Arbeitsmarktspolitik Testbericht

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Erfahrungsbericht von Nine19

Arbeitslosigkeit

Pro:

Der etwas andere Gesellschaftsbericht

Kontra:

-----------------------

Empfehlung:

Nein

*****Deutschland im Winter 2004****

7.02 Uhr. Der Morgen hat das altmärkische Land im Westen Sachsen-Anhalts noch nicht mit Helligkeit gesegnet. Und das obwohl doch bekannterweise im Osten die Sonne aufgeht.
Es schneit, der Wind bläst orkanartig und ich stecke fest. Mal wieder, wie schon so oft. Auf dieser Teilstrecke der Bundesstraße 71 Richtung Norden gibt es ein Stück, das als "langer Heinrich" bezeichnet wird. (Warum genau weiß ich allerdings bis heute nicht.)
Der lange Heinrich ist einige Kilometer lang, führt durch einige Dörfer mit strahlenden Häuserfassaden aber wenigen Einwohnern und schlängelt sich durch idyllische Wälder. Das Tückische am Heinrich ist, dass auf diesem Streckenabschnitt sehr häufig vollbeladene Lastwagen stecken bleiben und nicht gerade selten auch umkippen. Selbst im Sommer. Nun ist es wieder soweit und ich stecke mittendrin. Habe in dreißig Minuten einen Gesprächstermin in der Kreisstadt Salzwedel, mit einem Landtagsabgeordneten. Die Altmärker nennen ihn die "rote" Socke, ich nenne ihn Herr S.
Ich habe lange nach einem Politiker gesucht, der bereit ist über Deutschlands momentane Lage zu sprechen und über mögliche Lösungswege. Ohne Beschönigungen, die mit Zahlen gefälschter Statistiken belegt werden. Herr S. war bereit dazu, als einziger von mehreren dutzend Gefragten.
Und ich war naiv genug mich auf ein ehrliches Gespräch abseits der Parteipolitik zu freuen. Moment, der Verkehr fließt wieder.

7.30 Uhr. Habe es geschafft. Trotz aller Gerüchte: Ich bin pünktlich. Dieses Mal. Aber wo ist Herr S.?
Seine Sekretärin entschuldigt ihn und kündigt eine Viertelstunde Verspätung an. Er habe doch gestern einen langen Arbeitstag gehabt, bis weit nach Mitternacht. So so.
Sie können ja in seinem Arbeitszimmer auf ihn warten, flötet sie mir zu, bevor sie mich in das karge Büro schiebt. Nehmen Sie Platz, ich bringe Ihnen ein Käffchen, wie hätten Sie den denn gerne, bestimmt mit Milch und Zucker, kleinen Moment und schon ist sie aus demn Raum verschwunden und die Tür zu. Äh, ja, danke.
Erstmal umsehen. Also nach Arbeit sieht es hier wahrlich nicht aus: ein sperriger, weiß-lackierter Holztisch, auf dem sich ein graues Siemes-Telefon eingefunden hat (ob das auch manchmnal klingelt?), ein kleiner Bilderrahmen, der ein Bild einschließt auf dem ein älterer Herr mit Lachfalten und grau-melierten Haaren zu sehen ist. Neben ihm eine jüngere, blonde Frau, die ihre langen, sonnengebräunten Arme um zwei Kinder legt. Junge und Mädchen. Eine Familie wie aus dem Bilderbuch. Im Hintergrund ein wunderschöner Strand und azurblaues Meer. Ich liebe das Meer. Herr S. anscheinend auch. Naja. Auf dem Tisch steht einbe durchsichtige, gläserne Schale. Gefüllt mit Plätzchen. Und Pralinen. Appetitlich. Aber werde es mir verkneifen mich zu bedienen. Beim nächsten Mal vielleicht.
Ein trostloses Büro, nicht einmal Schränke finden sich, womit das Klischee des aktenwälzenden Lokalpolitikers widerlegt wäre. Nichts findet sich, was auf einen arbeitenden Menschen hinweisen würde.
An einer der kahlen weißen Wände hängt ein Plakat. So groß wie eine Zeitungsseite, in schwarz-weiß gehalten bis auf den roten Balken am unteren Ende mit den drei Buchstaben seiner Partei. Das Wahlplakat schreit seinem Betrachter entgegen: "Gegen Hartz IV! Für ein menschenwürdiges Leben! Hartz IV - ohne uns!" Zu sehen ist eine protestierende Menge. Montagsdemonstration. Das Bild ist schwarz-weiß. Die Welt ist schwarz-weiß. Im Prinzip hat sich seit der Wende nichts geändert. Bleibt also alles anders.
Es ist kalt, der Kaffee tut gut. Ist allerdings leider keiner von Senseo. Schmeckt die Kennerin.
Es schneit immer noch.

