Alanis Morissette Testbericht

Fast 72 Minuten dauert der Nachfolger des Riesenerfolgs "Jagged Little Pill" von Alanis Morisette. Ein schweres Erbe hatte er anzutreten. Was die Verkaufszahlen betrifft, konnte er die Vorgaben nicht erreichen. Was aber die Qualität angeht, so hat "Supposed..." meine Erwartungen weit übertroffen.
Eigentlich war ich nämlich vom Erstlingswerk dieser einzigartigen Künstlerin gar nicht so begeistert wie manch Anderer, ich habe mir "Jagged..." noch nicht einmal gekauft. Sicher, Hits wie "Ironic" haben ungeheuere Ohrwurmqualität, nach mehrmaligem Hören konnten sich jedoch gewisse Abnutzungserscheinungen nicht verleugnen lassen. Trotzdem wollte ich Alanis Morisette im Auge behalten, alleine schon wegen ihrer außergewöhnlichen Stimme. Und hey, ich weiß nicht genau wie alt sie ist, aber doch noch ziemlich jung. Und in diesem Alter schon ein solches Album abzuliefern ist sicher nicht alltäglich und ließ auf noch mehr hoffen.
Als schließlich die erste Single der neuen CD veröffentlich wurde, war ich zunächst etwas enttäuscht. "Thank U" ist sicher ein sehr guter Song, wieder ein echter Ohrwurm, aber er hörte sich nicht besonders nach Weiterentwicklung an. Ich sah also keinen Grund "Supposed..." käuflich zu erwerben. Dann kam jedoch die zweite Single "Joining You" auf den Markt, ein Song, noch mitreißender, noch überraschender, noch lebendiger als "You oughta know", dem zweifellos besten Stück der ersten CD. Nun war ich doch gespannt und gönnte mir eine Hörprobe der ganzen CD. Und was soll ich sagen: Wow, ihr werdet nicht glauben, wie schnell sich diese Scheibe in meinem Besitz fand. Die Frau hat wirklich was drauf. Und sie ist tatsächlich nicht auf der Stelle stehen geblieben, hat nicht der Versuchung nachgegeben "Jagged Little Pill" zu kopieren, um ähnliche Erfolge zu erzielen, so wie das heute leider häufig der Fall ist. Sie traut sich statt dessen zu experimentieren, mit Stimme, mit Instrumentalisierung - und nicht zuletzt mit ihren Texten. Denn, nein, Silben müssen nicht unbedingt genau auf einen Instrumentalton passen. Dadurch wirken Texte oft so künstlich (damit meine ich nicht künstlerisch!). Alanis singt zum Teil sehr unorthodox, was manchmal - aber nur anfänglich - ein wenig befremdend wirkt und das Mitsingen erschwert, aber wer will solche Musik schon durch sein eigenes Unvermögen verunstalten? Auch muss ein Song nicht unbedingt nach dem üblichen Schema Strophe-Refrain-Strophe-Refrain usw. aufgebaut sein. Wenn Musik nicht mehr so vorhersehbar ist, wird sie doch erst interessant!

Meine Favoriten unter den 17 außergewöhnlichen Stücken sind "Front Row" - unheimlich funky und abwechslungsreich mit coolen Stimmeffekten -, "The Couch" - ein Song, der mit etwas seltsamer Percussion beginnt und sich immer weiter aufbaut -, "I was hoping" - ziemlich schräg und zunächst gewöhnungsbedürftig -, "One" - wohl so etwas wie eine Ballade, aber denkt bei Ballade bitte nicht an Bon Jovi´s "Bed of Roses" oder ähnliches, damit würdet ihr ziemlich falsch liegen -, "Would not come" und "So Pure" - beide Songs auch eher von der schrägen Sorte. Einzige kleine Schwachpunkte, falls man davon überhaupt sprechen kann, sind "Thank U" und das etwas konventionelle langsame Stück "Unsent". Aber bei 15 Meisterwerken kann man schon darüber hinwegsehen, dass die restlichen zwei Songs "nur" ziemlich gut sind.

Alanis Morisette beweist mit diesem Album: Frauen können Musik machen, kraftvolle und innovative Musik. Sie ist ein Jahrhunderttalent, das trotz ihrer einzigartigen Stimme - sie kann zwar nicht so toll eiern wie Mariah Carey und schafft sicher auch nicht das c```, aber ansonsten verfügt sie über eine wahnsinnige Bandbreite an Ausdrücksmöglichkeiten - nicht die Musik in den Dienst seiner Stimme stellt, sondern seine Stimme in den Dienst der Musik. Und so sollte es meiner Ansicht nach auch sein.