Pro:
Subtiler Schrecken in einem wahrhaft phantastischen Film.
Kontra:
Entfällt.
Empfehlung:
Ja
Kurzinfo für Ungeduldige
In einem ehemaligen Waisenhaus gehen die Geister einiger Kinder um. Die neue Eigentümerin wird mit den Schrecken der Vergangenheit konfrontiert, die sich durch ein aktuelles Unglück zu einer Tragödie summieren ... – Sehr ‚ruhiger‘, d. h. subtiler Gruselfilm der alten Schule, der mit einer vielschichtigen Handlung, der sorgfältigen Umsetzung, den fabelhaften Darstellern und einem ebenso genialen wie brutalen Finaltwist Maßstäbe für das Genre setzt: ein Meisterwerk!
Das geschieht:
Vor dreißig Jahren hat Laura das alte Waisenhaus am Meer verlassen. Sie denkt gern an die Zeit dort zurück, und als das Gebäude zum Verkauf steht, erwerben sie und Ehemann Carlos es, um hier ein Heim für behinderte Kinder einzurichten. Die Familie wird komplettiert durch den kleinen Simón, der nicht weiß, dass auch er adoptiert wurde und einem frühen Tod geweiht da seit seiner Geburt HIV-positiv ist.
Die Sanierung des einsam gelegenen Waisenhauses ist anstrengend, sodass sich die Eltern nicht so intensiv wie sonst um Simón kümmern können. Der beginnt mit unsichtbaren Freunden zu sprechen, die ihn zum ‚Spielen‘ ermuntern. Vor allem Laura reagiert darauf gereizt, was sie bitter bereut, als Simón nach einem Streit spurlos verschwindet.
Obwohl die Eltern alle Hebel in Bewegung setzen und die Polizei ihr Bestes gibt, bleibt das Kind verschwunden. Neun Monate später suchen Laura und Carlos weiterhin verzweifelt. In ihrer Not beginnt sich die Mutter zu fragen, ob Geister ihren Jungen geholt haben, denn sie wird des Nachts mit merkwürdigen Geräuschen konfrontiert. Ein Medium bestätigt die Heimsuchung, doch Carlos verweigert sich der Botschaft aus dem Jenseits und drängt auf Auszug und Neuanfang.
Laura lehnt ab. Sie ist einem schrecklichen Verbrechen auf die Spur gekommen, das vor über dreißig Jahren und noch vor ihrer Ankunft im Waisenhaus begangen wurde. Mit Hilfe der Geister vermag sie zu klären, was einst geschah, doch es bringt sie Simón keinesfalls näher. Was ihm geschah, findet sie dennoch heraus, und die Erkenntnis wird sie zerstören und gleichzeitig aufleben lassen ...
Triumph der altmodischen Geistergeschichte
Sie gilt als Relikt des 19. Jahrhunderts, obwohl sie – nicht grundlos – bis heute überlebte: die klassische Geschichte vom verwunschenen Haus. In Häusern leben wir Menschen immer noch, sodass es nach den Regeln des Genres logisch wirkt, wenn auch die Verstorbenen weiterhin in ihren Mauern umgehen. In der Regel sind die Geister der Jetztzeit indes weniger tragische Gestalten als auf Blut & Krawall gebürstet: Wen sie auf dem Kieker haben, bleibt selten unbeschadet.
Das gilt zwar auch für die Bewohner des „Waisenhauses“. Trotzdem hat ihr Schicksal wenig gemein mit den Spuk-Orgien, die in Geister-Spektakeln wie „Zimmer 1408“ ganze Armeen von Spezialeffekt-Künstlern und Technikern beschäftigen. Drehbuchautor Sergio G. Sánchez erzählt sehr behutsam vom Grauen, das allmählich und lange unbemerkt in die Realität einsickert. Regisseur Juan Antonio Bayona fand die dafür optimale Form der Inszenierung, die den Freund des ‚harten‘, d. h. plakativen Horrors vermutlich langweilen wird.
Dabei ist Guillermo del Toro, der „Das Waisenhaus“ produzierte und ermöglichte, zwar für bildgewaltige aber knallige Phantastik à la „Blade 2“ und „Hellboy“ bekannt. Mit „The Devil’s Backbone“ und „Pan’s Labyrinth“ stellte er freilich jene Subtilität unter Beweis, die auch „Das Waisenhaus“ prägt.
Manche Geschichten können nicht enden
Die Geschichte vom verfluchten Waisenhaus ist spannend, erschreckend und tragisch. Das ist bemerkenswert, da es die im Horrorfilm sonst übliche Trennung zwischen „Gut“ und „Böse“ hier nicht gibt: Der Schrecken ist zeitlos und kümmert sich nicht um die Frage einer möglichen Schuld. Laura und ihre Familie sind zur richtigen Zeit am falschen Ort und setzen eine Entwicklung in Gang, die sie nur bedingt steuern und verstehen können.
