Lautstärke genossen – laut kommt das noch besser. Melodisch, tieftraurig aber irgendwie auch wieder voller Hoffnung, dass es irgendwie doch mal irgendwann eine neue Liebe kommt oder man zumindest wieder wahr nimmt, dass das Leben auch so schönes für jeden bereit hält, wenn man dazu bereit ist.
11 - This Time (3:51)
Fällt doch leider deutlich ab im Vergleich mit dem Rest des Albums, zwar sehr langsam, aber doch keine Ballade. Plätschert fast schon sinnlos dahin. Immerhin, man kann es aushalten, ohne gegen die Wand zu laufen, aber mehr als Durchschnitt ist das nicht, eher ein Lückenfüller.
12 - Velvet Morning (4:57)
Die Befürchtung allerdings, dass die restlichen Songs ab Track No. 11 nur dazu dienen, die CD vollzubekommen, sie bewahrheitet sich dankenswerterweise nicht. Dieses Stück fängt sehr langsam an, nur beim Refrain erhebt sich die Stimme etwas, um allerdings sofort wieder in ruhigere Gefilde abzutauchen. Leicht verfremdete Vocals, langsame Gitarre. Gefällt mir sehr gut, obwohl es sicherlich keine markanten Merkmale hat wie eingänigen Refrain oder überragende Melodie.
13 - Come On (ca. 6:30)
Das zweitlängste Stück auf dieser CD ist den reinen Zahlen nach das längste. So sah früher ein Kopierschutz aus: einfach den letzten Song so verlängern, dass die CD eine Spielzeit von 76 Minuten und mehr hat, daran scheiterten 1997 noch viele Brenner. Heutzutage natürlich absolut sinnlos und zum Glück findet man solche kurios langen Songs nicht mehr auf neuen CDs. Mein CD-Player jedenfalls sagt mir, dass der Song länger als 15 Minuten ist, inkl. Leerminuten. Der Song selbst ist zwar das Finale einer berauschenden CD, aber für mich eigentlich nicht der würdige Abschluß. Sehr rockig, nicht schlecht, aber passt so gar nicht zum Rest des Albums und wirkt auch leicht deplaziert deshalb.
Letztlich bleibt der Eindruck, es hier mit einem Meilenstein der 90er Jahre zu tun zu haben. Sicherlich nicht jedermanns Geschmack, ein Partyalbum ist es ganz bestimmt nicht, eher geeignet für ruhige und einsame Stunden, in denen man seinen Weltschmerz verarbeiten will oder sich einfach nur diesem hingeben möchte. Für alle, die Angst davor haben, depressiv werden zu können: Finger weg.
Die Höchstwertung für ein phantastisches Album, dass den Zeitgeist getroffen hat. Ähnlich eingeschlagen haben in diesen Tagen damals nur Radiohead und Travis. Diese seien denn auch genannt als – im weitesten Sinne unter Vorbehalt – in einem ähnlichen Genre wildernde Bands, manche sagen auch Britpop, ich nenne es einfach: intelligente Popmusik mit Tiefgang, die zum Nachdenken anregt. Leider gibt es im Booklet keine Texte zu den einzelnen Songs. Diese kann man aber problemlos im Internet finden.
Band:
Richard Ashcroft (Gesang)
Nick McCabe (Gitarre)
Simon Jones (Bass)
Peter Salisbury (Drums)
Lyrics: http://www.odc.net/~ssharma/verve/lyrics/
HP der Band : http://www.theverve.co.uk weiterlesen schließen
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