Pro:
die Musik, die Atmosphäre
Kontra:
nichts, wenn man musikalische Experimente mag
Empfehlung:
Ja
Pfingsten 2003: Es ist drei Uhr nachts, ich liege im Zelt und bin nicht gerade bester Laune. „Ich will, dass ihr alle gut drauf seid!“ schreit ein pubertierender junger Mann mit überschnappender Stimme, „Ich mache jetzt eine Flasche Tequila auf und dann will ich, dass ihr alle gut drauf seid!“.
Damit waren seine vier oder fünf ebenfalls gröhlenden Mitstreiter gemeint, vielleicht sogar der Rest der jugendlichen Meute, die auf der mit Zelten gespickten Wiese ebenfalls feierte, keinesfalls wir beide, ein guter Freund und meine Wenigkeit, die ein Festivalticket besaßen und „nur“ wegen der Musik gekommen waren. Wir bissen die Zähne zusammen. Kurz bevor uns der Kragen platzte, zeigte der Alkohol Wirkung. Um halb vier war endlich Ruhe. Am nächsten Morgen suchten wir uns einen anderen Zeltplatz.
Ob es wohl das war, dachte ich beim Anblick leerer Flaschen und noch leererer Mienen am nächsten Morgen grimmig, was Burkhard Hennen, Gründer und langjähriger Organisator, gemeint hatte, als er sich vorstellte, das Festival möge zum „Gegenentwurf zu den damals bereits etablierten Festivals werden und im Idealfall organisch die gesellschaftliche Entfremdung und Spaltung überwinden.“ (ein Zitat aus dem diesjährigen Programmheft) Wobei ich mich mehr und mehr fragte, was mit dieser programmatischen Bemerkung eigentlich gemeint war. Was zum Teufel ist gesellschaftliche Entfremdung? Und wenn da etwas gespalten war, muß es doch irgendeine Einheit gegeben haben, deren Wiederherstellung sich lohne? Und war nicht der Gedanke eines imaginären ancien regime, in dem irgendwann mal Sitte und Ordnung geherrscht haben, ein zutiefst konservativer, da seine Vertreter die Ursache für die Verwilderung der Welt in den Emanzipationsschüben der letzten 200 Jahre verorteten? Und wie soll die – von mir gar nicht erwünschte - Rückkehr „organisch“ über ein Musikfestival umgesetzt werden? Dazu noch über ein Festival innovativer Musik, die ohnehin kaum jemand hörte. Fragen über Fragen. Aber war ich nach Moers gekommen, um den Gründungsgedanken von 1972 zu überprüfen?
Ich war gekommen, um Musik zu hören und dieser Vorsatz ließ sich durch den Erwerb einer Festivalkarte leicht umsetzen. Karten für einzelne Konzerte lassen sich für das bis 2010 in der Regel viertägige und immer an Pfingsten stattfindende Festival nicht erwerben, nur Tages- oder Festivalkarten. Jeden Tag von Freitag bis Montag finden 6 bis 8 Konzerte statt, die meistens nicht länger als eine Stunde dauern. Erwerben kann man die Karten über den Vorverkauf, der über die Homepage leicht in Gang zu setzen ist, oder über die Tageskasse. Dabei ist kein weiterer Dienstleister dazwischen geschaltet. Alles findet direkt über das Festival statt. Der Kartenkauf lief bis auf kleinere Kommunikationsschwierigkeiten über die Jahre beinahe reibungslos. Noch besser: für die Dauer des Festivals darf jeder im Schloßpark in Moers kostenlos übernachten, der nah der schnuckeligen Altstadt gelegen ist. Für Besitzer einer Festivalkarte gibt es seit einigen Jahren sogar ein abgetrenntes und bewachtes Areal rund um das Festivalgelände, dieses Jahr kam - oh Glück!- ein Wagen mit sanitären Einrichtungen und man höre und staune, warmen Wasser hinzu, was den Aufenthalt erheblich angenehmer gestaltete. Bei gutem Wetter kann man die Zeit bis zum Programm (ca. 14 Uhr) im Park verbringen, bei Regen bieten sich genügend Cafes und Kneipen an, um den Tag zuvor noch einmal bei einem Kaffee Revue passieren zu lassen. Der falschen Gesellschaft – siehe oben - kann man mittlerweile also mühelos aus dem Wege gehen.
