Pro:
Geniale Charaktere, ungewöhnliche, abstrakte Story, tolle Sprache
Kontra:
Zähe und langwierige Passagen die einem die Lust am Lesen fast gänzlich nehmen, nicht so fesselnd wie die Vorangegangenen Bücher
Empfehlung:
Nein
Ich habe bisher mehrere Bücher von Haruki Murakami gelesen, darunter auch "Gefährliche Geliebte" und "Naokos Lächeln". Ich war bisher von jeder Geschichte aus Murakamis Feder beeindruckt und beim Lesen dieser Bücher gefesselt bis zur letzten Seite. Seine Geschichten sind roh, oft surreal und versprühen einen einzigartigen Charme, der sich in einer unglaublich bildhaften Erzählweise niederschlägt, die ihresgleichen sucht und den Leser immer wieder in eine Welt entführt, die in ihrer unglaublichen Vielfalt absolut einzigartig erscheint.
Ich ging daher mit sehr hohen Erwartungen an "Mr. Aufziehvogel" heran. Ich kannte den Autor, seine Geschichten und seine Erzählweise, war von seiner Sprache beeindruckt und konnte mir einfach nicht vorstellen, dass man mit einem seiner Bücher einen Fehlgriff tun könnte, gerade wenn das Buch vom Spiegel und anderen Zeitschriften als eines seiner besten Werke tituliert wird. Um so enttäuschter war ich nach der Lektüre.
Aber erst einmal ein kurzer und sehr grober Überblick über die Story von "Mr. Aufziehvogel".
Toru Okada ist ein junger, verheirateter und momentan arbeitsloser gelernter Jurist, dessen Frau Kumiko in der Redaktion einer Zeitschrift arbeitet. Das Leben des Pärchens verlief in den vergangenen 6 Jahren ihrer Ehe stets normal. Doch plötzlich sind da diese Anrufe einer fremden Frau, die mit Toru Telefonsex machen will, der nach Kumikos Bruder benannte Kater Noboru Wataya ist plötzlich verschwunden, und dann lernt Toru auch noch die 16jährige May Kashara kennen, die den ganzen Tag nichts anderes zu tun scheint, als sich im Garten zu sonnen und nicht im Mindesten daran denkt wieder in die Schule zu gehen, sondern lieber darüber nachdenkt, wie wohl die „Sache Tod“ aussieht und sich in den Händen anfühlt, wenn man sie fassen könnte.
Kumiko ist der Kater sehr wichtig, daher engagiert sie die medial veranlagten Schwestern Malta und Kreta Kano, mit denen sich Toru treffen soll. Auch Noboru Wataya soll bei diesem Termin dabei sein, was Toru einiges Unbehagen bereitet, da Noboru seit jeher das schwarze Schaf der Familie ist. Niemand kann ihn leiden, er ist hochintelligent, stets abweisend, schroff und gedanklich so gut wie immer in seiner eigenen, seltsamen Welt.
Und nach diesem Treffen beginnt die Geschichte wirklich merkwürdig zu werden. Kumiko verschwindet plötzlich, der Kater taucht auch nicht wieder auf und Toru beginnt, feuchte Träume von Kreta Kano zu haben und klettert für mehrere Tage auf den Grund eines Brunnens auf dem Nachbargrundstück.
Für Toru ist nach diesen einschneidenden Erlebnissen nur eins klar: Er muss Kumiko zu sich zurückholen, egal wie, und nachdem er einen Brief von ihr erhält, in dem sie ihm erklärt warum sie ihn verlassen hat, bildet sich auf seiner linken Wange ein großes, dunkelblaues Mal, wie ein Leberfleck.
Und mit diesem Mal beginnt eine völlig neue Geschichte um den jungen, verlassenen und orientierungslosen Mann, der von May Kashara in Anlehnung an den Vogel, der jeden Morgen durch seinen Gesang vor Torus Haus die Feder der Welt neu aufzuziehen scheint, "Mr. Aufziehvogel" genannt wird und eine dubiose Agentur, betrieben einzig von Frau Muskat und ihrem stummen Sohn Zimt, die sich Aufziehvogels Mal auf der Wange zunutze machen wollen.
Die Geschichte scheint auf den ersten Blick seltsam, zusammenhanglos, undurchsichtig, unlogisch und wie aus einem surrealistischen Albtraum abfotografiert zu sein. Und an vielen Stellen ist es auch tatsächlich so.
Das Buch ist durchwachsen wie eine Scheibe Roastbeef, durchzogen von zu vielen Sehnen. Zu Beginn liest es sich wie fast jedes Buch von Murakami. Locker, luftig, köstlich. Aufziehvogel kocht sich Spaghetti und es herrscht Alltagsstimmung, doch diese wird durch den plötzlichen Anruf einer Unbekannten zerfetzt, die mit ihm anscheinend Telefonsex machen will. Nach und nach häufen sich die seltsamsten Ereignisse rund um den arbeitslosen Aufziehvogel und er wird in einen Strudel der Merkwürdigkeiten hineingesogen.
