Pro:
Spannung, interessantes Thema
Kontra:
zum Teil sehr blutig
Empfehlung:
Ja
Es ist ein unangenehmes Thema, ein Thema, über das viele nicht gerne nachdenken: Was geschieht, wenn man stirbt? Eine traditionelle Beerdigung, eine Feuerbestattung? Oder will man zunächst noch Organe spenden, um anderen Menschen das Leben zu retten oder zumindest, um es ihnen zu vereinfachen? Lange Zeit war für mich klar: Ich wollte meinen Körper nicht zerschneiden lassen – selbst wenn ich tot bin. Doch dann hatte ein Kollege große Probleme mit seiner Bindehaut. Ich bekam mit, wie er über Monate darauf wartete, eine neue zu bekommen, endlich wieder richtig sehen zu können. Da entschloss ich mich, mir einen Organspenderausweis zu besorgen und selber meine Organe für den Fall meines Todes zur Verfügung zu stellen. Auch wenn meine Bedenken immer noch nicht ganz beseitigt sind. Doch dazu später noch einmal mehr. Das Thema Organspenden ist ganz zentral in dem Roman, den ich heute vorstellen möchte: Tess Gerritsen: Kalte Herzen. Ich bin per Zufall, beim Stöbern nach einer spannenden Geschichte, bei Amazon darauf gestoßen.
DIE AUTORIN:
Bis vor kurzem war mir Tess Gerritsen kein Begriff. Dabei gilt die Amerikanerin seit diesem Roman, seit „Kalte Herzen“ (Originaltitel „Harvest“) als internationale Bestsellerautorin. Die in im US-Bundesstaat Maine lebende Gerritsen ist selber Chirurgin, ihr Mann ist Arzt. Mediziner spielen dann auch in ihren Romanen immer wieder eine entscheidende Rolle.
ORT UND ZEIT DER HANDLUNG:
Die Geschichte spielt vor allem in Boston/USA und ist eine Geschichte, die vor allem in der Gegenwart angesiedelt ist.
DIE HAUPTFIGUREN:
ABBY DIMATTEO: Sie ist DIE Hauptfigur des Romans. Abby arbeitet als Assistenzärztin im zweiten Jahr am Boston Bayside Hospital. Sie ist eine Frau, die sich in der von Männern beherrschten Medizinerwelt des Krankenhauses durch Leistung bewährt hat. Ihr langen (Bereitschafts-)Dienste machen Abby zwar zu schaffen, aber sie schafft es immer noch mit Können und Verstand, das Bestmögliche für ihre Patienten zu erreichen. Gleichzeitig ist sie keine Streberin, keine zu überzeichnete Heldin. Denn da ist eine andere junge Ärztin, die noch besser als diMatteo ist. Und Abby schafft es auch nicht immer, ihre Patienten zu retten – was sicher auch der Wirklichkeit entspricht!
Eine weitere wichtige Eigenschaft von Abby ist ihr Gerechtigkeitssinn, der sie letztendlich auch in Gefahr bringt. Denn sie entscheidet sich, nicht nach den Regeln zu handeln sondern nach dem, was sie selber für richtig hält.
Aus meiner Sicht hat Gerritsen eine glaubwürdige Hauptfigur gezeichnet. Ich kann mir gut vorstellen, dass der Druck des Berufes, der schmale Grad dazwischen, Leben zu retten und eine falsche, möglicherweise auch tödliche Entscheidung zu treffen, so oder ähnlich tatsächlich existieren.
MARK HODELL: Er ist ein Arzt über 40, gut aussehend, einer, für den viele Frauen schwärmen könnten. Ich nicht, da er mir erst einmal zu schön gezeichnet ist. Und Mark ist Abbys Freund, einer, den sie bewundert, da er ein geschickter Chirurg ist und zugleich der Mann, der sie heiraten möchte. Recht bald habe ich geahnt, das da etwas mit Mark nicht stimmt. Und damit liege ich nicht falsch. Hodell ist in Machenschaften verstrickt, die das Bild des Traummannes zerstören ... und ein wenig zur Glaubwürdigkeit der Geschichte beitragen.
VIVIAN CHAO: Die Asiatin ist die bereits erwähnte Überfliegerin am Boston Bayside, ein Vorbild für Abby, auch wenn ihr die Kollegin ein wenig zu tough zu sein scheint. Trotzdem ist auch Vivian eine eher positive Figur: Denn sie wagt es als erste, Regeln zu brechen, Kopf und Kragen zu riskieren, weil sie das Richtige erreichen möchte.
