Mitternachtsfalken (gebundene Ausgabe) / Ken Follett Testbericht

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ab 10,56
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Erfahrungsbericht von mima007

Unterhaltsame Kriegsabenteuer in Dänemark

Pro:

sehr unterhaltsam & spannend, kenntnisreich beschrieben, faktenbasiert, heißes Eisen *Kollaboration* aufgegriffen; sinnliche Szenen; gut übersetzt

Kontra:

nichts

Empfehlung:

Ja

War in \"Die Leopardin\" Frankreich der Schauplatz der Ereignisse, so ist es diesmal das von Nazis besetzte Dänemark des Jahres 1941, in dem sich das Schicksal so mancher Agentin und manches Agenten erfüllt. Und ein unscheinbarer Oberschüler beginnt eine kriegswichtige Rolle zu spielen.

Der Autor
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Ken Follett, geboren im walisischen Cardiff, wurde durch die Verfilmung seines Spionagethrillers \"Die Nadel\" mit Donald Sutherland bekannt. Den internationalen Durchbruch erzielte er laut Verlag mit dem historischen Roman \"Die Säulen der Erde\" (1990). Auch sein Roman \"Der dritte Zwilling\" wurde verfilmt. Sein neuester Roman ist im September 2003 erschienen: \"Mitternachtsfalken\" spielt mal wieder im 2. Weltkrieg.

Handlung
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In Europa tobt im Jahr 1941 der Zweite Weltkrieg. In England, das von deutschen Bomberangriffen heimgesucht wird, fragt sich Hermia Mount, eine Agentin im Innenministerium, woher die hohen Verluste der britischen Bomberstaffeln rühren, wenn sie die deutsche oder dänische Küsten anfliegen. Haben die Deutschen vielleicht eine ähnliche Radartechnik wie die Briten entwickelt, obwohl die Auslandsagenten das Gegenteil behaupten?

Hermia Mount ist als Tochter eines Diplomaten in Skandinavien aufgewachsen. Aufgrund ihrer ausgezeichneten Sprachkenntnisse wurde ihr die Leitung der Auslandsgruppe Dänemark im Nachrichtendienst übertragen. Ihr Verlobter lebt im deutschbesetzten Königreich Dänemark: ein junger Pilot namens Arne Olufsen aus Jütland.

Aber Hermias Position in dem von Männern dominierten Geheimdienst ist keineswegs einfach. Als sie von dem Bruder eines britischen Piloten, Digby Hoare, erfährt, dass die deutschen Funksprüche eine Informationsquelle namens \"Freya\" erwähnen, nimmt keiner ihren Hinweis ernst, das heißt, keiner außer Winston Churchill, dem Premierminister. Digby Hoare und Hermia sollen herausfinden, was \"Freya\" ist. Doch Arne Olufsen lebt in Dänemark und alle Nachrichten an ihn oder von ihm werden von der deutschen Zensur durchgesehen. Hermia fliegt ins neutrale Schweden, in der Hoffnung, ihn treffen zu können: ein konspiratives Treffen, das für beide den Tod bedeuten kann.

Etwa zur gleichen Zeit, im Frühjahr 1941, stößt Arnes Bruder Harald, ein 18-jähriger Oberschüler, nahe seinem dänischen Elternhaus auf dem deutschen Militärgelände, an dessen Errichtung er selbst mitgearbeitet hat, auf ein neues unbekanntes Gerät: Es ist \"Freya\", die neuartige, dreiteilige Radarantenne, mit der die deutsche Luftabwehr die anfliegenden Bomber der Briten frühzeitig entdeckt und den Gegenangriff koordinieren und lenken kann. Das weiß Harald natürlich zu diesem Zeitpunkt nicht.

Erst als er seinen Bruder Arne besucht, um Flugstunden zu nehmen, nimmt ihn Arnes Kollege Poul Kirke beiseite, um ihn über diese Radarstation auszufragen. Harald fertigt eine Positionskarte und eine Gerätezeichnung an. Er verfügt über großes technisches Verständnis. Doch Kirke gehört der Widerstandsgruppe der \"Mitternachtsfalken\" an, die Hermia Mount in Dänemark aufgebaut hat. Kirke versteckt das Papier in seinen Bürounterlagen auf dem Fliegerhorst.