8.15 Uhr. Mit einer Dreiviertelstunde Verspätung betritt Herr S. sein Büro und bringt gleich Kälte von draußen mit. Fühlt sich die viel beschriene "soziale Kälte" auch so an? Gut möglich.
Verzeihung, Sie wissen ja, das schlechte Wetter der Vehr... Jaja Herr S. Habe ihm leider nicht gesagt, dass ich 100 Kilometer zu fahren hatte und pünktlich war. Trotz schlechten Wetters, viel Verkehr und umkippenden Lastwagen. Hätte ich mal besser tun sollen.
Was folgte war ein Gespräch, das ich in dieser Art eben nicht wollte: Wir als XXX wollen das Land retten, die Menschen schützen, Arbeit schaffen, Freiheit und Sicherheit für alle garantieren. Aha. Und wie? Und warum? Und was läuft hier überhaupt schief? Und wie sieht denn die Lage des Landes aus? Alarmstufe rot oder doch erst gelb? Und wieviele Arbeitslose gibt es? Vier Millionen oder doch sechs Millionen oder gar gerüchteweise sieben Millionen? Oder wie, jetzt rücken Sie doch mal raus mit der Sprache, Herr S.!
Nun ja, es sind sicherlich einige Millionen, aber an denen tragen wir als Partei (!!!!) keine Schuld, beschweren Sie sich doch da mal bei den Regierenden. Aber in Sachsen-Anhalt regieren Sie doch mit, Herr S.? Nun ja, man kann die Fehler der Bundesregierung als Bundesland nicht ausbaden. Aber Bayern hat im Vergleich zu Ihnen mehr Einwohner und dennoch eine niedrigere Arbeitslosenquote. Ach, und woher wollen Sie das wissen, junge Frau? Ich komme aus Bayern. Aaaaaaaaah so, da sieht die Sache natürlich schon ganz anders aus. Ach? Sie kommen ja nicht aus Ostdeutschland, Sie verstehen somit auch nicht die Seele des Ostdeutschen. Na, fühlt sich denn ein arbeitloser Ostdeutscher anders als ein westdeutscher, hat er andere Wünsche oder Bedürfnisse? Sie verstehen mich nicht, junge Frau, lassen Sie es uns gut sein und das Gespräch beenden.
Okay, aber eine letzte Frage noch: Während der letzten Wahl haben Sie damit geworben, Hartz IV zu verhindern, nun sind Sie im Landtag, Hartz IV kommt trotzdem, also Herr S., was ist da schiefgelaufen? Also junge Frau, Hartz IV ist ein Gesetz auf Bundesebene und da können wir als Landtag rein gar nichts dran machen. Aber werben dürfen Sie damit, ist das nicht Wahlbetrug? Nein, junge Frau, es ist ein Versuch, Deutschland zu retten. Mit Lügen? Sie wollten nur eine Frage stellen, danke für das Gespräch.

Die sogenannte Rettung in drei Zahlen:

rund 19 Prozent Arbeitslosigkeit in Gardelegen, 23 Prozent in Havelberg, laut einer Statistik der Agentur für Arbeit Stendal.

Und elf Prozent in Deutschland.

Arm ist das Land, das Helden braucht.




