Atemschaukel (gebundene Ausgabe) / Herta Müller Testbericht

Atemschaukel-gebundene-ausgabe
ab 12,63
Auf yopi.de gelistet seit 11/2009
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Summe aller Bewertungen
  • Handlung:  sehr spannend
  • Niveau:  sehr anspruchsvoll
  • Unterhaltungswert:  durchschnittlich
  • Spannung:  durchschnittlich
  • Humor:  wenig humorvoll
  • Stil:  sehr ausschmückend

Erfahrungsbericht von Christin78

Die Macht der Sprache...

5
  • Niveau:  anspruchsvoll
  • Unterhaltungswert:  sehr gering
  • Spannung:  sehr gering
  • Humor:  kein Humor
  • Stil:  durchschnittlich
  • Zielgruppe:  Männer

Pro:

Sprache, Nachhaltigkeit des Textes

Kontra:

Ist es von Nachteil, wenn ein Buch die Psyche des Lesers belastet?

Empfehlung:

Ja

Ich muss zugeben das ich mich mit Herta Müller bevor sie im letzten Jahr den Literaturnobelpreis bekam, nicht beschäftigt hatte. Danach war meine Motivation ein Buch von ihr zu lesen zwar vorhanden, aber irgendetwas sperrte sich in mir, so dass ihr Buch „Atemschaukel“ einige Monate ungelesen in meinem Regal stand, bis ich mich ihm intensiver widmete und heute möchte ich euch über dieses Buch und meinen durch das Lesen hervorgerufenen Empfindungen erzählen.


'''Die Autorin'''

Herta Müller wurde 1953 in Nitzkydorf/Rumänien geboren und lebt seit 1987 als Schriftstellerin in Berlin. Ihr Werk wurde mit zahlreichen deutschen und internationalen Preisen ausgezeichnet.


'''Eine kurze Inhaltszusammenfassung'''

Leopold Auberg ist 17 Jahre alt als er von einer Patrouille um 3 Uhr in der Nacht zum 15. Januar 1945 abgeholt und in ein sowjetisches Arbeitslager deportiert wurde. Er war ein in Rumänien lebender Deutscher. Im Januar 1945 hatte der sowjetische General Vinogradov im Namen Stalins von der rumänischen Regierung alle in Rumänien lebenden Deutschen für den „Wiederaufbau“ der im Krieg zerstörten Sowjetunion gefordert. So wurden alle Männer und Frauen zwischen 17 und 45 deportiert.
Die Figur Leopold Auberg war einer von ihnen und das Buch erzählt über seine Zeit im Lager. Seine Erlebnisse, seine Empfindungen, über seine Mitgefangenen.

Herta Müllers Mutter hat 5 Jahre in einem solchen Lager verbracht und Herta Müller ist mit Gesprächen, die heimlich geführt wurden, in denen nur Bruchstücke des Erlebten in Freiheit entlassen wurden, aufgewachsen.
2001 begann sie Gespräche mit ehemals Deportieren aus ihrem Heimatdorf aufzuzeichnen. Darunter auch Gespräche mit Oskar Pastior, ihm erzählte sie auch, dass sie über dieses Thema würde schreiben wollen. Sie trafen sich regelmäßig, sie schrieb auf was er erzählte und bald kam der Wunsch auf, dieses Buch nicht alleine zu schreiben, sondern gemeinsam mit Oskar Pastior. Im Jahre 2006 starb Oskar Pastior und erst ein Jahr später entschloss sich Herta Müller das Buch alleine zu schreiben. Doch ohne die Gespräche mit Oskar Pastior wäre der Roman, so wie er letztendlich vor uns liegt, wohl nicht entstanden.


'''Meine Empfindungen'''

Bei dieser Art von Lektüre stelle ich mir immer wieder die Frage, wie viel davon man seiner eigenen Psyche zumuten kann? Wie das Gelesene verarbeiten, es an sich heran kommen lassen, oder sich davon distanzieren? Wie sich dem Schrecken, den traumatischen Erlebnissen anderer Menschen gegenüber verhalten und mutet man sich selber in manchen Fällen vielleicht mehr zu als man verarbeiten kann? Und was passiert wenn man liest ohne zu verarbeiten? Das waren auch die Gründe warum ich dieses Buch lange im Regal stehen ließ.

