Pro:
nichts
Kontra:
Unsicherheit, räumliche Trennung, man weiß gar nicht, warum man das noch durchhält, weil man den anderen schon kaum mehr kennt usw..
Empfehlung:
Nein
-Prolog-
Der folgende Text entstand in drei Abschnitten. Ich habe ihn gekürzt (man glaubt es kaum) und überarbeitet. Es ist eine Mischung aus Fiktion und erlebten Gedanken. Das Thema nenne ich erst ganz am Schluss. Ich behalte mir vor, erst nach einigen Tagen die Auflösung zu ein paar der verwendeten Symbole zu ergänzen.
-1-
Sie wartete auf einen Anruf. Sie wollte beschäftigt werden.
Die Zeit tropfte klebrig durch ihre Hände. Und wenn sie versuchte, sich die stinkenden Minuten abzuwaschen, die auf ihrer Haut brannten, dann rieb sie ungeduldig an ihrem Ring herum. Ein goldgelber Ring. Er war zu groß, rutschte an ihrem Ringfinger auf und ab und hinterließ eine krustige Stelle auf ihrer Handfläche. Dabei hatte sie ihn beim Kauf kaum über die wurstigen, globigen Finger bekommen, die durch die Hitze zu unansehnlichen Klumpen aufgedunsen waren.
Sie wünschte sich eine ganze Reihe stinkender Wischmobbeimer, die auf sie warteten. Oder verkrustete Töpfe. Dreckige Teppiche oder verstaubte Schränke, über die sie wischen konnte.
Sie hasste solche Arbeiten, aber sie hatte herausgefunden, dass es weniger anstrengend war sich über ekelhafte Essensreste zu beschweren als an ihn zu denken.
Wenn er sie anrief, stammelte sie kurzatmig ins Telefon. Sie wusste, dass er für nur eine Minute Ferngespräch viele Rupien auf den Tisch blättern musste, aber sie konnte nicht reden. Sie konnte nicht einmal die drei Worte sagen, nach denen er sich verzehrte.
Er fragte sie immer wieder. Sag es... sag es.... Aber sie lauschte nur seinem unruhigen Atem. Der ernsten Stimme. Dann hörte sie auf den Zug, der vorbei fuhr... Schaute einem Auto nach... Oder blätterte in ihrem Gedächtnis.... Sie konnte seinen enttäuschten Gesichtsaudruck hören, wie er durch den Hörer zu ihr ins Ohr kroch - lange nachdem er aufgelegt hatte.
Sie posierte ungläubig vor dem Spiegel und starrte in das aufgedunsene Gesicht, dass ihr entgegenfratzte. Zwei kleine graue Augen wurden mit jedem Tag immer winziger. 184 Mal waren sie geschrumpft. Vermutlich wäre sie schon lange blind, bevor sie ihn wiedersehen würde. Oder ihr Herz würde einfach stehen bleiben.
Sie liebte es sentimental zu werden. Sie stellte sich vor, wie sie einfach umfiel und tot wäre. Wer würde es ihm wohl sagen? Wann würde er es erfahren? Und von wem?
Sie stellte sich vor wie einfach es doch war, einfach nicht mehr da zu sein. Verlockend einfach. Dann drehte sie sich um und umschlang die Bettdecke, stellte sich vor, wie er, Aryan und sie in einem Restaurant sitzen würden und sich anlächeln. Aryan. Das ist der Name, den er für ihren Sohn ausgesucht hatte. Sie mochte ihn nicht, aber was spielte das für eine Rolle? Sie wollte sowieso viel lieber Töchter. Anjali und Radha. Sie wiederholte die Namen immer und immer wieder, bis sie in ihrem Kopf widerhallten und das Echo sie einlullte.
Aber wenn er Aryan ausgesucht hatte, dann eben Aryan. Und in ihrem nächsten Gedanken sagte sie immer wieder Aryan.
Morgen würden ihre Augen zum 185. Mal verschrumpeln.
Plötzlich hätte sie nicht übel Lust ihn anzuschreien. Wie konnte er ihr das antun? Warum musste sie hier herumsitzen? Sie hasste es allein zu sein. Sie würde ihm sagen, dass sie sofort ihren Ring wiederhaben wollte. Sofort. Er gehört ihm nicht mehr.
Sie wollte nicht mehr von einer watteweichen Decke umarmt werden. ...
