Atemschaukel (gebundene Ausgabe) / Herta Müller Testbericht

Atemschaukel-gebundene-ausgabe
ab 12,63
Auf yopi.de gelistet seit 11/2009
5 Sterne
(3)
4 Sterne
(0)
3 Sterne
(0)
2 Sterne
(0)
1 Stern
(0)
0 Sterne
(0)
Summe aller Bewertungen
  • Handlung:  sehr spannend
  • Niveau:  sehr anspruchsvoll
  • Unterhaltungswert:  durchschnittlich
  • Spannung:  durchschnittlich
  • Humor:  wenig humorvoll
  • Stil:  sehr ausschmückend

Erfahrungsbericht von margy

atemschaukel

5
  • Niveau:  sehr anspruchsvoll
  • Unterhaltungswert:  sehr gering
  • Spannung:  sehr gering
  • Humor:  kein Humor
  • Stil:  sehr ausschmückend
  • Zielgruppe:  Männer

Pro:

siehe bericht

Kontra:

siehe bericht

Empfehlung:

Ja

Zum Buch:

Die gebundene Ausgabe enthält 304 Seiten, erschien im Hanser Verlag in der 24. Auflage am 17. August 2009 in der deutschen Sprache. Unter der ISBN 3446233911 ist das Buch für 19,90 € erhältlich.

Der Buchumschlag:

Auf dem weißen Buchumschlag sehe ich in einem grauen Feld den Kopf eines Mannes mit einer Zigarette in seinem Mund.

Autorin:

Herta Müller (* 17. August 1953 in Nitzkydorf, Rumänien) ist eine deutsche, aus dem Banat stammende Schriftstellerin. Im Jahr 2009 erhielt sie den Nobelpreis für Literatur für ihr sprachgewaltiges Gesamtwerk über die rumänische Diktatur.

Inhalt:

Ein 17jähriger junger Mann wird während des Zweiten Weltkrieges in Rumänien in ein russisches Arbeitslager gebracht.

Textausschnitt:

Interlope Gesellschaft (S. 43)

Die Trudi Pelikan und ich, Leopold Auberg, waren aus Hermannstadt. Bevor wir in den Viehwaggon klettern mussten, kannten wir uns nicht. Artur Prikulitsch und Beatrice Zakel, also Pur und Bea, kannten sich schon als Kinder. Sie kamen aus dem Gebirgsdorf Lugi aus dem Dreiländereck der Karpato-Ukraine. Aus derselben Gegend, aus Rakhiv, kam auch der Rasierer Oswald Enyeter. Auch der Akkordeonspieler Konrad Fonn kam aus dem Dreiländereck, aus dem Städtchen Sucholol. Mein Lastautokompagnon Karli Halmen kam aus Kleinbetschkerek, und Albert Gion, mit dem ich später im Schlackekeller war, kam aus Arad.

Schreibstil:

beeindruckend, Ich-Erzähler Leo Auberg, großartig, erschütternd, Gänsehaut erregend, atemberaubend, spannend

Meinung:

Die Geschichte des Romanes beginnt in Rumänien 1944. Der herrschende Diktator Jon Antonescu wird von den Russen gezwungen, alle Deutschen, die in Rumänien leben, zwischen 17 und 45 Jahren in russische Arbeitslager bringen zu lassen. Dort sollten sie Zwangsarbeit verrichten. Die Ukraine war vom Krieg völlig zerstört. Für den Wiederaufbau mussten Menschen her. Leo Auberg, ein 17jähriger Junge steht stellvertretend als Erzähler seiner Erlebnisse für alle anderen Beteiligten dieser Zeit.

Er wurde verhaftet, in einen Viehwaggon verfrachtet und darin ging es ab in das russische Arbeitslager. Fünf lange Jahre bangte der junge Mann in diesem Arbeitslager um sein Leben. Seine Großmutter machte ihm Mut, als er von zu Hause gewaltsam weggebracht wurde. Das hielt ihn am Leben, gab ihm Kraft, Mut und Ausdauer.

Leo erhebt seine Stimme, spricht hier die Worte in dem Buch aus seiner Sicht der Dinge und Erlebnisse. Es ist ein Hilfeschrei aus jener Zeit und jenem Land, das vor Grausamkeiten keinen Halt machte. Er steht stellvertretend für alle Menschen dieses Arbeitslagers, die mit ihm dort schuften mussten unter Aufsehern. Die einen überlebten, andere wiederum starben.

Das Schicksal des einen ist auch das Schicksal aller anderen.

Sehr nüchtern und genau das ist es, was das Buch ausmacht, ist das Leben der Menschen in dem russischen Arbeitslager beschrieben. In poetischer Schreibweise verbildlicht die Schriftstellerin Herta Müller die schrecklichen Erlebnisse, den Schrecken, das Entsetzen, den Schock der Menschen selbst. Zwischen den Zeilen hörte ich Aufschreie der einzelnen Personen, die Machtlosigkeit, die Lage nicht beherrschend wegen der Gewaltzumutung der russischen Aufseher in diesem Lager.

Es ist die Rede davon, wie der Hunger in den Körpern nagt, die Angst die Menschen zerfrisst, die Kälte den jungen Mann übermannt, so dass er zittert und friert. Bis auf die Knochen abgemagert sahen manche Menschen aus.