Es gibt Erlebnisse von Menschen die kann man sich nicht vorstellen, man kann nicht nachvollziehen wie sie sich gefühlt haben, auch wenn man denkt man könne es. Es gibt Erlebnisse mit denen stehen die Betroffenen ganz alleine und oft fällt es schwer Worte für das zu finden, was man in Worten gar nicht ausdrücken möchte. Sobald Erlebnisse Worte annehmen, werden sie real und mit realen Erlebnissen leben müssen ist sehr schwer.
Herta Müller findet Worte für die Schreckenserlebnisse des Leopold Aubergs und mit ihrer Art die Erlebnisse darzustellen, ermöglicht sie dem Leser, eine Distanz aufzubauen. Ich habe ihre Beschreibungen nüchtern empfunden und oft habe ich Sätze mehrmals lesen müssen um ihre Bedeutung auch wirklich zu verstehen und ob ich sie letztendlich verstanden habe, würde sich wahrscheinlich nur in Gesprächen mit anderen Lesern herausstellen. Ich las einen Satz, dachte die Bedeutung sein klar und am Ende des Satzes, wusste ich, das er anders zu verstehen ist. Es ist kein Buch welches man mal eben nebenbei herunterlesen kann, es ist kein Buch mit dem man sich berieseln lassen sollte, eigentlich sollte das bei diesem Thema auch jedem klar sein und wahrscheinlich sollte ich es an dieser Stelle nicht extra erwähnen. Gleich zum Anfang des Buches auf Seite 8 ist mir der erste dieser Sätze aufgefallen: „Ich wollte an einen Ort, der mich nicht kennt“. Ich glaube schnell kann man daraus den Satz „Ich wollte an einen Ort, den ich nicht kenne.“ machen, gerade wenn man schnell und dadurch manchmal oberflächlich liest.
Es ist die besondere Ausdrucksform die dieses Buch sehr lesenswert macht, eine Freude sich mit dem Text zu beschäftigen, wenn das Thema nicht so schwer und belastend wäre.
Die Geschehnisse werden detailliert dargestellt, aber nicht ausschmückend beschrieben. Ich hatte beim Lesen nicht das Gefühl mitten im Geschehen zu sein, was ich als positiv empfunden habe und mit verantwortlich dafür ist meiner Meinung nach die Sprache. Allerdings kann das auch daran liegen, dass sich meine Psyche geweigert hat, sich zu intensiv mit der Lektüre zu beschäftigen. Ich kam mir vor als wäre eine Mauer um mich herum errichtet worden, die mir ein Verstehen des Textes ermöglichte, die mich aber nicht intensiv mitfühlen ließ.

Ein immer gegenwärtiges Thema in diesem Buch ist der Hunger und ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand, der noch nie wirklich hungern musste, nachvollziehen kann, wie sich Hunger anfühlt. Ich las mit Erschrecken und stellte mir immer wieder die Frage, wie viel ein Mensch aushalten kann. Während ich das Buch las hatte ich beim Essen ein schlechtes Gewissen, ich kam mir vor, als würde ich den Charakteren im Buch etwas wegessen. Es sind für mich fast schon abstrakte Beschreibungen, die leider reale Erlebnisse darstellen.

Nicht nachdenken über das was mit einem geschieht, dabei ist Denken für das Überleben erforderlich. Es wird eine Distanz zu sich selber entwickelt, man ist sich fremd, reagiert anders als man selbst und irgendwann stellt sich die Frage, wer man ist. Diese Umstände werden in dem Buch „Atemschaukel“ immer wieder angesprochen und das, wie ich empfand, sehr nachhaltig. Die Aussage: „Wir waren alle anders, als wir sind.“, fand ich sehr passend.

Schwere körperliche Arbeit, eisige Kälte, Hitze, nicht wärmende Kleidung, Krankheiten und Mangelernährung. Wie hält ein Mensch das aus. Manche überleben, andere sterben. Nur haben diejenigen, welche nach Hause kamen, wirklich überlebt? Fünf Jahre in einem solchem Lager und dann auf einmal in die „alte“ Welt zurück. Die Daheimgebliebenen haben ihr Leben weiter gelebt und oft wird erwartet, das die Heimkehrenden dort weiter machen wo sich aufgehört haben. Das ist unmöglich. Nach Außen mag es funktionieren, aber wie funktioniert es nach Innen? So fand ich den letzten Teil dieses Romans besonders interessant, die Zeit nach dem Lager, die Zeit in der alten neuen Heimat.

Auf Seite 80 heißt es: „Manchmal kriegen die Dinge eine Zartheit, eine monströse, die man von ihnen nicht erwartet.“
Gegenstände die früher kaum eine Bedeutung hatten, Wörter auf die nicht viel gegeben wurde, werden im Lager auf einmal lebensnotwendig. So wird zum Beispiel ein weißes Taschentuch zum Freund mit dem gesprochen wird, der stumm zuhört. Solche Szenen sind es, die besonders berühren können, schmerzlich berühren. Kann man eigentlich durch solch eine Lektüre auch traumatisiert werden? Ich hatte anfangs dazu ja schon etwas geschrieben.