Die Geister des Waisenhauses sind Kinder. Sie gelten als ‚unschuldig‘, sind es freilich und in diesem Fall erst recht nicht. Trotzdem ist Strafe nicht der Grund für ihr Spuken. Sánchez und Bayona ignorieren das genretypische Motiv der Rache aus dem Jenseits. Kinder sind und bleiben Kinder, auch wenn sie tot sind. Sie möchten spielen und nicht allein sein. „Erlösung“ ist keine Option, die sie eingelöst sehen möchten. Nach den Konsequenzen ihres Tun fragen sie nicht. Die Erfüllung eines kindlichen Bedürfnisses geht vor. Erst als Laura dies versteht, findet sie den Zugang zur Geisterwelt.
Es ist ein langer Weg dorthin. Er wird geprägt von schmerzlichen Irrtümern, die sich zuverlässig einstellen, solange Laura und Carlos das Verschwinden ihres Sohnes ‚vernünftig‘ angehen. Die Logik wird verkörpert durch die Figur der Psychologin Pilar, die reich an Buchwissen aber arm an Erfolgen ist, wenn es gilt, die Ereignisse im Waisenhaus zu erklären.
Dein Doppelgänger als Spiegelbild
Pilar wird konterkariert durch Aurora, das Medium. Sie ist längst am Ende des Weges angelangt, den Laura noch gehen muss. Leider fallen ihre Erklärungen, die nachträglich den Kern des Dramas treffen, auf unfruchtbaren Boden.
Spiegelungen sind ein wichtiges Motiv für Regisseur und Drehbuchautor. Es gibt eine Vorlesungsszene, in der Professor Bálaban vom Phänomen des „Doppelgängers“ spricht. Er führt ein unabhängiges Leben und ist doch symbiotisch an sein ‚Original‘ gebunden. Die Begegnung mit dem Doppelgänger ist gefährlich; sein Erscheinen kündigt Gefahr an, die Konfrontation bringt nicht selten den Tod. Weil man diese Begegnung in der Regel erst nachträglich als solche erfasst, ist die Gefahr umso größer.
Im „Waisenhaus“ werden nicht nur Personen gespiegelt: Aus Simón wird Tomás, aus Laura wird Benigna ... Auch Situationen wiederholen sich. Als Laura begreift, dass sie die ‚reale‘ mit der Geisterwelt verknüpfen kann, richtet sie den ehemaligen Schlafsaal des Hauses so ein, wie er vor dreißig Jahren aussah. Sie selbst kleidet sich in die Tracht einer Waisenhaus-Angestellten. Es hilft ihr den Kontakt aufzunehmen, doch auch sie muss zu ihrem Schrecken erkennen, dass sie die eigentliche Warnung nicht verstanden hat.
Das Böse kommt auf leisen Sohlen
So lautet der deutsche Titel einer Sammlung von Storys des Schriftstellers Ray Bradbury, doch sie ist so genial, dass sie auch das Konzept des „Waisenhauses“ beschreibt. Selten sieht man heutzutage einen phantastischen Film, der anständig budgetiert ist und trotzdem fast vollständig auf Spezialeffekte verzichtet. Geräusche, deren Ursprung sich nicht orten lassen, ein Licht, das mehr verdeckt als offenbart, und eine Dunkelheit, die deutlich etwas verbirgt, können sie eindrucksvoll ersetzen. „Das Waisenhaus“ ist ein Film, dessen Schrecken vor allem im Kopf des Betrachters entsteht. Wirklich Schreckliches gibt es nur in wenigen Momentaufnahmen zu sehen. Die haben es allerdings in sich, ohne im Gefüge des sanftes Grauens fehl am Platz zu wirken.
Das Waisenhaus ist nicht nur Kulisse, sondern Zentrum des Geschehens und von ebensolcher Bedeutung wie die menschlichen Darsteller. Einmal mehr brechen Bayona und Sánchez mit dem Genre: Das Haus ist alt und staubig aber nicht unheimlich. Was hier geschah, ist tragisch, jedoch keine Ursache für einen Fluch. Neue Bewohner ohne die Hellsichtigkeit des kleinen Simón wären vermutlich niemals von Geistern behelligt worden.
Wenn „Schauspieler“ mehr als ein Ehrentitel ist
Der Verzicht auf offenkundiges Grauen muss durch schauspielerische Leistungen ausgeglichen werden. Hier stehlen keine farbenfroh geschminkten Grusel-Geister den ‚menschlichen‘ Darstellern die Show. Echte Schauspieler mussten her. Vor allem Belén Rueda als Laura ist in beinahe jeder Szene zu sehen – eine echte Herausforderung, die sie rundum überzeugend meistert. Fast ist man geneigt darüber erstaunt zu sein, spielt Rueda doch normalerweise in Seifenopern für das spanische Fernsehen. Als verzweifelte aber starke Laura ist sie eindrucksvoll, zumal sie nie ins Klischee des rasenden Muttertiers verfällt. Laura wächst mit den bizarren Anforderungen, die an sie gestellt werden, bis sie schließlich trotzdem zerbricht – und erneut einen Ausweg findet. Rueda unterstreicht damit die Wirkung eines Finaltwists, der zweifellos zu den besten gehört, den man – nicht nur einem phantastischen Film – in der letzten Zeit (und auch davor) sehen durfte. An die echte Erschütterung, die er (oder sie) daraufhin fühlt, wird sich der Zuschauer lange erinnern!