JAKOV:
Der elfjährige scheint sehr, sehr Erwachsen für sein Alter: Er raucht – seit vier Jahren – er verdient Geld –seit zwei Jahren. Als Strichjunge. Jakov ist clever, vielleicht wegen des Lebens, das er führen muss, vielleicht auch trotzdem. Allerdings ahnt er nicht, was geschieht, als er mit anderen Jungen von Russland nach Amerika gebracht hat. Mir kam schon zu dem Zeitpunkt eine Idee ...
DIE HANDLUNG:
Abby, die miterleben musste, dass ihr Bruder Pete wegen seiner Herzschwäche sterben musste, hat alles getan, um selber Medizinerin zu werden, um Leben zu retten. Auch wenn es nicht immer leicht ist. Am Bayside Hospital tut sie alles, um durch Leistung zu überzeugen. Aber auch um das Richtige zu tun.
Eine Patientin, eine zweifache Mutter, wird ins Krankenhaus eingeliefert. Abby verliert den Kampf um ihr Leben. Vivian sieht die Chance, mit Hilfe der Patientin wenigstens einen 17-jährigen zu retten, der wie Abbys verstorbener Bruder herzkrank ist. Doch die Ärzte, unter ihnen auch Mark, haben schon eine andere Empfängerin für das Herz vorgesehen, die Frau des Millionärs Victor Voss, eine Mittvierzigerin. Auf legalem Weg stehlen Abby und Vivian das Herz: Der 17-jährige wird zunächst in ein anderes Krankenhaus überstellt, Abby überredet den Mann der Sterbenden, das Herz empfängerbezogen dem Jungen zu spenden. Die beiden Frauen entnehmen das Organ, Abby bringt es in das Krankenhaus des Jungen und hilft, es einzusetzen. Damit retten die beiden Frauen den Jungen und ziehen sich den Ärger des Millionärs und der anderen Ärzte zu.
Vivian muss ihren Hut nehmen. Abby darf – durch Unterstützung von Mark und von ihrem Vorgesetzten – bleiben. Doch Voss schwört Rache. Ein Anwalt macht sich Arbeit, mögliche medizinische Fehler von Abby aufzudecken. Sie vermutet, dass er in Voss Auftrag unterwegs ist. Sie assistiert bei der Operation von Voss Frau. Die gelingt, aber die Patientin bekommt Komplikationen.
Die Handlung ist spannend. Es gibt zwar gewisse Dinge, die vorhersehbar erscheinen. So ahnt man von Anfang an, dass Machenschaften hinter dem dubiosen Umgang mit Organen stecken, dass Transplantate gekauft werden, und dass die ranghohen Mediziner des Hospitals – und mit ihnen dann auch Hodell – von diesen Machenschaften Bescheid wissen. Dass man das so klar ahnt, ist für mich eine Schwäche des Romans. Trotzdem: Die Handlung ist spannend. Denn offen ist, ob Abby an den Messerstichen, die man ihr versetzt, zu Grunde geht, offen ist, ob sie es schafft, diese Vorgänge aufzudecken oder ob das einem anderen gelingt, einem Kommissar, der nach dem vermeintlichen Selbstmord eines anderen Arztes die Ermittlungen aufnimmt. Unklar ist auch, wie diese Machenschaften enthüllt werden.
DIE THEMEN:
TRANSPLANTATIONEN:
Ich habe es schon zu Beginn versucht, deutlich zu machen: Organspenden und damit auch der Vorgang der Transplantation von Organen – das ist lebenswichtig. Zu viele Menschen brauchen ein neues Herz, eine neue Niere oder – wie im Beispiel – eine neue Bindehaut. Gleichzeitig hat man ein mulmiges Gefühl als möglicher Spender. Denn das Überleben anderer kann möglicherweise gegen das eigene stehen.
Im Fall der zweifachen Mutter, deren Herz von Abby und Vivian transplantiert worden ist, haben die Ärztinnen wirklich sicher gestellt, dass ihre Patientin nicht mehr zu retten war. Andererseits sorgen Männer wie Victor Voss, die alles kaufen wollen, auch Organe, auch Leben, dafür, dass die Thematik allgemein in ein schlechtes Licht gerückt wird. Denn so entsteht der Verdacht, dass Ärzte möglicherweise das Leben eines Menschen „opfern“ um einen reichen Patienten zu retten. Dieser Verdacht ist noch dramatischer, wenn tatsächlich gesunde Menschen – sogar Kinder – „ausgeschlachtet“ werden, um das Überleben solcher, die es sich finanziell leisten können,sicher zu stellen.