*****Deutschland im Frühling 2005*****


18.30 Uhr. Es ist Frühling, die Sonne glüht orange über den Feldern. Sie steht tief, als wolle sie die Erde küssen. Der Raps blüht. Es wird wieder wärmer, die Blätter grünen und alles ist in Bewegung und Wachstum. Demzufolge gibt es sie also doch, die "blühenden Landschaften" die einst CDU-Politiker und Altbundeskanzler Helmut Kohl versprochen hat.
Heute erwartet mich ein angenehmer Termin: Eine Jungunternehmerin expandiert - entgegen der Behauptung, die Wirtschaft höre das Wachsen auf. Und das auch noch im angeblich so schwachen Osten. Ein Wunder?

19.27 Uhr. Ich würde sagen Glück, antwortet Alexandra.
Seit fünf Jahren sei ihr Mann arbeitslos gewesen und sie hätte seit knapp zehn Jahren keinen Job mehr gefunden. Ich habe rund 3.200 Bewerbungen geschrieben, aber nicht einen Vorstellungstermin bekommen, wer will schon eine alte dreifache Mutter?
Alexandra ist die Inhaberin eines Geschäfts, das sowohl gebrauchte als auch neue Möbel an- und verkauft.
Wir stehen in einer 4.000 Quadratmeter großen Halle - die leer ist. Ich hätte Ihnen gern einige Stücke gezeigt, aber alles ausverkauft, die neue Ware kommt erst morgen.
Sie lächelt. Ich schätze sie auf 35. Danke für das Kompliment, 22 Jahre habe ich allerdings mehr auf dem Buckel.
Sie hätten also nur noch zehn Jahre, sagen wir, ausharren müssen und hätten dann problemlos in den Ruhestand treten könne, warum dann noch den risikoreichen Schritt in die Selbstständigkeit wagen? Natürlich haben mein Mann und ich uns darüber Gedanken gemacht, aber wir wollten immer in Form eines eigenen Geschäfts unser Ding durchziehen und nun haben wir uns unseren Traum erfüllt und es läuft!
Hatten Sie keine Angst, dass Ihr Projekt scheitern und Sie damit in die Insolvenz und Armut schlittern? Wissen Sie, wir waren schon so oft am Boden und wenn wir eines gelernt haben, dann immer wieder aufzustehen, bevor das Leben nachtritt. Letztendlich hatten wir auch nichts mehr zu verlieren.
Sie betreiben den Möbelverkauf erst seit einem Jahr und eröffnen nun an einem zweiten Standort, was freut Sie daran am meisten? Das wir zu unseren momentan zehn Mitarbeitern weitere sieben einstellen konnten, vorzugsweise Langzeitarbeitslose, so wie wir es waren.
Würden Sie den Schritt in die Selbstständigkeit ein zweites Mal gehen? Sie meinen trotz all der Schwierigkeiten, junge Frau? - Aber ja doch, ohne Zweifel.
Sie lächelt und im Osten geht erneut die Sonne auf.

Reich ist das Land, das solche Menschen hat.




*****Deutschland im Frühsommer 2005*****


Fast ein halbes Jahr gibt es nun Hartz IV. Die Wirtschaft stagniert immer noch, die Arbeitslosenzahl dümpelt bei nahe fünf Millionen, die Dunkelziffer bleibt allerdings auch weiterhin geheim.
Doch es geht ein Ruck durch Deutschland: Neuwahlen, endlich Neuwahlen. Endlich?
Aktien schießen in ungeahnte Höhen, das gab es wohl seit der New Economy nicht mehr. Und alle sind glücklich. Alle?
Einer Umfrage zufolge trauen 27 Prozent der deutschen, wahlberechtigten Bevölkerung einer Regierungskoalition von CDU/CSU gemeinsam mit der FDP zu, Deutschland vor dem Aufprall, direkt aus dem freien Fall heraus, aufzufangen und zu retten. Arbeit für alle. Wohlstand willkommen. 27 Prozent. Und der Rest?
Der Rest wartet auf einen Retter, auf einen Helden. Angela Merkel? Daran zweifeln die meisten. Aber wählen, ja, wählen wollen sie sie trotzdem.

Die Hoffnung stirbt schließlich zuletzt.

