Pro:
spannend bis zum Schluss, unterhaltsam, kritisches Bild von Polizei und Gesellschaft, kompetent übersetzt
Kontra:
Leser muss beim Szenenwechsel scharf aufpassen
Empfehlung:
Ja
Handelt es sich bei der Leiche im Eishaus des englischen Landsitzes Streech Grange um die sterblichen Überreste des Hausherrn David Maybury? Seit zehn Jahren fehlt von ihm jede Spur, und für die Dorfbewohner gibt es nur eine Erklärung: Phoebe Maybury hat ihren Mann umgebracht. Auch Inspector Walsh ist davon überzeugt, Phoebe endlich den Mord von damals nachweisen zu können. Doch schon bald stellt sich heraus, dass der Fund der Leiche nicht genügt, um das dunkle Geheimnis von Streech Grange zu lüften…
Die Autorin
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Minette Walters gilt seit 1992, als ihr Roman "Im Eishaus" veröffentlicht wurde, als die britische Königin des Krimis. Inzwischen hat sie rund ein halbes Dutzend weitere Romane geschrieben, die in 32 Sprachen übersetzt und mit Preisen ausgezeichnet wurden, darunter "Wellenbrecher" oder "Die Schandmaske". Mir ist Walters durch ihren halbdokumentarischen Schreibstil aufgefallen, der in dieser Form bei kaum einer anderen Krimiautorin zu finden ist. Sie lebt mit ihrer Familie in Hampshire, wo auch ihr erster Roman "Im Eishaus" spielt.
Weitere Romane:
Die Schandmaske
Die Bildhauerin
Dunkle Kammern
Wellenbrecher
In Flammen
Das Echo
Schlangenlinien
Handlung
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Es ebginnt, als der Gärtner des englischen Landsitzes Streech Grange in einem lange vergessenen Eishaus eine nicht mehr identifizierbare Leiche findet. Die drei Damen, die im Haus wohnen, sind beunruhigt. Natürlich muss die Polizei benachrichtigt werden. Au weia, geht das schon wieder los.
Das Anwesen befindet sich im Belagerungszustand: Festung oder Gefängnis – das ist die Frage. Vor zehn Jahren verschwand der Hausherr David Maybury spurlos, sein Schicksal konnte nie geklärt werden. Er ließ seine junge Frau Phoebe und die zwei kleinen Kinder Jonathan und Jane zurück, so dass ihnen nur das Haus blieb. Im Laufe seiner Ehe hatte er ihr ganzes Vermögen durchgebracht. Seitdem verdächtigen die Dorfbewohner von Streech Phoebe Maybury des Mordes an ihrem Mann.
Doch nicht nur die Dorfbewohner hegen diesen Verdacht. Als nun Inspector Walsh mit dem Fall der unbekannten Leiche in dem Eishaus aus dem 18. Jahrhundert betraut wird, sieht er endlich die Chance, Phoebe Maybury des Mordes an ihrem Gatten zu überführen. Denn damals vermochte er das Verschwinden Davids nicht aufzuklären – ein Makel auf seiner Liste der Aufklärungserfolge. Verbissen knüpft er an alte Zeiten an und setzt Phoebe am meisten zu.
Die Schrecken der Vergangenheit, insbesondere die damaligen Verhöre und nachfolgenden Repressalien seitens der Dorfbewohner, sind nicht spurlos an Phoebe vorübergegangen. Sie hat sich in dem Landsitz zusammen mit ihren Freundinnen Anne Cattrell, einer Journalistin, und Mrs. Diana Goode, einer Innenarchitektin, zurückgezogen. Die beiden Damen sind nicht nur die Patentanten ihrer Kinder, sondern auch die Treuhänder von deren Erbe, sollte Phoebe etwas zustoßen. Sie wohnen selbstredend mietfrei in den beiden Flügeln des Landsitzes und stehen Phoebe bei, wo es nur geht.