Man kann wahrscheinlich nie ganz sicher sein, dass kein Missbrauch getrieben wird. Trotzdem würde ich ganz eindringlich dazu aufrufen, dennoch einen Organspenderausweis zu besorgen. Denn vielleicht braucht man auch eines Tages selber eine Spende. Dann ist man froh, wenn andere zu Lebzeiten sich entschlossen haben, ihre Organe nach dem Tod frei zu geben und damit Leben zu retten. Wer sich informieren möchte: Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung kann Auskunft geben. Das Infotelefon erreicht man unter der kostenfreien Rufnummer: 0800 / 90 40 400 .
VERTRAUEN UND LIEBE:
Das Thema „Vertrauen“ ist in dieser Geschichte auf verschiedenen Ebenen wichtig. Da ist zum einen die rein professionelle. Eigentlich sollte man den Kollegen und Vorgesetzten vertrauen können – in der Hinsicht, dass ihnen daran gelegen ist, einen guten Job zu machen. Das gilt erst recht dann, wenn es sich um Ärzte handelt, die das Leben anderer Menschen in der Hand haben. Nun kann man zwar darüber diskutieren, in wie weit jede und jeder einzelne von uns tatsächlich Ärzten vertraut. Dennoch hat die Hauptfigur, Abby, zunächst dieses Vertrauen in ihre Kollegen und darin, dass sie sich bemühen, das Richtige für ihre Patienten zu tun. Ein Vertrauen, das schnell erschüttert wird.
Dieses Vertrauen in das moralisch richtige Vorgehen hat sie auch in Mark, ihren Kollegen, Vorgesetzten und Freund. Hier kommt der Faktor Liebe hinzu, der das Vertrauen in ihn (fast) grenzenlos werden lässt. Auch dieses Vertrauen, so zeigt sich, wird enttäuscht.
Und noch in einer dritten Hinsicht ist dieses Thema wichtig, nämlich in Bezug auf Nina Voss. Die herzkranke Patientin hat Vertrauen – in die Ärzte und in ihren Mann. Doch der missbraucht dieses Vertrauen – aus Liebe – und nutzt sein Geld, um den offiziellen und moralisch richtigen Weg zu verlassen und ihr auf illegale Weise ein neues Herz zu verschaffen.
DIE AUSGABE:
Ich habe den Roman „Harvest“ von Tess Gerritsen in der deutschen Übersetzung von Kristiane Lutze gelesen. Diese (Übersetzung) scheint mir gelungen, ich bin über keine Formulierungen gestolpert, die irgendwie ungeschickt formuliert gewesen wären.
Ursprünglich wurde „Harvest“ erstmals 1996 veröffentlicht. Die erste deutschsprachige Version erschien 1997. Meine Ausgabe ist die Taschenbuch-Version des Blanvalet-Verlages ( www.blanvalet-verlag.de ) und kam im April 2005 als Sonderausgabe heraus. Sie ist 384 Seiten dick (oder dünn).
Zur Qualität dieser Version lässt sich sagen: Die Seiten sind aus gutem Papier, der Druck ist sehr klar leserlich, die Schrift fällt eher klein aus. Ein Manko hat die Ausgabe allerdings: Der Umschlag (aus glänzendem, eher dünnen Karton) knickt sehr leicht ein – schade! Aber dafür ist das Buch immerhin recht preisgünstig: Die Sonderausgabe kostet 5 Euro. ISBN-Nr. 3-442-36296-2 WG2111 .
FAZIT:
Für mich war „Kalte Herzen“ ein Roman, der leicht zu lesen ist. Auch wenn man gewisse Teile der Handlung vorher ahnen kann, so bleibt doch Spannung. Denn – soviel kann und will ich noch verraten – auch Figuren, die man zunächst vielleicht sympathisch finden mag oder denen man trauen würde, bleiben „auf der Strecke“. Das Thema Organspenden ist wichtig, ebenso wie die Frage, ob Missbrauch damit getrieben wird. Die einzige Gefahr: Der Missbrauch, der in „Kalte Herzen“ geschildert wird, könnte den einen oder die andere abhalten, sich selber für den Fall des eigenen Todes als Organspender zur Verfügung zu stellen.
Was den Roman angeht, so muss ich eins einschränkend hinzu fügen: Es ist natürlich speziell das Thema, wer sich zu sehr in die Geschichte einfühlt und sich quasi bildlich neben die geschilderten Operationen stellt, dem mag das Ganze zu blutig erscheinen. Man kann aber diese Passagen ja auch querlesen, um die nötige Distanz zu wahren.
Von mir gibt es für diesen Roman vier Sterne und eine Empfehlung. weiterlesen schließen
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