Ortstermin: Agentur für Arbeit, Haldensleben

Warum haben Sie gekündigt?
Nun ja, ich könnte sagen, dass ich zu zu viel garbeitet habe, für zu wenig Geld. Lassen Sie mich das erklären, sieben die Tage die Woche, mindestens 15 Stunden am Tag, für 500 Euro im Monat, 400 Euro für die Miete meiner Zweizimmerwohnung, 500 Kilometer im Monat beruflich mit dem eigenen Auto fahren ohne Kostenerstattung, habe Schulden gemacht um für diese Ausbildung hier her zu ziehen, Schulden um die laufenden Kosten zu begleichen und dennoch habe ich die letzte Woche eines jeden Monats gehungert, habe mich von Brötchen mit ein bisschen Butter ernährt, und nun, nun kann ich nicht mehr.
Haben Sie denn keine unterstützenden Zahlungen bekommen seitens Ihgrer Eltern oder einem Amt? Ach wo denken Sie hin, meine Eltern sind verschuldet und arbeiten, um Schulden zu begleichen. Und meine Ausbildung ist nicht förderungsfähig, ach mir fällt ein, ich habe doch Zahlungen bekommen, 14, 50 Euro im Monat, Wohngeld.
Und was werden Sie jetzt da Sie gekündigt haben, bekommen? 150 Euro im Monat. Ich hätte auf meine damalige Berufsberaterin hören sollen, die sagte mir, ich solle die Ausbildung ablehnen und in meinem Heimatort bleiben, förderungsfähige Schnupperpraktika machen für 290 Euro im Monat und Kindergeld und der Hoffnung eines Tages doch als Auszubildende übernommen zu werden.
Und warum haben Sie das nicht gemacht? Mensch, ich dachte, Mädchen, du hast einen Ausbildungsvertrag für deinen Traumberuf, warum solltest du das ablehnen und lieber Leistungen vom Arbeitsamt beziehen, nun ja, ich bin hochgeflogen und noch tiefer gefallen, ich konnte ja nicht wissen, dass man auch in Deutschland verhungern kann.
Sie hat aufgegeben. Mit 19 Jahren. Und ist nur eine von vielen.


Deutschland 2005. Sieben Monate Hartz IV, fast acht.
Die Menschen demonstrieren nicht mehr.
Haben sie die Hoffnung aufgegeben und resigniert?


Es ist nicht das Ende, es ist der Anfang. Uns steht ein heißer Sommer bevor.

Und Deutschland braucht mehr als nur einen Helden.

70 Bewertungen, 5 Kommentare

  • Cicila

    12.11.2005, 14:30 Uhr von Cicila
    Bewertung: sehr hilfreich

    Ein toller Bericht, der sehr traurig war, aber sicher voller Wahrheit. <br/>LG Cicila

  • Wegeno

    10.08.2005, 01:00 Uhr von Wegeno
    Bewertung: sehr hilfreich

    Zum glück gehöre ich noch nicht dem großen Heer der Hartz IV - Empfänger an, aber es kann ja fast jeden jederzeit treffen. Ich stimme dir absolut bei, wenn man eventuell die Flinte ins Korn wirf. Laß dich nicht unterkriegen. Gru&

  • Sina02

    09.08.2005, 16:49 Uhr von Sina02
    Bewertung: sehr hilfreich

    wünsche uns allen, dass sich doch noch was ändert und niemand verhungern muss. Im Moment gehts mir leider nicht anders, bis mein ALG Antrag bewilligt ist, werde ich wahrscheinlich schon wieder Arbeit haben. Im Moment finanzieren Mama und Papa all

  • TokeiIhto

    05.08.2005, 18:08 Uhr von TokeiIhto
    Bewertung: sehr hilfreich

    Traurig, sehr traurig aber wahr. Wage gar nicht daran zu denken, wie das mit schwarz / gelb weitergeht....Möge uns das erspart bleiben. ;-) VLG Wolfgang

  • anonym

    04.08.2005, 14:37 Uhr von anonym
    Bewertung: sehr hilfreich

    bericht. liebe grüße tammy