Pro:
Schöner schwarzer Humor, ...
Kontra:
... der sich hier aber erst entwickelt.
Empfehlung:
Ja
„Der Hahn ist tot“ von Ingrid Noll – ihr erstes Buch – beginnt im Titel mit einer Lüge, schwenkt dann von Lug und Trug aber sehr bald um auf Morde. Es ist sehr schwer zu diesem Buch zu raten oder von ihm abzuraten, weil man es von pervers über langweilig bis zu psychologisch fundiert oder genial finden kann. Sehe jeder Leser dieser Meinung selbst, ob es für ihn empfehlenswert sein könnte …
INHALT
Rosemarie Hirte erlebt mit ihren 52 Jahren – also mit erheblicher Verspätung – endlich die große Verliebtheit, die sie ihr Leben lang vermisst hat. Nach frühen unglücklichen Versuchen von Liebesbeziehungen lernt sie nun den brillanten Lehrer Witold auf einem Vortrag kennen, der für alle Frauen ein Hahn im Korb ist, den sie einfach verehren müssen.
Die Konfrontation mit ihren über Jahrzehnte angestauten und immer verdrängten Bedürfnissen nach Anerkennung, Liebe, Zärtlichkeit und sexueller Erfüllung lässt Rosemarie Hirte keine Ruhe mehr. Sie macht alle Dummheiten, die man einer verliebten 13-Jährigen wohl zutrauen würde, und steigert sich mit diesen Dummheiten immer mehr hinein in das Verhalten einer Frau, die den Dummheiten der 13-Jährigen die Energie der reifen Frau und den Frust der jahrzehntelang Ungeliebten hinzufügt.
So schleicht sie nachts im Garten des Geliebten herum, beobachtet ihn, sieht die nächtlichen Streitereien, den Alkoholkonsum seiner Frau. Schließlich kommt es zum ersten Mord, als Witolds Frau eine Pistole zieht und selbst beim Rangeln um die Pistole verletzt wird: Denn Rosemarie, die „völlig zufällig“ gerade vorbeikommt, nimmt nicht nur das Heft in die Hand, sondern gibt der immer noch lebenden Frau den Gnadenschuss bzw. Fangschuss.
Dass ihr Witold damit noch lange nicht gehört – wenn er ihr je gehören wird (ja, er wird, aber WIE!) – ist klar; der Mord löst erst einmal eine Lawine von Problemen aus, und es müssen noch einige Leute dran glauben …
QUALITÄT
Die Idee, einen Kriminalroman einmal umzudrehen und aus der Sicht der Mörderin – bei Noll sind es immer Frauen – zu zeigen, ist eine ausgezeichnete Idee. Die tragische Gestalt der unglücklichen, zu alt und verschroben gewordenen Ungeliebten, aber zum ersten Mal richtig Verliebten, könnte den Stoff für eine Tragödie hergeben: Ingrid Noll macht aber etwas ganz anderes daraus, das zwischen Tragödie einerseits und den Übertreibungen des schwarzen Humors andererseits liegt.
Die Figur der Rosemarie Hirte ist keine unrealistische Figur; wie viele verknöchert gewordene Chefsekretärinnen und Sachbearbeiterinnen könnten sich in ihr wieder finden; wie viele haben auch Liebesqualen und Versagung zu ertragen; wie viele verlieben sich vielleicht sogar in gehobenem Alter endlich einmal richtig. Und doch: Wie viele lösen dann ihre Probleme durch Morde?
Allmählich bekommen die Morde im Buch einen anderen Charakter; vom zufällig geschehenen ungeplanten Mord – die Richter würden das wohl noch als Totschlag bezeichnen – über einen wirklich tragischen Mord am einzigen Menschen ihres Lebens, durch den sie wirklich Zuwendung und Freundschaft erfahren hat, bis hin zu kaltblütig und mit schneller Hand ausgeführten Morden zur Vertuschung der ersten Morde, erleben wir dann, wie die Morde immer übertriebener geschildert werden, wie dann und dadurch auch das Moment des schwarzen Humors allmählich an Gestalt gewinnt.
Die Leichtigkeit der mörderischen Hauptfiguren, die ihre späteren Romane auszeichnet, ist hier noch nicht vorhanden. Sie zeichnet – wohl in der Absicht, nicht mit oberflächlichen Groschenschriftstellern verwechselt zu werden – eine schwere, schwerblütige und schwerfällige Frau ohne Liebenswürdigkeit, aber mit einer Tiefe der Seelenempfindungen, dass es dem Leser wohl klar wird, dass es sich nicht um ein oberflächliches Buch handelt, dass es ihm aber auch schwer fällt, sich mit der schwerfälligen Mörderin zu identifizieren.
Die Sprache liegt weit über dem Niveau von reinen Bestsellern; das Geschehen findet nicht nur an der Oberfläche statt, sondern wird durch Gedanken, Beschreibungen und Querverbindungen ergänzt. Von hoher Literatur ist Noll allerdings fast so weit entfernt wie von Trivialliteratur: Sie liegt auf einer guten Mitte, die sie für den reinen Unterhaltungsleser ebenso lesbar macht wie für den Literaten.
Das Buch ist bei Diogenes erschienen und als Taschenbuch erschwinglich.
FAZIT
Ein guter Krimi aus Sicht einer Mörderin, der sich von einer tragischen Gestalt zu schwarzem Humor hin entwickelt. Er ist nicht ohne Niveau, stellt aber keine besonderen Anforderungen an den Leser. weiterlesen schließen
Bewerten / Kommentar schreiben