Pro:
anspruchsvoll
packend
spannend
Kontra:
keine Kapiteleinteilung
Empfehlung:
Nein
Josef Martin Bauer: „So weit die Füße tragen“
Kurze Anmerkung: Dieses Bericht bezieht sich auf eine andere Ausgabe des Romans.
1955 schrieb Walter Görlitz über das im selben Jahr erschienene Buch „So weit die Füße tragen“ in Die Welt: „Mit dem Bericht von der Wanderschaft Clemens Forells gen Westen hat uns Josef Martin Bauer mehr geschenkt als einen Kriegsgefangenenroman, er hat uns einen der großartigsten Abenteuerromane überliefert, die die neuere deutsche Literatur besitzt”.
Beim Stöbern im Bücherschrank meines Vaters fiel mir der Roman „So weit die Füße tragen“ von Josef Martin Bauer in die Hände. Anfangs war ich beim Lesen öfters dazu geneigt, dass Buch einfach wieder ins Regal zu stellen. Die Sprache war anstrengend, die Handlung wenig unterhaltsam. 20 Seiten später fesselte mich das Buch so sehr, dass es mir sogar schwer fiel, es aus den Händen zu legen.
„So weit die Füße tragen“ ist die authentische Geschichte des deutschen Kriegsgefangenen Clemens Forell. Verurteilt zu 25 Jahren Zwangsarbeit in den Weiten Sibiriens. Das Buch beginnt mit dem Transport der Gefangenen nach Kap Deschnjow (an der Beringstraße), eine Reise, die für etwa zwei Drittel der Gefangenen noch vor Erreichen des Ziels im Tod endet. Die Überlebenden leben und arbeiten in der Dunkelheit, schwach erhellt von Öllampen, eines Bleibergwerkes. Die Bedingungen, unter denen die Verurteilten leben, sind unfassbar. Tageslicht bekommen die meisten nur selten zu Gesicht. Es ist dort ein langsames Sterben. Man weiß, dass man hier durch eine Bleivergiftung zu Grunde gehen wird. Eine Flucht, raus in die eisige Kälte Sibiriens, scheint aussichtslos. Mehrere haben es versucht, erfolglos. Doch mit Hilfe des Lagerarztes Stauffer wagt Forell, beseelt von der Aussicht seine Frau und seine Kinder in der Heimat wieder zu sehen, nach 4 Jahren Gefangenschaft das scheinbar Unmögliche: er flieht. Nach Westen, immer nach Westen, Richtung Heimat. Er legt in 3 Jahren viele Tausend Kilometer mit Rentierschlitten, Eisenbahnen, Lastwagen – aber vor allem – zu Fuß zurück. Klirrende Kälte, ewiger Hunger, die allgegenwärtige Angst, entdeckt zu werden und in das Bergwerk zurückzukehren zu müssen, sind seine ständige Begleiter während der Flucht. Obwohl er sich von Menschen fern halten will, begegnet er barmherzige Rentierhirten, hilfsbereite Jakuten, die ihm das Leben retten, und verurteilte Goldwäscher, die ihm fast zum Verhängnis werden. Er lernt das Misstrauen, aber auch die Barmherzigkeit der Menschen in Sibirien kennen. Er wird zum Dieb und Räuber, kämpft um das Überleben – bis er schließlich am 22. Dezember 1952 sein Ziel erreicht. Der Roman ist weder ein Abenteuer- noch ein Kriegsbuch. Es ist die Erzählung über ein Einzelschicksal, über einen einzelnen Mann, der viele Rückschläge hinnehmen muss, aber trotzdem nicht aufgibt.
Kann ein Mensch so etwas durchstehen? Immer wieder aufstehen, auch wenn schon fast halbtot, seine Füße zum weitergehen zwingen, um zu überleben, um in seine Heimat zurückzukehren? 1953 lernte Josef Martin Bauer einen Mann kennen, dem die Flucht von Sibirien nach Deutschland gelang. Er hatte an Leib und Seele schwere Schäden erlitten und konnte sich an viele Dinge nur schwer erinnern, aber immer an die Umstände. In den privaten Aufzeichnungen von Bauer heißt es zu dem Mann „Er hat soviel Übermenschliches leisten müssen und so Unmenschliches erlebt, dass er als ein Zerbrochener ans Ziel kam." Der Mann, der im Buch Clemens Forell genannt wird, gab seinen richtigen Namen nie in der Öffentlichkeit preis. Inwiefern das im Buch geschilderte authentisch ist, darüber mag man diskutieren. Aber der Wert des Romans bleibt meiner Meinung nach unverändert.
Beim Lesen kann man nur Bewunderung für diesen Clemens Forell empfinden, über seine Hartnäckigkeit, seine Gerissenheit, sein Wille, zu überleben – auch wenn das Erreichen seines Zieles unvorstellbar erscheint. Niemand, den Forell auf seiner Reise traf, glaubte wirklich daran, dass er heimkehren würde. Und auch er verlor zeitweise den Glauben an seine Rückkehr.
„So weit die Füße tragen“ war kein Buch, das mich von der ersten Seite an fesselte. Es dauert einige Zeit, bis ich mich an Bauers teilweise umständlichen Schreibstil – der sich bestimmt auch aufgrund des Alters von aktuellerer Literatur unterscheidet – gewöhnt hatte. Bitte nicht sofort nach 2 Seiten aufhören zu lesen! Schon bald lernt man die Sprache des Autors zu schätzen. Sie ist nüchtern; gleichzeitig aber auch ausdrucksstark, gefühlsstark und anschaulich, so dass man sich vielleicht - das scheinbar Unbegreifbare - annährend das Leid des Clemens Forells vorstellen kann. Man fühlt mit ihm, man versteht ihn, man geht mit ihm die unzähligen Kilometer, und man bewundert ihn.
