Alexanderplatz Testbericht

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Erfahrungsbericht von Raileigh

Das Alexanderplatz-Misstrauen

Pro:

-

Kontra:

-

Empfehlung:

Ja

Der Alexanderplatz war und ist einer der zentralen Plätze der deutschen Hauptstadt. Hier traf sich arm und reich, hier grenzte das Scheunenviertel mit seinen hauptsächlich jüdischen Einwohnern. Hier residierte der Polizeipräsident, hierhin versetzte Alfred Döblin seinen tragischen Helden Franz Biberkopf in seinem epochalen Roman \"Berlin-Alexanderplatz\".
Bis heute kommt der Platz von Döblin nicht los. Quer prangt in großen Lettern über der Fassade des Hauses, in dem einst die Treuhand die Reste der DDR verscherbelte Döblins Beschreibung vom Alexanderplatz des Jahres 1928, drei Jahre vor der Machtübernahme der Nazis. Döblin schreibt vom aufgerissenen Damm, unter dem die U-Bahn verlaufen soll, vom angrenzenden Viertel mit seinen vielen Häusern voller Menschen und davon, dass das nächste Jahr, 1929, noch kälter werden würde.
Damals kreischten die Straßenbahnen die Fußgänger an, heut hört man sie nicht, wenn sie mit zehn km/h über den Platz rollen. Damals dampfte die Fernbahn, wenn sie sich aus dem Bahnhofsgebäude heraus anschickte Berlin den Rücken zu kehren. Stolz stand die Berolina auf ihrem Sockel. Der Alexanderplatz, ein kleiner, überschaubarer Platz eingeklemmt zwischen Berolinahaus, Bahnhof und Kaufhaus Tietz und dem mit einer Nase am Alexanderplatz angrenzenden Scheunenviertel.

Was der Krieg nicht völlig zerstörte, zerstörte der schlechte Geschmack seiner Erneuerer. Wo das Scheunenviertel grenzte, thront heute das Haus der Presse. Im ersten Stock befindet sich das Restaurant Escados, das ehemalige Pressecafé. Ein meist volles, aber sehr lukullisches Restaurant. Wuselnde Kellnerinnen mit adrett eingefrorenem Lächeln summen herum wie die Bienen, Steakmeister sausen mit tropfenden Fleischspießen durch die Gänge und lateinamerikanische Gitarrenduos spielen La Cucaracha, bis man sie mit Geld vom Tisch verjagt. An besonders kalten Tagen ist der Fettgehalt der Luft sichtbar, wenn sie durch die Ventilatoren in der Küche nach außen gelassen wird. Theoretisch müsste sie runterfallen, so dick wie sie ist.
Tatsächlich scheint sie sich hin und wieder ihren Weg in die Unterführung zu suchen, die vom Pressehaus unter der Karl-Liebknecht-Strasse hinüber zum Alexanderplatz führt. Die ungepflegten Fliesen, der dreckige Betonboden, die eingeschlagenen Werbefenster sind von einem klebrigen Film überzogen, was sicher auch darauf zurückzuführen ist, das hier nie jemand mit wirklichem Enthusiasmus sauber macht. Ein eiliges Fegen im Morgengrauen, mehr sollte man nicht verlangen.

Wer hält sich hier auch schon gerne auf, mal abgesehen vom unangenehmen Querflötenspieler, der am Aufgang zum Kaufhof steht und seit Jahr und Tag das selbe Repertoire mit Radiobegleitung herunterreißt. Wer dort regelmäßig lang muss, dem geht das ziemlich auf den Keks, aber das ist nicht das Unangenehmste an dem Mann. Unangenehm ist er nicht nur, weil sich zu seinen Füßen kleine Seen aus heruntertropfender Spucke sammelt, sondern weil ich ihn einmal dabei beobachtete, wie er einen russischen Musiker grob und unflätig verjagte, der es wagte, während seiner Abwesenheit an dessen Stelle zu stehen und zu musizieren. Sicher hat die Straßenmusikmafia feste Standorte verkauft und ähnlich, wie sich niemand erdreisten sollte auf einem fest organisierten Straßenstrich freischaffend zu arbeiten, gibt es auch in diesem Bereich Gesetze und Regeln. Aber sie müssen mir ja deshalb nicht gefallen. Oder?

