Pro:
Fabelwesen, trockener, britischer Humor und das typisch englische Understatement, Mischung aus Fiktion und Realität, schönes Coverartwork
Kontra:
Dreiteilung der Hauptgeschichte
Empfehlung:
Ja
=== Vorwort ===
Ein neuer Besuch bei Thalia – ein neuer Schwung Bücher. Darunter auch das Buch mit dem auffällig weiss-tiefblauen Cover, welches mir schon einige Male aufgefallen war. Christoph Marzis „Lycidas“.
=== Das Buch & der Autor ===
Blau ist meine Lieblingsfarbe und deswegen ist es auch nicht verwunderlich, dass ich das Buch in diesem riesigen Berg an Mängelexemplaren schon aus 5 Meter Entfernung erspäht hatte. Es gibt nicht viele Bücher mit diesem flächigen, intensiven Dunkelblau, Big Ben darauf und einem riesigen Vollmond. Ja, dieses Coverartwork ist mehr als nur ansprechend – es strahlt bereits eine gewisse Mystik aus und deutet viel an, was wohl auf den folgenden 859 Seiten auf den Leser wartet.
Zwar ist der Roman nun schon im Jahr 2004 erschienen, dennoch ist Christoph Marzi noch ein recht Junger seiner Zunft. Der Obermendinger vom Baujahr ’70 lebt heute mit seiner Familie im Saarland. „Lycidas“ ist nicht nur sein Erstlingswerk, sondern wurde auch gleich mit dem „Deutschen Phantastik Preis“ ausgezeichnet. Er gilt als eines der großen Talente der deutschen Fantasy-Landschaft.
Mit „Lilith“ und „Lumen“ fand die Geschichte der Emily Laing 2005 und 2007 ihre Fortsetzung. Dazwischen erschienen viele andere Werke und Kurzgeschichten.
=== Die Geschichte ===
Die Welt ist gierig, und manchmal verschlingt sie kleine Kinder mit Haut und Haaren. Die 12jährige Emily Laing fristet ihr trostloses Dasein in einem Waisenhaus in Rotherhithe, wo Reverend Dombey ein eisernes Regime führt. Weder sie noch ihre beste Freundin Aurora wissen, wer ihre wirklichen Eltern sind bzw. warum sie hier sind. Eines Tages staunt Emily beim Küchendienst nicht schlecht, als plötzlich eine Ratte mit Namen Hironymus Brewster zu ihr spricht. Er teilt Emily mit, dass bald seltsame Dinge geschehen werden und sie auf die kleine Mara, ein Neuzugang im Waisenhaus, ein Auge werfen soll. Emily weiß zunächst nicht recht, ob sie nicht einfach langsam verrückt wird, doch als dann nachts ein Werwolf im Waisenhaus auftaucht, Unruhe und Verwirrung stiftet und die kleine Mara entführt, zweifelt Emily nicht länger, sondern nutzt die Chance zur überstürzten Flucht. An einer U-Bahnstation wird sie von Wittgenstein, einem Alchemisten, aufgelesen. Bald schon wird Emily den wahren Hintergrund ihrer Herkunft erfahren und sich mit Wittgenstein, dem Elfen Maurice Micklewhite, der adligen Ratte und ihrer Freundin Aurora auf die Suche nach Mara begeben.
Ihre Spur führt in die uralte Metropole. Eine Stadt unter Stadt. Ein dunkles Abbild Londons, nur viel älter. Hier treiben sich neben normalen, menschlichen Aussteigern, Fabelwesen und Engeln auch Götter herum. Der Lichtlord, oder auch Lycidas, trachtet nach der Macht in der uralten Metropole. Mit Hilfe der Urieliten, treu dienende Engel des Träumers, kann der Lichtlord gebannt werden, doch diese Verschiebung im Machtgefüge beschwört noch größeres Unheil herauf, das nicht nur die uralte Metropole, sondern auch das reale London und den Rest der Welt bedroht.
1. Band: Lycidas
2. Band: Lilith
3. Band: Lumen
=== Leseprobe ===
Die Welt ist gierig, und manchmal verschlingt sie kleine Kinder mit Haut und Haaren. Emily Laing erfuhr dies, bevor ihre Zeit gekommen war. Als sie meinen Weg kreuzte, flüchtete sie vor denen, die ihr einen Zukunft versprochen hatten, jenen, die täuschen und lügen und betrügen und dafür sorgen, dass das Lächeln in Kindergesichtern traurig und unecht wirkt.
