Pro:
- Kitschliebhaber werden Neuschwanstein lieben
Kontra:
- Es gibt vieles, das man eher gesehen haben sollte, wenn man in der Gegend ist
Empfehlung:
Ja
Wenn es Schloss Neuschwanstein nicht gäbe, müsste man es bauen lassen. Schon allein, damit die Hersteller von Schneekugeln nicht plötzlich scharenweise Insolvenz anmelden müssen und der Allgemeinheit zur Last fallen.
Für das weltbekannte Disneyland hat sich irgendwann ein schlauer Mensch die werbeträchtige Bezeichnung „The Magic Kingdom“ ausgedacht. Natürlich darf in einem zauberhaften Königreich auch ein Schloss nicht fehlen, und deshalb gibt’s im Disney-Reich als weithin sichtbares Wahrzeichen das Cinderella-Schloss. An das denke ich ganz unwillkürlich, wann immer die Rede auf Schloss Neuschwanstein kommt oder ich eine Abbildung davon sehe. Denn nie habe ich die Aussage einer amerikanischen Touristin vergessen, die, in einem TV-Beitrag nach ihrem persönlichen Eindruck des bayerischen Königsschlosses befragt, sinngemäß antwortete, das Original in Disneyland habe ihr besser gefallen.
Hätte ein Drehbuchautor sich das ausgedacht, man würfe ihm bestenfalls Einfallslosigkeit vor, die sich schlimmstenfalls mit dumpfem Anti-Amerikanismus paart. Nein, so etwas kann man, muss man nicht erfinden – es gibt sie eben wirklich, die Leutchen, die nur zu dem Zweck angetreten scheinen, aufs Trefflichste dem nationalen Stereotyp des ungebildeten, unkultivierten, ewig Kaugummi gnatschenden Cowboys oder -girls Leben einzuhauchen.
Denn Neuschwanstein mag ein historisierender, postmoderner Kitschbau sein, aber ein bisschen älter als das Aschenputtel-Domizil in Florida ist das Schoss, das König Ludwig II in den Jahren zwischen 1869 und 1886 für sich hat erbauen lassen, dann doch schon.
Ich selbst war in meinem Leben bislang zweimal vor Ort. Beide Male übrigens freiwillig, was insofern nicht selbstverständlich ist, als sich an Neuschwanstein die Geister scheiden – mich würde interessieren, wie viele der täglich bis zu 5000 Besucherinnen und Besucher (Quelle: wikipedia) die Schlossführung in Wirklichkeit nur jemand anderem zuliebe mitmachen. Ich selbst habe sie zweimal mitgemacht – einmal freiwillig, einmal fast freiwillig. Beim ersten Mal war ich selbst den Kinderschuhen noch lange nicht entwachsen, und den Abstecher zum Schloss, den meine Eltern damals allein mir zuliebe gemacht haben, rechne ich ihnen noch heute hoch an. Gut und gern 20 Jahre später hat es mich dann wieder ins Schloss Neuschwanstein verschlagen – ich war in der Gegend, hatte nichts Besseres zu tun und wollte, so meine ursprüngliche Absicht, mir den Innenhof des Schlosses ansehen, in dem damals gerade neues Verbundpflaster verlegt wurde. Das ist heute, da ich diese Zeilen schreibe, nun auch schon wieder ein paar Jährchen her, so dass ich nicht mehr genau sagen kann, wo mein Denkfehler damals lag.
Bevor ich mich versah, fand ich mich am Ende einer Warteschlange wieder. Mit Blick auf die Länge derselben wechselte ich allerdings flott ans Ende einer zweiten, kürzeren Schlange. In der standen nämlich englischsprachige Ludwig-Fans an, und die große Geistesgegenwart, die aus meinem Schlangenwechsel spricht, rechne ich nun wiederum mir an:. Es gibt wahrlich Orte, an denen es einem leichter fällt, alle Sinne beieinander zu halten. Neuschwanstein hingegen ist eine Stätte, die einem gehörig die Augen vernebeln und das Hirn verkleben kann. Oder war’s andersherum? Egal.