Ich kann mich noch erinnern, wie es schallte in den Unterführungen, wenn die Zeitungsverkäufer ab 16.00 Uhr mit lauter Stimme verkündeten: \"BeeeeeZettaaaaam Aaaaaaabend\". Heute heißt das Käseblatt \"Kurier\". Es war ein typisches Geräusch in Berlin. Noch immer schwebt ein Geräusch über den Alex, das so ist, dass manche es einfach überhören, ein langanhaltendes Brummen, das mich immer an meinen Teddy erinnert, wenn ich ihn einmal im Jahr vom Schrank hebe, um ihn vom Staub zu befreien. Verursacht wird es von einem dicken Mann, der in einer viel zu kleinen Holzkiste sitzt und Lose anpreist. Das Brummen ist schon von Weitem zu hören, der Besitzer allerdings erst auszumachen, sobald man sich in der Nähe des Eingangs zur Saturnfiliale befindet.

Schaut man bei Saturn um die Ecke, auf die Häuser mit dem Döblin-Zitat\" so könnte man auf dem Dach die neuesten Nachrichten lesen. Dort ist ein riesiger Bildschirm installiert, der Werbung und News zeigt. Allerdings hat er im Laufe der Jahre seine Pixel verloren und ausgedehnte Flächen sind nur noch tote Fenster. Zeitweise schalten die Betreiber den Bildschirm ganz ab, was zur Folge hat, das weniger Menschen miteinander kollidieren.

Neben Saturn befindet sich Apollo-Optik. Dort habe ich mir mal vor geraumer Zeit eine Brille anfertigen lassen. Die nicht mehr ganz als Jugendlich durchgehende Frau passte mir das Gestell an. Entsprechend den warmen Außentemperaturen trug sie einen Ausschnitt für zwölf Personen, auf dem sich wegen der gut klimatisierten Innenraumatmosphäre die Oberfläche einer gut gerupften Ente ausmachen ließ.
\"Glauben sie gar nicht, ich wüsste nicht, das man mit ihrer Sehstärke nicht noch genug erkennen kann\", fauchte sie mir leise zu, als sie am Bügel der Brille herumbog. Freundlich nahm sie mir das Gestell vom Kopf, nicht ohne die Gelegenheit wahrzunehmen, unsanft an meinem Ohr zu reißen. Sie bog die Brille zurecht, setze sie mir wieder auf. Ich sagte nichts und genoss still.

Weitere Dinge, die eine extreme Größe aufweisen - davon gibt es auf den Alexanderplatz einige - nimmt man gewohnheitsmäßig viel schlechter wahr, als kleinere, überschaubarere. Ich nehme an, dass das menschliche Gehirn die Unmengen von Daten, die ein sehr großer Gegenstand benötigt, um sich in den Vordergrund der Aufmerksamkeit zu drängeln nicht richtig ordnen kann und sie deshalb einfach ignoriert. So sind der Fernsehturm, der Eifelturm oder das World-Trade-Center, als es das noch gab, viel besser zu begreifen, wenn man sie aus möglichst großer Entfernung betrachtet. Den Fernsehturm aus der Sicht des auf die Stadtautobahn Einfahrenden zu sehen, besitzt viel heimatlicheres, als an seinem Fuße zu stehen, sich den Hals zu verrenken und auf die Preise zu achten, die sich die Touristengruppen in allen Sprachen, die der Planet zu bieten hat, zukreischen. Außerdem kann es einem wirklich das Panorama versauen, wenn man auf einem der höchsten Wahrzeichen einer Stadt steht, prima Panoramafotos schießt und am Ende das Wahrzeichen selbst nicht mit drauf ist. Immer wieder kommen Bratwurstgazetten, wie BZ und Kurier, aber auch Regionalsenderattrappen wie TV-B auf die Idee mit dem Berliner Volksmund um sich zu werfen und Bauwerke, wie den Fernsehturm, als \"Telespargel\", den Funkturm als \"Langen Lulatsch\", das Haus der Kulturen der Welt als \"Schwangere Auster\" und das Kanzleramt als \"Waschmaschine\" zu bezeichnen. Man behauptet dabei dem Volk aufs Maul geschaut zu haben. Erstaunlich was sich Zugereiste alles einfallen lassen, um sich als Einheimische zu tarnen. Tatsächlich redet keiner vom \"Telespargel\" der noch alle beieinander hat.