Und auch wenn es von Anfang an offensichtlich ist, dass Clemens Forell sein Ziel erreichen wird (es stand bei meiner Ausgabe auf dem Klappentext und ich hoffe mir ist keiner böse, dass ich oben bereits das Ende verraten habe), so wirkt sich das nicht negativ auf die Spannung auf. Während der Flucht spitzt sich immer die Handlung immer wieder dramatisch zu, man ist gefesselt von den unzähligen Gefahren, die der Flüchtende überstehen muss, um zu überleben. Das Buch wegzulegen scheint nur möglich, wenn einem vor Müdigkeit die Augen schon zufallen und die verschwommenen Buchstaben keinen Sinn mehr ergeben wollen. Das Buch ließt sich spannender als die meisten Kriminal- und Abenteuerromane, die ich gelesen habe, und gleichzeitig ist es ein Buch, das erschütternd, einen bewegt, zum nachdenken anregt. Wenn man bedenkt, dass diese Torturen wirklick ein Mann überlebt hat, so bekommt man an manchen Stellen des Buches eine Gänsehaut.
Was mich am meisten während des Lesens berührt hat? Vielleicht die Vorstellung darüber, nur alle paar Wochen für kurze Zeit das Tageslicht sehen zu können? Die Vorstellung darüber nachts panisch aufzuwachen, weil man fürchtet, man werde ersticken in dieser elenden Dunkelheit? Die ständige Angst, auf der Flucht erwischt zu werden, nicht schnell genug vor „den Russen“ fliehen zu können? Die Veränderungen, die Clemens Forell im Laufe der Flucht durch macht, wie er von einem ehrbaren Mann zu einem rücksichtslosen Dieb und Räuber wird? Das, was er erlebt hat, würde jeden verändern. Er stiehlt, um zu überleben, er denkt, es wäre sein Recht. Sibirien geht an niemanden spurlos vorbei. Es gab Momente, da habe ich aufgehört zu lesen und versucht, mir klar zu machen, was da ein Mann erlebt hat. Wie weit wäre ich gekommen, wenn ich Clemens Forells Schicksal teilen würde? Hätte ich überhaupt eine solche Flucht gewagt? Besäße ich den gleichen eisernen Willen, würde ich auch immer wieder einen Fuß vor den anderen setzen, auch wenn es scheinbar keine Hoffnung? Fragen, auf die ich für mich keine Antwort gefunden hat. Man muss so etwas erlebt haben, um sie zu beantworten, für Außenstehende ist es schwer vorstellbar, wie sie in gewissen Extremsituationen handeln würden.
Nach meiner Meinung ist der Roman an keiner Stelle langweilig oder langatmig. Bestimmt wird es hier andere Stimmen geben, da besonders der erste Teil im Bergwerk sehr ausführlich beschrieben wird. Dies sehe ich persönlich allerdings eher positiv, es hilft, sich die erschreckenden Lebensumstände dort besser vorstellen zu können. Zum Ende hin scheint das Buch immer öfters in Zeitraffer erzählt zu werden, die Ereignisse folgen Schlag auf Schlag, bis die letzte Seite des Romans erreicht ist. Clemens Forell Ankommen in Deutschland, das Wiedersehen mit seiner Familie (werden sie ihn überhaupt noch erkennen?), das Wiederzurechtfinden im Alltag – dies alles sind Dinge, die im Buch unerwähnt bleiben. Es ist eine Erzählung, die nur über die Flucht von Sibirien nach Deutschland handelt. Was danach oder davor geschehen ist bzw. geschieht ist kein wesentlicher Bestandteil des Buches. Das wäre vielleicht der Stoff für einen anderen Roman.
Auch das Kennen lernen von verschiedenen Kulturen möchte ich hier kurz erwähnen. Durch das Buch erhält man einen kleinen Einblick in das Leben von Jakuten und Rentierhirten, denen Clemens Forell im Laufe seiner Flucht begegnet. Diese Menschen schaffen es trotz des erbarmungslosen Klimas ein – auf ihrer Art - scheinbar zufrieden stellendes Leben in Sibirien führen zu können.
Was mich leider an dem Buch etwas gestört hat, war die Form. Größere Absätze waren rar, eine Kapiteleinteilung war (zumindest bei meiner 30 Jahre alten Ausgabe) nicht gegeben. Unpraktisch, aber kein großer Kritikpunkt.
Insgesamt ist dies ein Buch, das gewiss nicht jedem gefällt. Wer eine humorvolle, anspruchslose Freizeitbeschäftigung sucht, wird keine Freude daran haben. Es ist kein Buch, dass man „mal eben so“ zwischen Tür und Angel lesen kann. Man muss sich Zeit dafür nehmen. Das Geld ist der Roman auf jeden Falls Wert - und man findet bestimmt ältere gebrauchte Ausgaben günstig auf dem Flohmarkt oder bei einem großen Internetsauktionshaus * g *.
Ein packendes und interessantes Buch, das ich nur wärmstens weiterempfehlen kann, und meiner Meinung nach die 5 Sterne absolut verdient.
13. und 14. April 08 weiterlesen schließen
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