Pro:
Hochpreisiger, überflüssiger Schnickschnack
Kontra:
Hochpreisiger, überflüssiger Schnickschnack
Empfehlung:
Ja
Wenn jemand – so wie ich – buchstäblich hinter zwei Bahndämmen aufgewachsen ist, also in einer Straße, die schnurgerade von Osten nach Westen ca. 1km von einem Bahndamm zum anderen führt, und dann auch noch im Norden und Süden von Hügeln abgeschirmt wird, der wird zwar in einem flammendtiefdunkelroten sozialistischen Biotop groß, aber den ereilt der Schock, wenn er dann zwecks Studium in eine Universitätsstadt kommt.
Eine Straße, in der es keinen Arzt oder Apotheker gab, keine Grundschule, keinen Kindergarten, keine Filiale der Post oder irgendeiner Bank oder Sparkasse, aber 5 (fünf) Kneipen.
Als der Allererste aus diesem Viertel habe ich zu Beginn der sechziger Jahre Abitur gemacht.
‚Liberale’ Zeitungen und Zeitschriften waren verpönt.
Ja gut, heimlich wurde ‚Pardon’ gelesen, aber eigentlich wurde sich nicht für die Welt da draußen interessiert.
Nur raus wollte jeder. Sowohl in die Welt als auch aus diesem Viertel.
Einige haben es über den Sport geschafft. Die Gebrechlichen unter uns werden sich noch die Fußballspieler Horst-Dieter Höttges oder an Günther Netzer erinnern.
Andere sind den ‚harten’ Weg durch die Institutionen marschiert und an ihrem sozialistischen Bewusstsein und Engagement gescheitert, treu der Devise ‚Links von mir ist nur noch die Wand’ und ins Ausland, respektive in die Selbständigkeit ‚geflohen’
Und dann kommst Du in eine neue Stadt, lernst neue Menschen und neue Zeitschriften kennen wie den ‚Stern’ oder ‚Zeit’.
Nun haben beide einen ungeheuren Nachteil:
Sie erscheinen an einem Donnerstag und müssen sofort und ohne jegliche Umschweife gelesen werden.
Verschieben ist nicht!!
Der Donnerstag fällt also für das Studium aus, vor allem weil es im ‚Weinkrüger’ als Mittagessen donnerstags ‚Königsberger Klopse’ für DM 1,89 gab.
Und wenn dann Deine Freundin auch noch MTA ist, also am Nachmittag des Mittwoch frei hat, verlängert sich das Studium nochmals.
Die ‚Zeit’ habe ich immer sehr gerne gelesen, auch sie sehr ‚partnerunfreundlich’ ist.
Das Format stört doch des öfteren, ob sie nun im Zug, im Flugzeug oder im Bett gelesen wird.
Sie befleißigt sich einer geschliffenen Sprache und bringt einige Dinge auf den Punkt, auch wenn man nicht mit der politischen Grundhaltung einverstanden ist.
Besonders erfreulich, dass dieses Wochenblatt sich gegen die Denglischierung der deutschen Sprache gestemmt hat.
Dies scheint nun vorbei zu sein.
Wer manchmal in einer, na ja mittelgroßen Zeitung zu Hause ist, fragt sich mitunter verträumt:
Wie geht’s wohl bei den ganz Großen zu?
Zum Beispiel bei der altehrwürdigen „DIE ZEIT“?
Ich hätte es nie erfahren, wäre mir nicht ein Katalog vom „ZEIT“-Shop zugeflattert.
Und meine erste unausgesprochene Frage war:
Warum fangen die jetzt auch mit dieser elenden Sprach-Mixtur aus Deutsch und Englisch an?
Also flugs im Internet nachgesehen und siehe da:
Auch im Netz gibt es all die guten Dinge, die gewiss auch der bedeutenden Redaktion das Tagwerk verschönern.
Die Adresse ist
http:// shop.zeit.de
Eine ziemlich logisch aufgebaute Seite, die sich sehr schnell aufbaut und auf der die verschiedensten Dinge – natürlich dem Anspruch der „ZEIT“ genügend - angeboten werden.
Man sieht es direkt vor sich:
Von Hamburgs Winden zersaust, betritt Giovanni di Lorenzo das Chefbüro. Den Designerschal mit Katharine-Hepburn-Bonmot ( 74,90 € ) wirft er achtlos auf einen hässlichen Stapel bemalter Porzellankacheln ( das Set zu 690 € ).
Lässig hockt er sich auf den sanft glimmenden Leuchtwürfel ( 199 €, ohne Sitzkissen ) und spielt zerstreut mit den zertifizierten Hundertwasser-Klötzchen ( 349 € )
Doch den gewaltigen Tatendrang eines Chefredakteur stillt das nicht!
Unruhig schreitet der aus Print und TV bekannte Journalist zum ( Achtung: Knaller als Wortspiel ) „ZEIT“los gestalteten „Paper Collector“ ( 49,90 € ).
Dies ist die Gelegenheit, endlich den eigenen Leitartikel auszuschneiden.
Nur womit?
Klare Sache: Mit der „ZEIT“-Schere für 45 €.
Denn deren Qualität erkennt man „gleich mit dreien der fünf Sinne“. Sie sieht gut aus und sie fühlt sich scharf an.
Was der dritte Sinn ist, verschweigt uns der Katalog.
Aber es kann kein Zweifel daran bestehen, dass eine so tolle Schere auch richtig lecker schmeckt.
Zählt der Gleichgewichtssinn eigentlich auch zu den fünf Sinnen?
Ganz sicher nicht bei denen, die vom Sommerwein im Abo-Vorteilspack kosten.
Der ist mit einem Fuselpreis 6,66 € nämlich schwindelerregend billig.
Wer sich also mal an unnötigem und maßlos überteuerten Schnickschnack delektieren möchte,
wer den Niedergang sprachlicher Eleganz und die Verwandlung derselben in einen unerfreulichen Mischmasch bewiesen haben möchte, und
wer sich damit zur ‚liberalen’ Elite zählen möchte,
dem sei diese, eigentlich sehr traurige Seite von ganzem Herzen empfohlen.
Und auch diesmal weise ich darauf hin, dass dieser Artikel auch auf anderen Plattformen, auch unter dem Namen des mir ehelich anvertrauten Weibs – cunda - erscheinen wird. Ebenfalls – auszugsweise und umformuliert - in etlichen Tageszeitungen, z.B. der NOZ oder dem KStA.
topfmops bedankt sich fürs Lesen und Bewerten und freut sich auf viele Kommentare. weiterlesen schließen
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