Da man sich, wie ich bereits erwähnte den Hals ausrenken muss, um den Turm zu sehen, nimmt man ihn weniger wahr als beispielsweise die Galeria Kaufhof. Das Haus steht an der selben Stelle, an der einst das Kaufhaus Tietz residierte. Bei der Gestaltung der Fassade des ehemaligen Centrum-Warenhauses am Alex, hat sich mal jemand Mühe gegeben, der absolut und überhaupt keinerlei gestalterischen Geschmack besaß. Diese Leistung wird bis heute anerkannt, denn niemand macht sich die Mühe, das zu korrigieren. Ich spekuliere, das sich heutige Gebäudedesigner nachts in Träumen wälzen und sich wünschen einmal derart von Talent befreit zu sein, wie der damalige Gestalter, und das obwohl sich auch heutige Architekten in dieser Hinsicht nicht scheuen brauchen, an die Öffentlichkeit zu treten und dies bedauerlicherweise auch tun.
Der große Quader wurde in der finstersten Zeit sozialistischen Bauwahns ersonnen und vollbracht. Mit seiner metallenen Spitztütenummantellung sieht er aus wie eine überdimensionale auf links gedrehte Eierverpackung, die selbst interstellaren Katastrophen Solidität und Schutz entgegenzustellen scheint.

Es ist völlig egal zu welcher Zeit man dort einkehrt. Voll ist es immer. Ob in der Leckerlie-Abteilung im Erdgeschoss, wo man sich Käse kaufen kann, der dem bei Lafette durchaus das Wasser reichen kann oder im Selbstbedienungsbordrestaurant Dinea im Obergeschoss. Auch im Internetbereich kann man Zeit totschlagen, so man brutal genug ist etwas so wehrloses totschlagen zu wollen. Die Galeria Kaufhof ist ein typischer \"Hier-gibts-alles-Platz\". Wer nicht nach speziellen Dingen sucht kann dort so ziemlich jeden Rotz kaufen, der ihm an Leib oder im Haushalt noch fehlt.
Es gibt Sternguckerrohre und digitale Kameras, es gibt richtig lecker Damenunterwäsche, aber auch die klassische Ballerbuchse, Boxershorts und Tangaschlüpper, Spielzeug für jede Altersklasse, Schreibwaren, Bücher, Tonträger, Sachen die passen, Sachen die definitiv niemanden passen und Sachen, die zumindest in der Umkleidekabine noch gepasst haben. Preislich sollte man allerdings wissen, was man sich zutrauen kann. Ich habe dort vor wenigen Jahren eine Jeans gekauft, die mich 79 DM kosteten. Jetzt sind sie futsch und ich hätte gern noch mal solche Hosen. Nur kosten sie jetzt 109 Euro, und das obwohl ich heute sicher nicht doppelt so groß bin, wie damals. Ich vermute, das der Kampf gegen die Ausbeutung in der Dritten Welt Fortschritte gemacht hat. Kinderarbeit ist mittlerweile doppelt so teuer. Manchmal schneidet man sich mit seinem Engagement glatt ins eigene Fleisch.
Wer einigermaßen ruhig das Haus verlassen will, sollte an der Kasse, noch bevor die Verkäuferin den Mund öffnet ein deutliches und markiges \"Nein!!!\" erklingen lassen, dann unterlässt sie die lästige Frage nach der Paybackkarte und versucht dem Kunden auch keine aufzuschwatzen.

Eine Hürde, die jeder nehmen muss, wenn er das Kaufhaus verlässt, ist die elektronische Türschranke, die immer dann piept, wenn etwas nicht bezahlt wurde oder der Rechner seinen schlechten Tag hat. Dann kann es passieren, dass man seinen Rucksack, seine Tasche, seinen Koffer auspacken muss, um schließlich eine angerissene Tube Fußpilzsalbe aus der Apotheke auszupacken, die einen artverwandten Code besitzt und mit spitzen Fingern vom Sicherheitsmann entsichert werden muss.