Doch irgendwann fängt es an. Es tauchen Passagen auf, die genauso wie die Sehnen im Roastbeef schwer zu kauen sind und in den Zähnen hängen bleiben. Unangenehm stechen sie aus dem vollkommen erscheinenden Ganzen der Geschichte um Aufziehvogel, seiner Frau Kumiko, May Kashara und den vielen anderen mehr oder weniger durchsichtigen Charakteren heraus. Dies sind z.B. die ellenlangen Briefe von Leutnant Mamiya, oder die ausschweifenden Schilderungen von Muskats Vergangenheit.
Schier unerträglich scheinen sich diese Kapitel auszudehnen und die eigentliche Geschichte in den Hintergrund zu drängen, als gäbe es in "Mr. Aufziehvogel" nichts anderes mehr.
Eine Sache, die mir auch eher negativ als positiv in Erinnerung geblieben ist, bezieht sich auf die unterschwellige, manchmal sogar prall hervortretende Erotik, die sich durch den ganzen Roman zieht. Kumiko und Kreta Kano als Prostituierte des Körpers und des Geistes, als willenlose Befriedigungsmaschinen der verschiedensten Männer, das lustvolle Erkunden von Torus Mal mit der Zunge durch die Kundinnen von Muskat und Zimt, und die dauernden feuchten Träume Torus, wenn er sich wieder und wieder im Traum mit Kreta Kano vereinigt.
Vielleicht mögen all diese erotischen Zwischenspiele für die Handlung von Wichtigkeit sein, aber irgendwie stört es beim Lesen auch hin und wieder. Spätestens nach dem 3ten "Und ich bemerkte, das ich in die Unterhose ejakuliert hatte" wird es eher langweilig und nervend als interessant oder neugierigmachend.
Natürlich hat "Mr. Aufziehvogel" auch einige positive Aspekte. Die Geschichte an sich ist sehr ungewöhnlich und durch Murakamis Gabe, selbst das irrwitzigste als vollkommen natürlich erscheinen zu lassen, wirkt die Welt von Toru Okada zu beginn der Geschichte natürlich und mehr als nur "normal". Doch die Häufung der Seltsamkeiten, die mit dem ersten anzüglichen Anruf der Unbekannten Frau beginnt, fällt dem Leser zuerst nicht wirklich auf. Murakami beschreibt Toru’s Gedanken, Worte und Handlungen in einer Leichtigkeit und auch Genauigkeit, in der man sich als Leser verliert. Alles ist normal, alles ist ruhig, alles ist gut, auch wenn es nicht so ist.
Die Katze ist verschwunden und seine Frau ebenso, doch Mr. Aufziehvogel legt sich erst mal auf die Couch, döst ein bisschen und isst sich etwas Kartoffelsalat nachdem er den ausgetrockneten Brunnen vom Nachbargrundstück mitten in der Nacht verlassen hat, in dem er fast 3 Tage gesessen hat ohne etwas zu essen. Man liest das und denkt sich nichts dabei. Natürlich, jeder von uns hat doch schon mal für ein paar Tage auf dem Grund eines ausgetrockneten Brunnens gesessen, oder etwa nicht? Das ist das Besondere an Murakamis Geschichten. Er erzeugt Normalität, wo keine ist, füllt leeren Raum mit etwas, das man als Leser nicht erkennen, erfassen kann, aber dennoch da ist, wie ein weiches Polster, das alles unnatürlich auffängt, bevor es uns mit unvermittelter Härte treffen und unangenehm auffallen kann.
Genauso verrückt wie die Story sind auch die Charaktere, die neben Toru "Aufziehvogel" Okada eine wichtige Rolle spielen. Neben Malta und Kreta Kano, den beiden medial veranlagten Schwestern, die geheimnisvolle mystische Kräfte besitzen und sich nach ihren Lieblingsinseln getauft haben, wären da zum einen noch May Kashara, die 16-jährige nicht-Schülerin, die den ganzen Tag in ihrem Garten liegt, sich bräunt und als Nebenjob Marktforschungsanalysen für eine Firma anstellt, die Perücken entwirft und herstellt. Außerdem wäre da noch Muskat, die modebewusste, reiche Agenturchefin, die Toru für ihr "Geschäft" engagiert und ihn komplett neu mit teuren Anzügen und Accessoires ausstattet, weil sie gegen schlechten Geschmack bei Kleidung allergisch ist, und ihr Sohn Zimt, der als kleiner Junge aufgehört hat zu sprechen, weil er keinen Sinn darin sieht. Noboru Wataya, Kumikos Bruder, der Sonderling der Familie, der hochintelligent seine Karriere bis in die hohen Etagen der Lokalpolitik geplant hat und skrupellos alles tut um seine Ziele zu verwirklichen und dabei sogar seine "spezielle Kraft" benutzt. Und zu guter Letzt wäre da noch der Kater von Mister Aufziehvogel, zu Beginn der Geschichte noch mit seinem ursprünglichen Namen, Noboru Wataya (Er sieht angeblich Kumikos Bruder sehr ähnlich) bezeichnet, später von Toru in "Oktopus" umgetauft, weil der Kater nach über einem Jahr Abwesenheit als erstes Tintenfisch fraß. Dieser ist das Wesen, das ihm über lange Zeit hinweg die nötige Wärme und Zuneigung gibt, die Toru braucht um nicht zu verzweifeln.