Doch leider hat die Pastorenfamilie Olufsen einen Feind, der sie befehdet: die Familie Flemming, die auf der gleichen jütischen Insel wohnt und wesentlich besser gestellt ist. Und Peter Flemming ist gar nicht gut auf Arne und Harald Olufsen zu sprechen. Eigentlich arbeitet er ja für die Verkehrspolizei in Kopenhagen, doch er wurde kürzlich von dem Nazi-General Braun und dem dänischen Polizeichef Juel der Sicherheitsabteilung zugewiesen.

Es dauert nicht lange und mehrere Hinweise führen ihn auf die Spur von Poul Kirke. Bevor er diesen festnehmen kann, riecht Kirke, was er vorhat und will im Flugzeug abhauen. Kaltblütig schießt Flemming den Flüchtigen mitsamt Flieger ab, so dass er brennend in den Boden donnert. Als Flemming kurz darauf in Kirkes Büro auf die Zeichnung der Radarstation stößt, fällt sein Verdacht auch auf Arne Olufsen, Kirkes Kollegen. Und über Arne führt Flemmings Weg, auf dem er eine blutige Spur von Leichen zurücklässt, zu Hermia Mount...

Werden die Briten jemals die Informationen über \"Freya\" erhalten, um Hitler stoppen zu können, der gerade Russland überfallen hat?

Mein Eindruck
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Dieser kurze Handlungsabriss kann lediglich andeuten, wieviel Action, menschliches Heldentum und spannende Agentenunternehmungen noch in diesem Buch stecken. Ich habe nur das erste Drittel skizzieren können. Die dreisträngige Handlung konzentriert sich besonders auf drei Paare: Hermia und Arne, Harald und dessen Freundin Karen Duchwitz sowie Peter Flemming und dessen \"Kollegin\" Tilde Jespersen. Um jedes dieser Paare ist ein Kreis von Nebenfiguren angeordnet. So tauchen unter anderem die jeweiligen Familienmitglieder, aber auch Premierminister Winston Churchill und der König von Dänemark auf.

In einem fein gesponnenen Geflecht von Aktion und Gegenaktion, Spionage und Abwehr, Wiedersehen und Wiederverlieren bewegen sich die Figuren auf einen furiosen Höhepunkt auf dem Schloss derer von Duchwitz zu. Nicht jeder erreicht lebend diesen Handlungspunkt. Doch wenn Harald Olufsen es schaffen sollte, den alten klapprigen Doppeldecker der Familie Duchwitz flottzukriegen, dann haben er und Karen eine winzige Chance, die Freya-Informationen nach England zu Churchill zu schaffen. Leider sind ihnen die Nazis und Peter Flemming dicht auf den Fersen. Und falls sie den Start schaffen sollten, gibt es immer noch die deutsche Flak und Luftwaffe...

Ein heikles Thema: Kollaboration

\"Mitternachtsfalken\" ist durchaus ein politisches Buch, da es ja ein für die Dänen heikles Thema aufgreift: die Kollaboration mit der deutschen Besatzungsmacht nach dem 9. April 1940, dem Tag des deutschen Überfalls, der binnen 24 Stunden abgeschlossen war. Dorfpolizist Per Hansen ist überzeugter Nazi-Anhänger, Geheimpolizist Peter Flemming ist ein willfähriges Werkzeug des deutschen Generals Braun und zudem ein Sadist, wie seine Geliebte, die Polizistin Tilde Jespersen, zu ihrem Bedauern herausfindet. Und dann sind da noch die ganz gewöhnlichen Verräter wie der Hafenzuhälter Luther, die für den eigenen Vorteil alles tun.

Follett arbeitet deutlich heraus, dass in manchen besetzten Ländern der Feind der Bevölkerung nicht nur die Kollaborateure in den eigenen Reihen waren, sondern auch die Ignoranz oder Kleingläubigkeit, aber auch gewöhnliche Selbstsucht. So glaubte beispielsweise kaum jemand an die Existenz von Konzentrationslagern, obwohl jüdische Verwandte in Deutschland schon längst nach Dachau usw. abtransportiert worden waren. Ein andermal denkt eine Bürgerin kaum an den verhafteten Widerstandskämpfer, bei dem Arne Olufsen sich versteckte, sondern nur daran, wie sie die nun leer stehende Wohnung möglichst schnell wieder vermieten kann.