Herta Müller ist eine Meisterin der Schreib- und Erzählkunst. Sie fasst die Sätze unbarmherzig zusammen, so dass dem Leser der Atem stockt und das Entsetzen kaum fassen kann. Hier einige Beispiele:

„Der Unterleib war ausgefroren, die Beine schoben sich totkalt in die Därme.“
„Ich wollte langsam essen, weil ich länger was von der Suppe haben wollte. Aber mein Hunger saß wie ein Hund vor dem Teller und fraß.“
„Das Zopfende hing heraus, als hätte sie von einem kleinen braunen Vogel schon die Hälfte abgebissen."

Diese Sätze geben genau das wieder aus der Realität, der Wirklichkeit, wie die Menschen es empfunden haben. Genauer, präziser lässt sich das Elend und die Not nicht mehr in Worte fassen.
Es ist eine Geschichte aus dem Krieg und noch nie las ich eine Geschichte darüber, die so wunderschön und atemberaubend in Worte gesetzt stand.
Es ist ein Roman, eine wirklich geschehene Geschichte, die trffender nicht erzählt werden kann. Nur so verstehen wir heute, was Krieg bedeutet und wie sich die Menschen fühlten. Müde, ausgelaugt, hungrig, ausgeliefert, dem nächsten Tag entgegenfiebernd, um nicht an Hunger zu sterben, an der Kälte zu erfrieren usw.

Oftmals macht sich Leopold aufden Weg, um zu betteln. Ein bisschen Essen hier, vielleicht ein bisschen Geld hier. Er lernt dabei eine Frau kennen, deren Sohn vermisst ist. Die Frau erinnert sich beim Anblick Leopolds an ihren eigenen Sohn und gibt ihm eine Suppe. Ihr Taschentuch findet er so schön, dass er es als Erinnerung an die Zeit vor dem Lager zu Hause einfach aufhebt.
Es ist sein Strohhalm, seine Hoffnung vielleicht darauf, wieder dorthin nach Rumänien zurückkehren zu können - eines Tages in weiter Ferne.

Die Not und das Elend dieser Jahre in dem russischen Lager macht die Autorin so klar und deutlich:

Stehlen ist stehlen, aber was ist dann stehlen aus Hunger? Wenn’s aber die eigene Frau ist, der man die Suppe weglöffelt? Der Kumpel, dem man das Brot klaut?

Die Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, die Lage, in der die Menschen steckten, stehen in und zwischen den Worten, zwischen den Zeilen. Es ist ein Aufbäumen gegen die Lage und doch können die Menschen nichts daran ändern.

"Mager wie Wolkenfetzen" waren die Kartoffeln, die Schalen davon, das Brot - die Menschen träumten vom Essen.
„Speichel macht die Suppe länger.“

Das zeugt von der Hungerkatastrohe, die in den Menschen wütete. Besser kann die Lage der einzelnen Personen einfach nicht geschildert werden. Die Urteile kommen von uns Lesern.

Welche Bestien sind diese Russen!
Wie konnten sie mit den Leuten nur so unbarmherzig umgehen?
Kein Essen, aber jeden Tag schuften wie ein Pferd!
Wozu dieser Krieg?
Die Deutschen zettelten den Krieg an, aber die Deutsch-Rumänen hatten nichts damit zu tun.
Trotzdem mussten sie leiden. Warum? Wozu?
Wo war die Menschlichkeit?
Wo war die Güte?
Wo blieb die Gerechtigkeit?
Was ist mit der Barmherzigkeit?
Mussten die Deportierten schon stunden-, tage-, wochen- monate- und jahrelang arbeiten, kann man ihnen nicht wenigstens satt zu essen geben?
Vielleicht auch eine Decke mehr zum Zudecken und Wärmen?

All das schrie mir zwischen den Zeilen und zwischen den einzelnen Worten entgegen. Das Ganze kommt unwillkürlich in den Kopf des Lesers und vielleicht noch vieles mehr.

Wir selbst können froh sein, in Frieden zu leben, keinen Krieg miterleben zu müssen, nicht zu Hause und auch nicht in der Fremde.

"Wenn man die Leichen im Winter erst gefrieren lässt und dann zerhackt, muss man kein Grab schaufeln, da reicht ein Loch."

Wieder so eine entwürdigende und schreckliche Botschaft. Wie mussten sich die Arbeitenden, die unfreiwillig und gezwungenermaßen in Russland waren, wohl gefühlt haben?
In ihnen sah man keine Menschen, nur Abfall und Müll, ein Stück Dreck, einen Lappen, den man im nächsten Moment in die Ecke werfen kann. So hätte ich mich gefühlt. Doch all das mussten sie über sich ergehen lassen.

Im Nachwort lässt sich dann folgendes in Erfahrung bringen. Die Autorin berichtet darüber, dass sie mit Menschen aus solchen Lagern sprach. Oskar Pastior war einer von ihnen. Detailliert erzählte ihr der Mann, bevor er 2006 starb, von seinen Erfahrungen. Daraus entstand dieses Buch.

21 Bewertungen, 3 Kommentare

  • Chigiz

    28.07.2010, 12:24 Uhr von Chigiz
    Bewertung: sehr hilfreich

    Toller und informativer Bericht.

  • XXLALF

    28.07.2010, 10:32 Uhr von XXLALF
    Bewertung: sehr hilfreich

    und ganz liebe grüße

  • sigrid9979

    28.07.2010, 10:26 Uhr von sigrid9979
    Bewertung: sehr hilfreich

    Super Berichtet...Lg Sigi