Natürlich gibt es in "Mr. Aufziehvogel" noch weitaus mehr Personen die auftauchen und das Leben von Toru Okada beeinflussen und/oder in gewisse Bahnen lenken, aber die hier genannten sind zweifelsohne die wichtigsten. Auch an diesen extrem kurzen Beschreibungen wird deutlich, wie unkonventionell Murakami diese Geschichte gestaltet hat.
Ich weiß nicht, was der große Unterschied zwischen diesem Buch und den anderen von Murakami ist. Die erzählten Geschichten finden alle in der Gegenwart statt, jedes Mal in Japan, es sind ganz normale Menschen, die plötzlich mit Dingen konfrontiert werden, die sie aus ihrem alltäglichen Leben herauskatapultieren.
Noch nicht mal Banalitäten wie z.B. das Design des Buchcovers hebt sich ab. Bunt, psychedelisch-bunte Farben und ein Auge sind vorne zu sehen. Aufziehvogel lässt grüßen.
Während ich die im Ganzen 765 Seiten, die sich in 2 "Bücher" unterteilen, gelesen habe überkam mich das zu Beginn angesprochene Zähigkeitsgefühl mehrere Male, und obwohl es weitaus mehr interessante und fesselnde Passagen gibt als jene langweiligen, trockenen und nervenden. Richtiger Lesespaß, der von der ersten bis zur letzten Seite an die Geschichte bindet, richtiggehend fesselt und das Gefühl erzeugt, man müsse das Buch unbedingt in einem Rutsch durchlesen, entsteht leider nicht. Ich war oftmals versucht, das Buch gänzlich in mein Regal zu verbannen. Manche Passagen, die sich auf den Lesefluss lähmend auswirkten habe ich sogar übersprungen, dies zwar nur 2 oder 3 Male, aber selbst 1x ist meiner Ansicht nach schon viel zu viel und darf in einem guten Buch nicht vorkommen!
Ich mag die Bücher von Haruki Murakami, habe mehrere gelesen und besitze diese auch. Ich muss sagen, dass, so sehr mich die vorhergehenden auch beeindruckt und gefesselt haben, "Mr. Aufziehvogel" nicht vermochte, mich auf die gleiche oder eine vergleichbare Weise zu faszinieren. Trotz der unvergleichlich individuellen Charaktere und der verqueeren Story kommt kein wirklicher Lesegenuss auf. An manchen Stellen hatte ich sogar das Gefühl, Murakami selbst habe beim Schreiben den Überblick über sein Werk verloren, so verworren und unlogisch setzte sich das Geschehen fort.
Wie schon angesprochen, wird "Mr. Aufziehvogel" in 2 Bücher unterteilt. Das erste Buch von S. 9 – 223 mit dem Titel "Die diebische Elster, Juni und Juli 1984", und das zweite Buch, von S. 227 – Ende mit dem Titel "Vogel als Prophet, Juli bis Oktober 1984".
Ich kann das Buch zusammenfassend nicht wirklich weiterempfehlen, es dürfte nur für wirklich hartgesottene Liebhaber und Fans geeignet sein, Einsteiger in die Welt von Haruki Murakami sollten tunlichst die Finger von diesem Roman lassen!
Der Preis von ca. 12,5 € mag zwar für die 765 Seiten der Taschenbuchausgabe gerechtfertigt sein, aber der Inhalt ist mir das Geld nicht wert. Ich würde es zwar nicht als Fehlkauf bezeichnen, aber dies ist wirklich ein Buch, das man sich besser nur ausleiht, liest und dann wieder loswird. Ich finde dies zwar schade, aber ich glaube kein Künstler oder Schriftsteller kann von sich behaupten ausschließlich Meisterwerke geschaffen zu haben.
Zum Schluss noch eine kleine Kostprobe für Murakamis bessere, gelungene Passagen in diesem Buch, ein Stück Text, das ich sehr schön finde:
"Als wir nebeneinander durch den Wald zurückgingen, zog May Kashara ihren rechten Handschuh aus und schob die Hand in meine Tasche. Das erinnerte mich an Kumiko. Sie hatte das früher auch oft getan, wenn wir im Winter zusammen spazieren gegangen waren; so konnten wir uns an einem kalten Tag eine Tasche teilen. Ich hielt May Kasharas Hand in der Tasche fest. Es war eine kleine Hand, und warm wie eine einsame Seele."
Wen es interessiert: Dieser Roman wurde von Giovanni Bandini und Ditte Bandini aus dem englischen ins Deutsche übersetzt, die auch schon "Gefährliche Geliebte" übersetzten. weiterlesen schließen
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