So sehr man sich auch bemüht, vor dem Kaufhaus entgeht man ihnen nicht, den lästigen auf die Schulterklopfern und Handhinhaltern. Wenn nicht gerade ein Weihnachtsmarkt oder ein ihn in seinem Abwechslungreichtum tragisch gleichender Oster- Frühlings- oder Pfingstmarkt die eifrigen Sammler verschlingt, dann hat niemand eine Chance unbehelligt an ihnen vorbeizukommen. Ich rede von drei sich ähnelnden Spezies: den Punks, die dich um \"... ne Kleinigkeit zu essen\" anhauen, den Verkäufern der unlesbaren Obdachlosenzeitungen und den von peinlicher Armut an Zurückhaltung gebeutelten Klemmbrettträgern. Letztere fragen dich ab, ob du wahlweise Kinder, Tiere oder den Frieden der Welt magst. Alle drei Fragen sind strikt mit Nein zu beantworten, wenn man nicht mit einer Unterschrift unter einer Einzugsermächtigung seinen Weg fortsetzen möchte. Wer sich trotzdem auf ein Gespräch einlässt, dem sei ans Herz gelegt, das Menschen mit Klemmbrettern unbedingt angelogen werden wollen. Ein Freund von Douglas Adams musste mal einen Fragebogen auswerten, der im Internet aushing. Danach waren statistisch gesehen neunzig Prozent der Weltbevölkerung ihr eigener Chef und verdienten mehr als eine Million Dollar im Jahr. Schöne heile Welt.
\"Nein\" ist auch die präzise Antwort auf das Betteln der Punks, selbst oder ganz besonders wenn sie, wie ein glaubwürdiger Freund erzählte, als Gegenleistung sofortigen Geschlechtsverkehr anbieten. Bei dem Mann mit der \"Motz\" oder dem \"Streuner\" oder wie die ganzen Obdachlosenzeitungen heißen, muss man abwägen, ob ein \"Nein, hab schon\" ausreicht oder ob man zwei Euro übrig hat. Die Zeitung kann man fein zusammengefaltet unter die Eisenbahnbrücke legen, vielleicht will sich noch ein Penner damit zudecken.

Wer alle drei Antragsteller erfolgreich abgewimmelt hat, darf sich eine Rostbratwurst vom Grillwalker kaufen. Die Wurst ist köstlich, heiß und kostet 1,35 Euro. Der Grillwalker hat den Grill als Bauchladen vor sich zu hängen. Er vermeidet dadurch Standgebühr, muss das Gestell allerdings nach zwei Stunden absetzen, da das selbst ein trainierter Körper nicht länger schmerzfrei zu tragen vermag. Mit dem heißen Würstchen im Brötchen darf, den optischen Erschießungen des Motzmannes und der Bettler trotzend, gemütlich der Bahnhof inspiziert werden.

Auch dieses Gebäude besitzt einen für ihn typischen Klang. Er besteht aus einem Gong vor jeder Ansage, die die digitale Frau durch den Bahnhofslautsprecher säuselt. \"Achtung, eine Zugdurchfahrt\", \"Achtung, eine Verspätung\". Ich versuche mir vorzustellen, wie die Frau zur Stimme wohl aussieht und während ich überlege bleibt mein Blick auf einem Werbezettel liegen, der aus einer Zeitung gefallen auf den Fliesenfußboden im Bahnhof liegt. Die Telekom wirbt darauf mit ihrem digitalen Kotzbrocken Robert T-Online. Angehimmelt von der auch nicht viel attraktiveren Enie mit magentafarbenen Dutt. Ich beschließe, doch nicht wissen zu wollen, wie die Frau zur digitalen Durchsagestimme aussieht.
Der Gong hingegen erinnert mich an den Regulator im Wohnzimmer meiner Oma, in dem ich manchmal übernachtete. (Im Wohnzimmer, nicht im Regulator, ich bin schließlich nicht das siebte Geißlein.) Er weckte mich jede Stunde mit seinem Gong, der Regulator, doch wenn ihn meine Oma abschaltete konnte ich nicht einschlafen.
Was sein Aussehen betrifft, darf sich den S-Bahnhof Alexanderplatz getrost in den Eintopf deutscher Neubaubahnhöfe stürzen, aus dem gelegentlich eine Kelle über die Streckenabschnitte der Deutschen Bundesbahn ausgeschenkt wird. Unpersönlich, funktionell. Eine Einkaufspassage mit günstiger Verkehrsanbindung. Vom Zeitschriftenhandel über Apotheke, Reformhaus, Burgerking, Kartenkasse, Chinaimbiss, Süßwarenladen, Jeansshop und Anbietern von Taschentelefonen ist alles zu finden, was auf einem Bahnhof für zügigen Geldstrom sorgt. Der Gemüsehändler gibt sich multikulturell, sein Angebot ist global, von der israelischen Kakifrucht bis zur neuseeländischen Kiwi - schwierig wird es mit dem deutschen Apfel. Seine Verkaufspraktik findet in gebrochenem Deutsch statt, Kanakdialekt, sein Gespräch mit dem Kollegen im saftigen Berlinisch. \"Musst du kaufen Kohl für deine Manne zue Hause, du. Brauchst du Kohl, Hast du Liebe!\" - \"War ne lecker Braut eben, wat!\"