Die Macht der Wörter. Leos Großmutter sagt zum Abschied ihres Enkels: „Ich weiß du kommst wieder.“ An diese Aussage klammert sich Leo und natürlich stellt sich die Frage, ob sie mit für sein Überleben verantwortlich war. Natürlich nur als kleiner Bestandteil, aber seiner Psyche wurde gesagt, dass er wieder kommt, sie war auf Überleben eingestellt. Was wäre wohl gewesen, wenn die Großmutter gesagt hätte, das sie wüsste, dass er sterben wird, nicht wieder kommen würde? Sicher reine Spekulation sich mit dieser Frage zu beschäftigen, aber beim Lesen schlich sie sich immer wieder in meine Gedanken.

Zur Sprache hatte ich schon einige Wörter geschrieben, möchte an dieser Stelle aber noch einmal auf sie eingehen. Es ist eine andere Sprache, ich weiß nicht genau wie ich sie beschreiben soll. Poetisch? Ja, nüchtern, distanziert poetisch, manchmal an ein langes Gedicht erinnernd. Eine nicht ausschmückende Sprache, die dennoch sehr detailliert berichtet. Den besonderen Ausdruck, das besondere Wort suchend und findend. Ich wünschte mir mehr in einer solchen Sprache geschrieben Bücher, nur Bücher mit nicht ganz so schweren Themen. Aber vielleicht führte das Thema zu dieser Sprache, denn oft findet man die besondere Sprache auch nur bei besonderen und oft besonders schweren Themen.
In jedem Satz schwingt die Ungerechtigkeit der Situation mit, das nicht Fassbare. Herta Müller hat es mit Worten eingefangen. Worte die auch den Leser einfangen, ihn begleiten, nicht loslassen, man kann ihnen schutzlos ausgeliefert sein, wenn man sich keine Verteidigungsstrategie ausdenkt und die ist bei diesem Buch mit seinem Thema, den Charakteren notwendig.


'''Sonstiges'''

Das Buch ist im Hanser Verlag erschienen, es hat 296 Seiten, kostet 19,95 Euro und hat folgende ISBN Nr.: 978-3-446-23391-1.


'''Mein Fazit'''

Ich kann dieses Buch jedem empfehlen der das mentale Rüstzeug hat sich mit diesem schweren Thema auseinander zusetzen. Der Roman bewegt, er greift tief, nimmt gefangen. Ich kann jeden verstehen der dieses Buch auf Grund der Schwere nicht lesen möchte. Im Nachhinein kann ich von mir sagen, dass ich ihn lieber nicht gelesen hätte, obwohl ich die Lektüre als bereichernd empfunden habe. Das hat aber nichts mit der Qualität dieses Werkes zu tun, ganz im Gegenteil. Die Sprache, die Darstellungen, die Nachhaltigkeit und Intensität sind überzeugend.

49 Bewertungen, 11 Kommentare

  • MasterSirTobi

    18.10.2010, 20:36 Uhr von MasterSirTobi
    Bewertung: sehr hilfreich

    Ein sehr hilfreicher Bericht! LG MST

  • Venenum84

    13.10.2010, 18:46 Uhr von Venenum84
    Bewertung: sehr hilfreich

    Vielen dank für deine Lesungen! Liest du bei mir so lese ich auch bei dir! lg jenny

  • tina08

    11.10.2010, 13:17 Uhr von tina08
    Bewertung: sehr hilfreich

    Viele Grüße .... Tina

  • morla

    10.10.2010, 20:21 Uhr von morla
    Bewertung: sehr hilfreich

    lg. ^^^^^^^^^^^^petra

  • XXLALF

    10.10.2010, 18:14 Uhr von XXLALF
    Bewertung: sehr hilfreich

    und ganz liebe sonntagsgrüße

  • Lanch999

    10.10.2010, 17:00 Uhr von Lanch999
    Bewertung: sehr hilfreich

    Ein guter Bericht! LG von Lanch999 Meine Berichte freuen sich auf deinen Besuch! :D

  • anonym

    10.10.2010, 13:58 Uhr von anonym
    Bewertung: sehr hilfreich

    Schöne Grüsse, Talulah

  • g0ldfish

    10.10.2010, 13:37 Uhr von g0ldfish
    Bewertung: sehr hilfreich

    Nichts ist so schockierend wie das alltägliche Grauen! Vielen Dank für Deinen interessanten Bericht. LG

  • babygiftzwerg

    10.10.2010, 12:20 Uhr von babygiftzwerg
    Bewertung: sehr hilfreich

    Ich wünsche dir einen schönen Sonntag. LG Ulrike

  • katjafranke

    10.10.2010, 12:18 Uhr von katjafranke
    Bewertung: sehr hilfreich

    Schönen Sonntag LG von der Katja

  • austin77

    10.10.2010, 12:17 Uhr von austin77
    Bewertung: sehr hilfreich

    du liest bei mir und ich bei dir, so macht yopi Spaß. lg