Neuschwanstein hat in gewisser Weise wirklich mehr mit dem Cinderella-Schlösschen im Disney-Königreich gemeinsam als mit irgendeinem anderen Schloss in good old Germany. Neuschwanstein haftet ein Flair von Themenpark an. Neuschwanstein stammt nun mal keineswegs aus der Blütezeit des Burgenbaus, sondern mit Neuschwanstein ist das ein bisschen so wie mit dem Circus Roncalli, von dem dessen Gründer Bernhard Paul einmal klug gesagt hat, Roncalli sage weniger darüber, wie Circus einmal gewesen sei, als darüber, wie der Circus aus guter alter Zeit in der Vorstellung der Roncalli-Besucher aussehe. Insofern sagt Neuschwanstein sicher auch mehr über seinen Bauherrn aus als übers deutsche Mittelalter. Das soll bekanntlich über weite Strecken hinweg ziemlich finster gewesen sein, und mit ziemlicher Sicherheit war es, zumindest in den langen Wintermonaten, reichlich kalt. Da dürfte es König Lu schon besser gehabt haben, denn der hat seinem Schlösschen eine Heizung und auch andere Annehmlichkeiten einbauen lassen, von denen die alten Rittersleut’ und ihre Minnefräuleins nur träumen konnten.
Genau das ist es auch, woran sich die Geister scheiden und scheiden müssen: Neuschwanstein ist einfach durch und durch unecht. Ein aus dem Boden gestampftes, pseudo-historisches Etwas, mit dem sich ein erwachsener Mann einen Traum erfüllt hat, den sonst nur kleine Jungen träumen. Mit anderen Worten: Neuschwanstein ist Beton gewordene Exzentrität – übrigens eine, die sich wohl auch bautechnisch nur unwesentlich von vergleichbaren Bauten in den Themenparks der Welt unterscheidet.
Das immense Besucheraufkommen ist schuld daran, dass einem Rundgang durch das Innere des Gebäudes stets etwas von einem Eilmarsch anhaftet: Ein Blick über die Schulter, den man beim Verlassen eines Raumes tut, fällt fast immer auf die Ankömmlinge der nächsten Besuchergruppe – Zeit für Fragen an den Führer und eingehendere Betrachtungen lassen die eng kalkulierten Taktzeiten also nicht zu. Entsprechend flüchtig sind folglich die Eindrücke, die man beim zügigen Durchschreiten der prunkvollen Gemächer gewinnt. Dem Versuch, dem flüchtigen Eindruck per Druck auf den Auslöser der eigenen Kamera Dauerhaftigkeit zu verleihen, sind übrigens enge Grenzen gesetzt: Fotografieren ist grundsätzlich eher unerwünscht, und gestattet sind Aufnahmen nur, wenn sie denn ohne Verwendung eines Blitzlichtes gemacht werden. Es versteht sich, dass die letzte Station der Tour geradewegs in einen Andenken-Laden führt, in dem Postkarten und Fotobände noch die konventionellsten Souvenirs sind. Mir persönlich hat sich übrigens besonders die bunt beleuchtete Tropfstein-Grotte ins Gedächtnis gebrannt, die sich Wagner-Fan Ludwig Zwo ins Domizil hat gipsen lassen.
Wen das Schloss wieder ausgespuckt hat, der kann entweder über die breite asphaltierte Straße talwärts nach Füssen gelangen, über die er wahrscheinlich schon hinauf zum Schloss gelangt ist, oder er kann die landschaftlich schönere Strecke nehmen, die durch die nahe gelegene Klamm führt – einigermaßen festes Schuhwerk, eine gewisse Schwindelfreiheit sowie ein etwas großzügigeres Zeitbudget sind allerdings unbedingte Voraussetzung; wer mit dem Reisebus nach Füssen gelangt ist und feste Abfahrtszeiten zu beachten hat, ist gut beraten, auch für den Rückweg die Straße zu benutzen.
Die aktuellen Eintrittspreise, Fotos vom Inneren des Schlosses und weitere Infos zu Deutschlands unangefochtener Nummer Eins unter den Pilgerstätten für Liebhaber grandiosen Kitsches finden Interessierte übrigens unter der Web-Adresse http://www.neuschwanstein.com.
R e s ü m e e
Kitsch as kitsch can: Neuschwanstein ist eine Art bayerisches Disneyland. Wer sich in Hotels in Las Vegas zu Hause fühlt und den Einrichtungsstil von Donald Trump und Siegfried und Roy schätzt, wird Neuschwanstein lieben. Wer ohnehin in der Gegend ist, sollte sich den kleinen Abstecher gönnen; eine Reise wert ist Neuschwanstein in meinen Augen aber nicht. weiterlesen schließen
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