Außer Atem kniete das Mädchen am Fuße einer Rolltreppe in der Tottenham Court Road, während der lauwarme Wind eines nahenden Zuges ihr das rote, lockige Haar aus dem schmutzigen Gesicht blies. Ängstlich sah sie mich an, und als ich der Ratte gewahr wurde, die neben dem Mädchen auf dem Boden saß und zutraulich die Schnauze gegen die Hand der Kleinen drückte, um mich sodann mit wachsamen Kulleraugen zu mustern, wusste ich, dass ich die Untergrundbahn nicht alleine verlassen würde.
So lernte ich Emily Laing kennen.
An einem Tag im Winter.
Nicht lange vor Weihnachten.
=== Erfahrung & Fazit ===
Ich hatte im Vorfeld nur Gutes gehört über das Buch und somit war es für mich reizvoll mir selber ein Bild davon zu machen.
Die erste Überraschung ist, dass die Geschichte in einer realen Stadt, London, spielt. Zweite Eigenart: als Leser schlüpft man in die Person Wittgenstein. Marzi erzählt und schreib alles in der Ich-Perspektive, wechselt jedoch auch in die Erzählweise eines losgelösten Betrachters. Was anfangs seltsam erscheint, macht im Laufe des Buches den eigenen Charme aus, denn nur so gelingen und wirken die gekonnten witzigen Wortgefechte, die sich zwischen Wittgenstein und der wissbegierigen Emily entwickeln. Zitate wie „Oh dieses Kind!“ oder „Fragen Sie nicht!“ bergen ihren eigenen Humor in sich.
Marzis Handlungsführung wirkt gleich vom Start weg sprunghaft. Man beginnt mit einem Rückblick und diese Rückblicke und Vorausahnungen ziehen sich wie ein roter Faden durch das Buch. Teilweise werden Geschehen dadurch doppelt und dreifach wiedergegeben, und manchmal ist man irritiert, denn der Autor scheint einfach über Situationen hinwegzugehen nut um dann wenig später doch darauf zurückzukommen. Dieser Aufbau hinterlässt einen gewissen Ziamonika-Effekt. Es scheint so, als würde man an der einen Stelle nicht vom Fleck kommen, die Handlung dreht sich nur im Kreis und an anderer Stelle scheint man diese
„verlorene“ Zeit im Sauseschritt wieder aufholen zu wollen. Diese zum Teil starken Tempowechsel beeinträchtigen den Lesefluss zwar, jedoch nicht so extrem, dass der Spaß am Lesen verloren geht. Denn Marzi hat mit diesem Buch mehr als nur ein Fantasy-Werk erschaffen. Es ist vielmehr ein Krimi – eine Dedektivgeschichte. Wittgenstein und Maurice Micklewhite agieren wie Sherlock Holmes und Watson und enthüllen langsam aber sicher die Zusammenhänge und Geheimnisse der uralten Metropole. Dadurch wird die Geschichte fast nie langweilig. Eher gibt es kleine Zwischenphasen, wo die Handlung mehr aus Rückblicken besteht, die zum Verständnis der Gesamthandlung beitragen.
Faszinierend finde ich den Stoff, den Marzi in dem Erstroman verwoben hat. Ägypische Gottheiten wie Anubis herrschen Über ein Heer aus Werwölfen und irgendwie kommt auch der Rattenfänger von Hameln ins Geschehen. Diese Mischung macht den Reiz aus weiter zu lesen, denn es ist kein klassischer Fantasyroman. Die Grenze zwischen Fiktion und Fantasie ist hauchdünn und verschmilzt an manchen Stellen so, dass Erdachtes real wirkt.
Irritiert war ich, als nach 250 Seiten plötzlich ein deutlicher Abfall im Spannungsbogen zu spüren war, so dass unweigerlich das Ende bevor stand. Jetzt schon? Nein, das konnte nicht sein und doch war das Ende nah – das Ende vom ersten Buch. Denn man muss wissen, dass Marzi „Lycidas“ in 3 Teilbücher (Lycidas, Lilith, Licht) unterteilt hat. Man kann sie als große Kapitel oder Teilbücher betrachten, da jedes eine kleine abgeschlossene Geschichte beinhaltet.
Das Buch konnte meine Erwartungen voll und ganz erfüllen. Es ist einfach mal eine neue Art von Fantasy. Fabelwesen, trockener, britischer Humor und das typisch englische Understatement – diese Mischung macht hier den Unterschied. Dazu verbindet Marzi Krimielemente mit anderen Märchen- oder Geschichtselementen und schafft so eine neue literarische Ebene. Dass dieser Roman den Phantastik-Preis bekommen hat, wundert mich keineswegs, denn er hat wirklich alles, was ein Bestseller braucht. Ich bin gespannt auf die Fortsetzungen. „Lycidas“ kommt als Special Edition Anfang 2009 auf den Markt mit Bonusmaterial.
ISBN 9783453530065 weiterlesen schließen
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