Aber bevor sie sich ausmalen konnte, wie plötzlich alles vorbei war, wie Aryan, Anjali und Radha niemals geboren werden... Bevor sie sich im Spiegel zu Ende betrachtet hatte... Als sie sich die öligen Spuren des Alleinseins von der Stirn wusch... da hörte sie eine vertraute Melodie. Das Telefon weckte sie auf. Nein, er war es nicht, das wusste sie. Jemand anderes würde es sein und mit ihr ausgehen, damit sie nicht mehr nachdenken musste. Sie musste nicht tot umfallen und auch nicht überlegen, ob er ihre Ideen, die sie ihm noch gar nicht verraten hatte, wohl altmodisch finden würde und ihr erklärte, dass sie dies und das nicht tun müsse, obwohl sie es wollte...
-2-
"Let Love Rule... We got to let love rule..."
Das Radio schellte auf dem Schrank, und die Noten purzelten aus dem Lautsprecher heraus, rutschten in der schwülwarmen Luft aus und kullerten durch das niedrige Zimmer.
Sie saß mit angewinkelten Beinen auf dem Bett, umarmte sich selbst und schaute angewiedert auf den wolkenfreien Himmel. Ihr Blick schweifte durch das Halbdunkel des Zimmers: Eine kleine Fotowand mit abgestandenen Erinnerungen, säuerlich in Glas verpackt, wie Pickles. Ein Kalender, der seiner Zeit einen Monat hinterher hinkte. Ein lächelndes Paar in Silber, strahlende Zähne in weiß und hellgelb. Zufriedene Augen und eine ehrliche Umarmung.
Sie ließ ihre Augen über die Namen gleiten, dann dachte sie an das fischäugige Mädchen. Wie lange war das nun schon her? Fast zweihundert Tage ... Plötzlich glaubte sie, die ganze Zeit würde an ihren Fingern kleben wie eine ekelhafte Paste. Sie rieb sich die Hände und roch daran, aber nichts geschah. Die Minuten hatten sich unter ihre Fingernägel vergraben, die Stunden hinterließen schmutzige Stellen auf dem Handrücken, und die Tage und Wochen...
Sie stand auf um sich die Hände zu waschen. Das Wasser tropfte kalt und erfrischend auf ihre Haut, aber zweihundert Tage kann man nicht einfach abwaschen. Sie steckten tief in den Poren und fraßen sich in ihre Adern, damit sie sich im ganzen Körper verteilen konnten.
Bis in die braunen Haarspitzen, die golden lackierten Fußnägel und die schmucklosen Ohrläppchen. Wenn sie sich im Spiegel betrachtete, sah sie sich nicht selbst. Ein wackeres Grinsen schlug ihr entgegen, kluge Augen (winzig klein) lugten aus ihren Höhlen hervor und ein vielsagender Gesichtsausdruck verschleierte die gähnende Leere ...
Ihre Lippen schlossen sich zu einem verkniffenen Paar fleischloser Geschwülste, ihre Augen füllten sich mit Säure, in ihrem Mund liefen die Minuten zusammen und sie versuchte sie in das Waschbecken zu spucken. Doch es kam nichts.... Das Wasser versiegte, die Zeit hinterließ immer noch einen säuerlichen Geruch an ihren Händen, und in ihrem Mund sammelten sich nur Verwünschungen.
Sie trottete zurück in das Zimmer, ließ sich auf die zerknitterte Decke mit dem Drachenmuster fallen und wickelte sich in ihre viel zu großen Träume ein. Die Haut an ihren Handgelenken spannte sich über die blauen Lebenslinien, in denen die Stunden herumschwammen und schmerzten. Stromaufwärts, zum Herzen.
Es setzte einmal aus und sie holte tief Luft, dann schlug es hastig weiter, bis sie sich an den Verwünschungen verschluckte und husten musste. Dann setzte es zweimal aus. Zumindest bildete sie sich das ein.
Als sie wieder aufwachte, lag sie noch immer in einem kleinen Bett, mit einer blaukarierten Decke. Ein übergroßes Shirt, so groß wie die Wünsche, die sie webte, hüllte sie sanft ein und bedeckte das rhythmische Pochen der Leere. Ihr war übel, ein schwerer Geruch von sauren Gurken kreiste über ihr, so wie der Deckenventilator. Aber das ist schon lange her.
Sie drehte sich um. Niemand war da in diesem blaukarierten Haufen zerwühlter Gedanken, die ihr links und rechts aus den Ohren purzelten und in die Matratze verschwanden. Erst am Abend würden sie ihr wieder in die Ohren krabbeln und leise, trommelnde Geräusche verursachen.
-3-
Dreihundertfünfundvierzig.
Dreihundertfünfundvierzig mal waren ihre Augen geschrumpft. Dreihundertfünfundvierzig mal hatte sie am Glas mit den konservierten Erinnerungen gerochen. Dreihundertfünfundvierzig mal waren Aryan, Anjali und Radha geboren oder nicht geboren, je nachdem...