Auf das Festival waren wir gekommen, weil wir beide parallel eine verteufelte Vorliebe für Jazz entwickelt hatten. Ein Auslöser bei mir dafür war Helge Schneider gewesen, wirklich um mich geschehen war es bei den ersten Aufnahmen von Dizzy Gillespie und Theolonius Monk. Musikalisch ist es von dort zum Moers Festival ein weiter Weg, aber mit dem Interesse an Jazz wurde Stück für Stück meine bis dahin an Schlagermusik, Pop und Heavy Metal vollzogene Musiksozialisation aufgebrochen. Mehr und mehr öffnete sich neben der Welt leicht faßlicher Melodien und Texte eine andere Welt, in der bereits vorhandene Stücke neu sortiert, die Rhythmen komplexer wurden, die Bindung an die Melodie sich lockerte oder sogar ganz verloren ging. Man taucht ein in ein eigenwilliges, individuelles Verhältnis zu Zeit, Bewegung und Rhythmus und auf die Dauer vergeht das Befremdliche, das vorher Unhörbare verliert das Verstörende und wird verständlich...
(Wer den Unterschied einmal hören möchte, dem empfehle ich das Stück „Just A Gigolo“ in mehreren Versionen anzuhören und zu vergleichen - als Einstieg zum Beispiel Louis Prima vs. Theolonius Monk.)
Diesen Weg sollte man vorher in Ansätzen gegangen sein, denn auf dem Festival wird die Schraube noch etwas weiter gedreht. Es geht nicht in erster Linie im Jazz, sondern um neue Trends in improvisierter Musik, für die Jazz häufig genug nur noch (ein) Ausgangsmaterial darstellt. Deutsche Jazzmusiker wie den Pianisten Martin Sasse oder den Trompeter Peter Protschka, die normalen Jazz spielen, wird man also vergeblich suchen.
Die Konzerte selber finden in einem abgegrenzten Gelände in einem Zirkuszelt statt. Dort herrscht insbesondere bei gutem Wetter eine ruhige, freundliche, sommerlich-leichte Stimmung, bei der man auch hin und wieder ins Reden kommt mit anderen Leuten und sympathische Kontakte knüpfen kann. Dieses Jahr hat es leider am Freitag und am Samstag geregnet, in den ganzen Jahren war aber überwiegend gutes Wetter. Da diese Art Musik großes musikalisches Können verlangt, treten traditionell jedes Jahr dort hörbar sehr gute Musiker auf. Ein weiteres Charakteristikum ist die beinahe immer exzellente technische Aufbereitung der Konzerte. Den Klangmatsch, der auf Konzerten immer mal wieder nervt, gibt es in Moers nicht. Ich kenne den Klangmatsch auch erst sehr gut, seit ich in Moers war – denn seitdem habe ich einen unüberhörbaren Maßstab für Qualität.
Einen detaillierten Eindruck von der gehörten Musik zu geben – von einem Laien, für Laien- ist geradezu unmöglich. In der Regel beginnen die Tage mit gegen 14 Uhr mit unbekannteren Künstlern. Sehr genossen habe ich zum Beispiel das Konzert der niederrheinischen Bigband „The Dorf“, die eine gehörige Portion gitarrenlastigen Rock in ihre performance zu integrieren wußte. Gegen 20 Uhr spielen in der Regel die bereits etablierten Künstler, gegen 22 Uhr gibt es dann Musik, die zum Tanzen einlädt. Das Highlight der Tage waren für mich Igmar Thomas & The Cypher, die modernen Jazz mit einem Schuß Hip-Jazz versehen, präsentierten. (Jeder Besucher des Festivals wir natürlich mit dem ein oder andern Reinfall rechnen müssen, doch das gehört zur Natur einer solchen Veranstaltung.) Für genauere Eindrücke empfehle ich bei Gelegenheit auf die Homepage des Festivals zu gehen. Dort wird es bald eine Nachlese in Bildern und Videos geben. (http://www.moers-festival.de/), oder schlicht youtube. Und dann kam sie noch, die lebende Legende.