Die Dorfgemeinschaft lehnt diese ungewöhnliche Lebensgemeinschaft vehement ab und nennt die drei Damen Lesben und Hexen. Phoebes Kinder Jonathan, ein Medizinstudent vor dem Arztexamen, und Jane, die in London lebt, sowie Elizabeth Goode, Jonathans heimliche Geliebte, beobachten die Geschehnisse mit wachsender Sorge und müssen natürlich ebenfalls aussagen
Die Verhöre und Hausdurchsuchungen und Leichenbefunde ergeben herzlich wenig, stellt Inspector Walsh verbittert fest. Die unbekleidete Leiche im Eishaus lässt sich nicht identifizieren, weil alle mögliche Tiere daran waren. Sie kann aber erst etwa zwei Monate dort gelegen haben, also seit etwa Ende Mai, Anfang Juni. Aber wenn es David Maybury ist, wieso sollte er nach zehn Jahren zurückkehren? Denn es ist ja schlechterdings unmöglich, eine Leiche zehn Jahre lang zu konservieren, wenn man nicht gerade ein ägyptischer Einbalsamierer ist.
Sergeant Macloughlin, der aus Glasgow stammt und von seiner Frau wegen eines Kollegen verlassen wurde, ist mies drauf und lässt seine Wut unter anderem an der obstinaten Journalistin Anne Cattrell aus. Ja, sie vermag ihn sogar derart zu reizen, dass er sie auf den Mund küsst. Immerhin ist sie diskret genug, um ihm ein Disziplinarverfahren zu ersparen. Fortan hat sie bei ihm einen Stein im Brett, so dass er wirklich zuhört, wenn sie etwas zu sagen hat. Er beginnt, die Methoden von Inspector Walsh zunehmend infragezustellen, bis ihm schließlich sogar krasse Ermittlungsfehler auffallen.
Macloughlin beginnt nach Vermissten und Landstreichern zu suchen und wird schnell fündig. Ein Zeitablauf für die Ereignisse Ende Mai kristallisiert sich heraus, und sein Verdacht fällt auf die angebliche Witwe eines weiteren Verschwundenen. Doch da wird Anne von einem Unbekannten niedergeschlagen, und nur Macloughlins Wiederbelebungsbemühungen ist zu verdanken, dass sie den Angriff überlebt. Macloughlin beginnt, unter den Dorfbewohnern zu ermitteln…
Mein Eindruck
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Der Debütroman von Minette Walters wirkt wie das Drehbuch für einen britischen Land-Krimi: Die vielen Dialoge werden nur selten von kurzen Personen- und Gebäudebeschreibungen unterbrochen, so dass sich das Buch fast wie von alleine liest. In dieser routinierten Beschreibung durch Dialoge zeigt sich die Meisterschaft einer routinierten Journalistin und langjährigen Leserin der besten britischen Romane. Dass sie auch den schottischen Dichter Robert Burns schätzt, lässt sie durchblicken, als sie damit den Schotten Macloughlin charakterisiert.
Aber die Dialoge, die sich besonders in den Vernehmungen verdichten, bringen auch mit sich, dass hier kein ruhiger Erzählfluss von Beschreibungen dafür sorgt, dass Kontinuität und Ruhe dominieren. Vielmehr muss sich der Leser in Acht nehmen, dass er den schnellen Wechsel des Blickwinkels nicht verpasst, der unvermittelt und mitten im Kapitel auftreten kann.
Außerdem gelingt es der Autorin, durch diesen scheinbar vordergründigen Darstellungsstil, Unstimmigkeiten oder Fehler der Figuren zu verbergen. Nur ein geübter Krimileser merkt schnell, dass in Inspector Walshs Ermittlung etwas schrecklich auf die falsche Bahn gerät – oder gesteuert wird. Das Finale kommt ebenfalls recht überraschend, weil man es zunächst aus unbeteiligter Perspektive betrachtet und erst zusammen mit den Unbeteiligten versteht, was hier eigentlich los ist. Auf diese Weise wird der Leser hinterlistig vom Geschehen überrascht. Dieser elliptische Stil sorgt dafür, dass der Leser auf der Hut ist und wie ein Schießhund aufpassen muss, kein verräterisches Detail zu übersehen.