Dreihundertfünfundvierzig mal hatte sie sich gefragt, ob sie am nächsten Tag hoffentlich nicht mehr aufwachen würde, oder ob es zumindest nicht das Schlachtfeld blaukarierter Gedanken sein musste, in dem sie die weiter verschrumpelten Augen öffnen musste.
Dreihundertfünfundvierzig mal hatte sie an ihrem goldgelben Ring herumgespielt, ihn weggeworfen und wieder aufgehoben.
Jetzt zählte sie nicht mehr weiter. Keine klebrigen Minuten mehr, die hartnäckig unter ihren Nägeln festgekrallt waren. Keine öligen Haare, die ihr in die fettige Stirn klatschten. Keine verwelkten Blüten mehr. Keine in Matratzen lauernden Gedanken, die ihr Albträume von fischäugigen Mädchen bescherten.
Jetzt zählt sie anders herum. Vierzehn. Dreizehn. Zwölf. Jetzt war sie schon bei Elf... Elf Tage würden ihre Augen jeden Tag größer und größer und größer werden...
Und nach unendlich langen, schmerzenden, nach sauren Gurken stinkenden dreihundertsechsundfünfzig Tagen, in denen sie damit beschäftigt war, die Minuten von den zitternden Händen zu waschen... in denen sie verträumt erst den einen, dann zwei andere und dann wieder nur den einen Namen wiederholt hatte... Nach dreihundertsechsundfünfzig Tagen würde sie vor ihm stehen und ... was?
Die drei Worte sagen, die ihr am Telefon nie über die fleischlosen Geschwülste gekommen waren? Oder die Säure aus den Augen tropfen lassen, auf den grünen Chiffonsari, obwohl sie genau wusste, dass es den Stoff für immer ruinieren würde? Sauregurkengrün, aber wunderschön.
Nach dreihundertfünfundvierzig Tagen weiß sie nicht mehr, was sie nach weiteren elf Tagen tun wird. Es kommt ihr vor, als hätte sie ihn nie gesehen, als wäre sie ihm nie begegnet. Vielleicht hatte sie sich alles nur eingebildet, eingehüllt in einem watteweichen Traum, blaukariert und sehnig. Nach so vielen Tagen kannte sie ihn nicht mehr. Sie hatte Angst einen anderen Menschen zu treffen als den, dem sie die drei Worte verweigert hatte. Einen anderen als die eine silberne Hälfte des Pärchens. Ein Lächeln in Weiß. Eines in Hellgelb. Einen anderen als den, der in Glas konserviert war, wie Pickles.
Sie hatte Angst, dass ihr Herz nach dreihundertsechsundfünfzig Tagen tatsächlich aussetzen könnte. Vielleicht vergisst es wieder zu schlagen? Vor Freude natürlich, nach so langer Zeit.
Noch elf Tage, dann würde sie es einfach ausprobieren. Den Dreck des letzten Jahres unter den Nägeln hervorkratzen, den Mund voll ungerechtfertigter Verwünschungen ausspülen und ein Lächeln aufsetzen. Jetzt etwas weißer.
Wenn sie es nicht riskiert, dann würde sie weder den einen, noch die beiden anderen Namen jemals vergeben können, und dabei ist es genau das, weswegen es wert war, ganze dreihundertsechsundfünfzig Tage lang zu warten. Nur auf diesen einen.
-Epilog-
Sie liegt auf blaukariertem Untergrund. Das silberne Pärchen lächelt vom Schrank. Da wird es auch bleiben. Sie wird es nicht wegräumen.
Lieben Dank an meine Leser. Nosianai packt ihren Krempel und zieht um die Welt, und sie hofft, dass sie mit den offen gelegten Gedanken einigen helfen konnte, das Thema Fernbeziehung mit anderen Augen zu sehen; auch wenn die beschriebenen Dinge zugegebenermaßen sehr intim und symbolgetränkt sind.
Ich will nicht begreifen, dass es Menschen gibt, die eine Fernbeziehung toll finden. Ich kann nicht verstehen, dass es Menschen gibt, die nicht darunter leiden von dem getrennt zu sein, was sie zu lieben vorgeben. Das wünsche ich keinem. Und ehrlich gesagt unterstelle ich solchen Leuten ein emotionales Defizit.
Was ich liebe, das halte ich fest. Und zwar am 3. Dezember, nach dreihundertsechsundfünfzig Tagen. ... und ich werde jeden wahlweise auslachen oder bespucken, der sagt, ihm/ihr mache so was nix aus...
Denn sie wissen nicht, wovon sie reden.
Nosianai
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