Ein Deutscher darf es sich nicht herausnehmen, den dänischen Widerstand mit dem in Norwegen (Stichwort: Quisling, dem sprichwörtlichen Nazi-Kollaborateur) zu vergleichen. Follett tut dies ebenfalls nicht. Aber er liefert Fakten, die Vergleiche zulassen, sofern der Leser Bescheid weiß. Und die sogenannten \"neutralen\" Staaten wie etwa Schweden waren so neutral nun auch wieder nicht, wie sich im geschilderten Handlungsverlauf zeigt: Die Schweden lassen sich von den Nazis erpressen und liefern Informationen, mit denen sich die Widerstandskämpfer aufspüren lassen.

Erotik

Follett beherrscht auch die Darstellung privatester, ja intimster Szenen, die gegenüber den hochpolitischen und den Actionszenen einen harten Kontrast ergeben. Der Autor geizt nicht mit erotischen Darstellungen. Wie schon in \"Die Kinder von Eden\" schreut er keineswegs die Erwähnung von Brüsten, Schenkeln und sogar heißen Liebesszenen. Besonders verblüffte mich eine Liebesszene zwischen Hermia und Arne, bei der es heftig zur Sache geht. Kein Wunder: Die beiden haben sich seit einem Jahr nicht gesehen. Ihre heftige Vereinigung belegt die aufrichtige Sehnsucht nacheinander.

Sie steht im krassen Gegensatz zur Vereinigung zwischen Tilde und Peter Flemming: ein kalkulierter Ehebruch, wie es aussieht (denn Peter ist noch mit der pflegebedürftigen Inge verheiratet). Von Aufrichtigkeit keine Spur. Das entspricht ganz ihrer politisch-beruflichen Handlungsweise, wie es scheint: der Verrat an den freiheitlichen Interessen des eigenen Volkes zugunsten der eigenen, die mit denen der Nazi-Besatzer zur Deckung gebracht werden.

Die Übersetzung

Die beiden Übersetzer Till Lohmeyer und Christel Rost haben sich fachliche Beratung bei Alfons Wieshuber geholt. Zwar sagen sie nicht, in welcher Hinsicht sie seine Hilfe benötigten, aber wahrscheinlich hängt es mit Dänemark zusammen.

Das Buch ist schön gestaltet, und zwar nicht nur der Umschlag. Mehrere Illustrationen sind zu entdecken, so etwa auf jedem Vorsatzblatt für einen Buchteil. Sie stammen von Tina Dreher.

Unterm Strich
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Wie schon \"Die Nadel\" und \"Die Leopardin\" ist \"Mitternachtsfalken, der Name einer dänischen Widerstandsorganisation, ein spannendes Agenten- und Kriegsabenteuer, das jeden Leser, der etwas für diese Zeit übrig hat, mitreißen wird. Ein deutliches Zeichen, dass dies ein gut geschriebenes Buch ist - hier stimmen auch die kleinen, scheinbar unwichtigen Details, die aber die Glaubwürdigkeit der Story perfekt machen.

Und einige der geschilderten Ereignisse haben sich laut Autor wirklich zugetragen. So wird hier beispielsweise eine Erklärung für die englischen \"Bomberströme\" geliefert: Sie hängen eng mit \"Freya\", dem deutschen Radar, zusammen.

Mit \"Mitternachtsfalken\" ist Follett wieder ein Volltreffer gelungen, der an seine großen Erfolge wie \"Die Nadel\", \"Nacht über den Wassern\" sowie \"Die Leopardin\" erinnert. Die Zeit der Mittelalterschmöker à la \"Säulen der Erde\" ist wohl endgültig vorbei, denn die Mode der \"Name der Rose\"-Kopien ist längst passé.

Michael Matzer (c) 2003ff

Info: Hornet\'s flight, 2002; Lübbe, Bergisch Gladbach 09/2003; 543 Seiten, EU 24,00, ISBN 3-7857-2124-2,mit Illustrationen von Tina Dreher, aus dem Englischen übersetzt von Till Lohmeyer und Christel Rost

22 Bewertungen, 1 Kommentar

  • leuchttuermin

    30.05.2006, 00:43 Uhr von leuchttuermin
    Bewertung: sehr hilfreich

    Eine wirklich gute Buchbesprechung! Ich habe ja schon viele Folletts gelesen, aber dieser wird wohl der Nächste! ;-)