Im Vorfeld hatte etwas hin und her gegeben, als wir Freitag anreisten, waren wir davon überzeugt: Helge Schneider spielt nicht, er spielt nicht. Helges Absage bestätigte sich. Am Samstag wurde es dann angekündigt. Er spielt doch! Ornette Coleman, 1930 geboren, in erster Linie Saxophonist, Komponist und einer der großen Erneuerer im Jazz, die wichtigste Schnittstelle vom Modern zum Free Jazz, gibt sich die Ehre. Colemans musikalische Leistungen befördern ihn schon zu Lebzeiten zur historischen Figur; auch wenn er noch spielt. Wenn Winston Churchill plötzlich auf einem politischen Kongress auftauchen und eine Rede halten würde, könnte die Begegnung nicht kurioser sein. Und natürlich spannend. Was hat ein Altmeister auf so einem Festival noch zu sagen?
Zu diesem Konzert trudelt niemand erst kurz vor Beginn ein, das Zelt ist eine Viertelstunde vor Beginn gesteckt voll. Es wird aufgeregt gequatscht. Spannung liegt in der Luft. Als Coleman das Saxophon anbläst, weiß jeder: hier erlebt man einen ganz Großen seines Fachs. Nach einer Stunde war ich erfüllt von dem Gefühl, einem bedeutendem Zeitgenossen bei der Arbeit zugesehen zu haben. Die Musik geriet da beinahe zur Nebensache. Beinahe.
Warum die Wahl Anfang der siebziger Jahre letztlich auf Moers fiel? Ich weiß es nicht. Zufall ist es angesichts der sehr lebendigen niederrheinischen Musik- und Kulturlandschaft sicher nicht. 2011 jedenfalls fand das Festival bereits das 40. Mal statt. Organisator und künstlerischer Leiter ist mittlerweile Reiner Michalke, nachdem Burkhard Hennen 2005 die Fackel nach Streitigkeiten mit der Stadt und dem WDR weitergeben hatte. Seitdem hat sich einiges geändert. Mit Pepsi und Skoda sind zwei große Werbeträger für das Festival gewonnen worden und auch das Verhältnis zum WDR hat sich wohl unter der neuen künstlerischen Leitung wieder eingerenkt. Auch die Musik scheint mir in den letzten Jahren etwas hörbarer geworden zu sein, Auftritte, die ein größeres Publikum begeistern mehr, verstörende Improvisationstornados weniger geworden zu sein. Und das Campen für Leute ohne Festivalkarte kostet. Denn die Zeit kostenlosen Campens wurde mehr und mehr von Jugendlichem aus der Region genutzt, um sich zu treffen und mehrere Tage zu feiern. Eigentlich muß man sogar von zwei Veranstaltungen reden, einer kleinen für Musikfreunde und einer großen Party für die Jugendlichen aus der Region. Mit den Jahren haben sich viele Dienstleister gefunden, die diverse Alkoholika, Fertiggerichte, Kleidung oder schlicht und ergreifend Tinnef auf dem Festivalgelände feil bieten. Kirmes und Kammermusik – alles da.
Und das Fazit?
Das Festival war dieses Jahr von vier auf drei Tage gekürzt worden, deswegen war kurzerhand Helge Schneider eingesprungen, der dann doch wegen Erschöpfung absagen mußte. Dennoch war das Festival wieder eine Bereicherung. Drei Tage keine Termine, drei Tage gute Musik, drei Tage verbrachte ich ausnahmslos in der Gegenwart, im Hier&Jetzt. Die Revolution ist sicher abgeblasen, war vermutlich immer eine verblasene Idee, aus der gleichwohl etwas sehr schönes entstanden ist. Wer wollte dafür an den Veranstaltern schon Kritik üben, die sich redlich und erfolgreich bemühen, ein gut organisiertes und musikalisch beeindruckendes Festival auf die Bühne zu bringen?
Wir sind nächstes Jahr wieder dabei. weiterlesen schließen
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