Natürlich besitzt ein moderner Bahnhof auch ein modernes Klo mit modernen Preisen. 50 Cent kostet der Eintritt den man bei einem kleinen Automaten an einem Drehkreuz zu entrichten hat. Wer es eilig hat und kein Kleingeld bereithält - Pech gehabt. Trockene Hosen gibt\'s gleich nebenan, auch auf Kreditkarte. Wenn Notdurft zu öffentlichen Luxusangeboten werden, ist es an der Zeit in die Drehkreuzautomatik zu pissen. Den Bahnhof darf man getrost wieder verlassen, noch ehe die Bratwurst kaltgeworden ist.

Wer aus dem Bahnhof auf seiner schmalen Seite tritt, erblickt die Weltzeituhr, ein seltsames Gebilde mit einem sich drehenden Kranz aus Zahlen, die die Zeitzonen der Erde darstellen. Anhand der unter dem Zahlenkranz ablesbaren Ortsnamen kann man erkennen, wie spät es an den verschiedensten Orten der Welt ist, so das für irgendwen gerade von Interesse ist. Die Weltzeituhr steht seit Jahren als markanter Treffpunkt für gewollte und zufällige Verabredungen. Eine zeitlang galt sie als Anbandelstelle für homosexuell Kurzentschlossene. Heute trifft sich diese Klientel an anderen Orten, wie in der einige Meter entfernten Kneipe unter den Schienen des Hochgleises.

Verlässt man den Bahnhof hingegen auf der vom Kaufhaus abgewandten Seite, so fallen einem zwei Bauwerke ins Auge. Der Fernsehturm und das Cubix, ein in einem gläsernen Quader untergebrachtes Multiplexkino, das als eine Art Kinokaufhaus das allgemein unattraktive Bild des Alexanderplatzes nicht sonderlich aufhellt. Hier kann der Besucher auf mehreren Etagen Popcorn, Cola und Illusionen kaufen. Wer hier ins Kino geht will nicht träumen sondern konsumieren. Hier versinkt man nicht in den Visionen von Erzählern und Darstellern - hier guckt man Film. Selbst eine bekennende Kinoheulsuse wie mich lässt ein Film, den ich im Cubix sehe kalt. Was sicher daran liegt, dass dem Cubix die Seele eines Kinos fehlt.

Im linken wie im rechten Flügel des Cubix haben sich Restaurants eingenistet. Links das T.G.I.Fridays, rechts das Café Dubinsky. Beide Läden belegen jeweils das Erdgeschoss und die erste Etage.
Bei Dubinsky kann man lecker Kaffee trinken. Alle möglichen und unmöglichen exotischen Kaffeesorten und kaffeeverwandte Getränke stehen auf der Karte. Eis gibt es in Hülle und Fülle, es schmeckt sogar und sobald die Tage wärmer werden, sitzt man draußen vor der Tür, hört den Tauben beim Gurren zu oder versucht das letzte verbliebene Stadtkaninchen zu entdecken, dass sich in den Sträuchern und Hecken rund um den Fernsehturm versteckt hält. Doch vorerst klopfen von der Baustelle der Alexanderplatzpassagen die Presslufthämmer wie durchgeknallte Spechte. Duftwolken vom qualmenden Asphalt überdecken den Kaffeeduft und manchmal fährt ein Bagger oder ein Transporter mit schweren Steinen zwanzig Zentimeter neben dem äußersten Sitz des Cafés vorbei. Ist das nicht schickstes Großstadtflair?

Und dann steht da dieser Fernsehturm im Weg, der mit seiner Eisenkugel in großer Höhe aussieht wie Pittiplatsch aus dem Kinderfernsehen. Für mich war der Fernsehturm seit meiner Kindheit nichts anderes als ein in die Höhe geschossener Kobold.
Im Fuß des Turmes, unter den schrägen, einst weißen Dächern, die mich an die Papierflugzeuge erinnern, wie wir sie in der Schule gefaltet haben, sitzt die regionale Fernsehpeinlichkeit TV-Berlin, über die ich soviel neckische Sachen berichten tät, besäße ich nur einen Anwalt, der mich hinterher wieder rausboxte. Das der Sender aus der letzten konkursbedingten Abschaltung heraustreten und neu lizensiert den alten Plunder weitersenden durfte, als wäre nichts geschehen, ist tragisch genug. Ich hoffe, es dauert nicht zu lange, bis hier das nächstemal das Licht ausgeht.
Bei denen, die versehentlich ins Programm von TV-B reingeschaut haben möchte ich mich hiermit in aller Form entschuldigen. So sind die Berliner nicht! Oder etwa doch?