Fernando Cayo ist ein glaubwürdig überforderter Carlos, Roger Príncep in seiner Rolle als Simón keine Disney-Landplage, sondern ein Kind, an dessen Schicksal man Anteil nimmt. Eine angenehme Überraschung ist der Gastauftritt einer erschreckend fragilen Geraldine Chaplin, die als Aurora ein Medium ohne die üblichen Zuckungen mimt, die geisterhafte Besessenheit verdeutlichen sollen.
„Das Waisenhaus“ gehört zu den erfolgreichsten Filmen im spanischen Kinojahr 2007. Für 14 „Goyas“ wurde er nominiert, sieben hat er gewonnen – ein bemerkenswertes Ergebnis, ist der „Goya“ doch keine spezifisch dem phantastischen Film gewidmete Auszeichnung. „Das Waisenhaus“ trat mit ganz ‚normalen‘ Filmen in den Wettbewerb. (In Hollywood führte die Popularität zur üblichen Reaktion: Die Filmrechte wurden angekauft, ein US-Remake ist in Vorbereitung ...) Die Anerkennung ist gerechtfertigt und leicht nachvollziehbar, „Das Waisenhaus“ ein Film, dessen Klassikerstatus bereits jetzt gesichert ist.
Daten
Originaltitel: El Orfanato (Mexiko/Spanien 2007)
Regie: Juan Antonio Bayona
Drehbuch: Sergio G. Sánchez
Kamera: Óscar Faura
Schnitt: Elena Ruiz
Musik: Fernando Velázquez
Darsteller: Belén Rueda (Laura), Fernando Cayo (Carlos), Roger Príncep (Simón), Montserrat Carulla (Benigna Escobedo), Andrés Gertrúdix (Enrique), Edgar Vivar (Professor Leo Bálaban), Mabel Rivera (Pilar), Óscar Casas (Tomás), Mireia Renau (Laura als Kind), Georgina Avellaneda (Rita), Carla Gordillo Alicia (Martín), Alejandro Campos (Víctor), Carmen López (Alicia), Óscar Lara (Guillermo), Geraldine Chaplin (Aurora) u. a.
Label: Senator Home Entertainment (http://dvd.senator.de)
Vertrieb: Universum Film (www.universumfilm.de)
Erscheinungsdatum: 03.09.2008 (Leih-DVD) bzw. 29.09.2008 (Kauf-DVD, Limited Collector’s Edition, Blu-Ray)
EAN: 4013575542895 (Leih-DVD) bzw. 0886971664096 (Kauf-DVD) bzw. 0886972972893 (Limited Collector’s Edition) bzw. 0886973312193 (Kauf-Blu-Ray)
Bildformat: 16 : 9 (2,35 : 1 anamorph)
Audio: DTS 5.1 (Deutsch), Dolby Digital 5.1 (Deutsch, Spanisch)
Untertitel: Deutsch
DVD-Typ: 1 x DVD-9 (Regionalcode: 2)
Länge: 101 min. (Blu-Ray: 106 min.)
FSK: 16
DVD-Features
Aus Filmen, die sowohl von der Kritik als auch vom Kino-Publikum gerühmt werden, schlagen findige (= gierige) DVD-Labels gern zusätzliches Geld heraus. Die an sich tadellose Steelbook-Edition des „Waisenhauses“ enthält deshalb außer dem Film nur den Trailer, keine sonstigen Features.
Die bleiben der pompös „Limited Collector’s Edition” genannten 2-DVD-Version vorbehalten. Der zweiten Scheibe wurden ein „Making of“, diverse Interviews, entfallene Szenen, Featurettes, Casting-Tapes und Bildergalerien aufgebrannt, die man sehen kann aber nicht muss.
Einen Blick hinter die Kulissen gestattet auch die originale Website zum Film:
www.theorphanagemovie.com
Darüber hinaus existiert eine deutsche Website, die der Werbung den Vorzug vor der Information gibt:
www.daswaisenhaus.senator.de
(Copyright 13.10.2008/Dr. Michael Drewniok)
Dieser Text erscheint auch auf anderen Websites meiner Wahl - er wird durch meinen Namen identifiziert und bleibt dadurch - hoffentlich - auch für Faker-Sheriffs als mein geistiges Eigentum erkennbar, mit dem ich AGB-konform umgehen darf wie es mir beliebt. M. D. weiterlesen schließen
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