Drei Parteien
Die Bewohner von Streech House sowie ihre Angehörigen und Mitarbeiter sind die Verdächtigen, jedenfalls in den Augen der anderen beiden Parteien, der Dorfbewohner und der Polizei. Nun entwickelt sich in diesem psychologischen und soziologischen Spannungsfeld eine interessante Verschiebung. Sie basiert auf Macloughlins Entwicklung als Polizist und als Mann.
Eigentlich sollte man ja als Angehöriger einer Demokratie erwarten können, dass die Cops einigermaßen neutral ermitteln. Das ist jedoch keineswegs der Fall, wie Macloughlin zunehmend entdeckt. Vielmehr hat sich Inspector Walsh auf die Seite der Hexenverfolger gestellt und würde die drei Hexen am liebsten ohne Beweise, Anhörung oder Prozess auf den Scheiterhaufen schicken.
Eine derart negative Verdammung von Polizeiangehörigen als moderne Hexenjäger findet sich vor Minette Walters’ Debüt recht selten in der britischen Krimiliteratur. Die Hexenjäger wollen immer noch die selbständige Frau auf die Knie zwingen und ihre gesellschaftliche Stellung zerstören – alles um sich selbst zu erhöhen, sei es um eine Beförderung zu erzielen oder um ihr Ego zu stärken. Dass die drei ledigen Bewohnerinnen von Streech Grange dafür die optimale Zielscheibe abgeben, versucht Macloughlin vor allem Anne klarzumachen.
Auf der anderen Seite muss er seinem Vorgesetzten Walsh in den Arm fallen, der inzwischen Scheuklappen trägt und nur die drei „Hexen“ zur Strecke bringen will. Dass sich Walsh völlig auf dem Holzweg befindet, will dieser einfach nicht wahrhaben. Macloughlin braucht sein ganzes Standvermögen, um gegen Walsh zu bestehen und die eigentliche – und natürlich unerwünschte - Wahrheit ans Licht zu bringen. Bei einer zweiten Lektüre dürfte sich seine Entwicklung als das interessanteste Element des Buches erweisen.
Humor
Der Humor der Autorin ist von typisch britischer Schwärze und Grimmigkeit. Sgt. Robinson beispielsweise befragt die Dorfbewohner nach einem Landstreicher, und nur eine alte arthitische Lady scheint ihm die Wahrheit zu sagen. Ihre Andeutungen sind nicht gerade schmeichelhaft für die anderen Dorfbewohner.
Auch der Kneipenwirt macht seine Aussagen nur hinter vorgehaltener Hand und unter dem Siegel der Verschwiegenheit. Dass viele Andeutungen auf sexuelle Aktivitäten anspielen, lässt den Leser ebenfalls schmunzeln. Im Wald von Streech Grange muss nächtens einiges los sein, und dementsprechend viele Kondome werden gefunden.
Unterm Strich
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Ich habe diesen Krimi in nur drei Tagen durchgelesen, denn die Autorin wusste mich durch immer neue Überraschungen bei der Stange zu halten. Die Ermittlung führt zu etlichen Entdeckungen, doch es war mir nie klar, ob die Bewohnerinnen von Streech Grange wirklich so unschuldig waren, wie sie immer beteuern. Da gibt es einige verräterische Bemerkungen, auf die man achten sollte. Diese Ungewissheit baut bis zum Schluss eine Spannung auf, die erst in der letzten Szene aufgelöst wird.
Bemerkenswert fand ich die Entwicklung von Sgt. Macloughlin. Der Schotte wird von einem Unterstützer des Vorgesetzten Walsh zu einem seiner schärfsten Kritiker. Walsh, so findet er heraus, verfolgt eine private Agenda und tut alles, um die „Hexen“ von Streech Grange in Verruf zu bringen. Eine Hexenjagd, die schließlich ihren üblen Höhepunkt erreichen muss. Durch die subjektive Perspektive der Figuren kommt dieses Finale ebenfalls als Überraschung. Ich fühlte mich bestens unterhalten.
Fazit: volle Punktzahl.
Michael Matzer © 2008ff
Info: The icehouse, 1992;
MEINE AUSGABE: Goldmann, 2001, München; 349 Seiten, aus dem Englischen von Mechtild Sandberg-Ciletti; Preis: 10,00 DM; ISBN 978-3-442-45079-9 weiterlesen schließen
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