Vom Fernsehturm will ich nicht viel berichten. Wer einmal hochgefahren ist, weiß Bescheid und wer nicht hochgefahren ist, weiß nicht viel weniger. Nur soviel: das Restaurant in der Kugel drehte sich einst in einer Stunde einmal um seine Achse. Mittlerweile hat man die Umdrehungszahl erhöht und ich befürchte, es werden nächstens Sicherheitsgurte installiert. Wenn die ersten Teller gegen die Fliehkraft gesichert werden, sollte man sich überlegen, ob man nicht besser in der Achterbahn isst.

Viel lieber als von oben, betrachte ich mir Berlin von den Parkbänken aus rund um den Brunnen mit den Wasserspielen. Hier turnte ich in krachledernd bekurzhost über die Schwellen des Brunnens, während mein Westonkel gönnerhaft mit Sarotti-Schokolade um sich warf. Hier hat mich mal eine Wespe ins Knie gefickt. Ich war zehn und es tat höllisch weh. Mein Onkel gedachte mich von meinen verheulten Leiden zu befreien. \"So\'n Stich muss ausgebrannt werden, damit das Gift sich nicht verteilt\", sagte er und fuchtelte mit seiner Ernte23 herum, bis die Glut abfiel und zwischen meinen Zehen landete. Er hat sich zwar tausendmal entschuldigt, aber irgendwie habe ich ihm trotz Sarotti niemals wieder richtig über den Weg getraut. Dafür habe ich ihm die halbvolle Ernte23 Schachtel aus der Tasche geklaut. Ich war zwar Nichtraucher, konnte mit den Kippen aber bei den Kumpels in der Klasse prima punkten.

Unmittelbar neben dem Brunnen erhebt sich die Marienkirche, eine alte, imposante und eigentlich recht große Kirche, die zwischen Plattenbauten und Fernsehturm hockt wie eine verschüchterte Schildkröte. Seit Jahren wird sie saniert, worauf das bunte Werbeplakat hinweist, das am Gerüst vor dem Kirchturm hängt. Mal hing Claudia Schiffer am Kirchturm oder war es Veronika Ferres? Ich weiß nicht mehr, jedenfalls eine dieser blondbusigen Megafrauen, die bei Dreivierteln der sich auf der Heteroseite befindenden Männerwelt Durchblutungsveränderungen im Unterleib verursachen. Mit derlei überflüssigen, aber geldbeschaffenden Gesichtern finanziert sich die Kirche die Bauarbeiten.

Der Neptunbrunnen gehört ins Bild des Alexanderplatzes. Unbedingt. Photos müssen hier geschossen werden. Berlin ist farbenfroh. Gelbe Japaner vor grünem Neptun, im Hintergrund das Rote Rathaus. Vor dem Rathaus stehen Käse-Karl, Fisch-Fred, Wurst-Wroni und Jurken-Justav. Manchmal wirkt auch noch Russen-Roman mit beim Markt. Der verkauft Militärartikel, die vom Laster gefallen sind. Ferngläser, Schappkas, Gürtel und natürlich Matrijoschkas mit Politikergesichtern. Lenin, Stalin, Breschnew, Gorbatschow, Jelzin, Putin und auch Bin Laden und Saddam Hussein habe ich schon gesehen. Als Holzpuppe zum Bauchaufschrauben, versteht sich. Das Rathaus ist gut bewacht, doch wenn sich mal nicht so viel Politprominenz herumtreibt, verirrt sich auch mal ein Wachmann auf den Markt und testet sich durch die Angebote.

Bevor ich den Alex Richtung Nikolaiviertel verlasse, schaue ich mich noch einmal um. Mein Blick schweift über das Glasdach des Bahnhofs und bleibt am Hotel hängen, das jetzt Park-Inn heißt. Warum es Park-Inn heißt und warum es vorher Forum-Hotel hieß, weiß ich nicht. Nur dass sich im Inneren ein Casino befindet, weiß ich. Dort könnte die Stadt genug Geld einspielen, um den Platz umzugestalten, in etwas lebendiges und der Stadt würdigeres.

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