Tagebuch 1946-1949 Testbericht

Tagebuch-1946-1949
ab 15,50
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Erfahrungsbericht von Art_Decay

Flickenteppich

Pro:

absolut lesenswerte Textcollage

Kontra:

nicht vorhanden

Empfehlung:

Ja

Man kann Max Frisch aus vielerlei Gründen lesen und seine Werke lieben – oder auch nicht. Sei es, dass das dramatische Werk, denken wir nur an „Andorra“, einen bleibenden Eindruck (welcher Art auch immer) hinterlassen hat, sei es, dass wir seine großen Romane – „Homo Faber“, „Stiller“ und wie sie alle heißen – für großartige Werke einer universellen, kriegsunabhängigen Nachkriegsliteratur halten (oder in der Schule damit gequält wurden und sie seitdem abgrundtief verabscheuen). Wie dem auch sei, mich persönlich fasziniert weniger das fiktionale Oeuvre Frischs, sondern eher der Schriftsteller, der Mensch, das Individuum Max Frisch an sich.

Frisch, geboren 1911 in Zürich, wandelte in den ersten Jahren nach seinem abgebrochenen Germanistikstudium als freier Journalist durch die Welt, begann dann eine Ausbildung zum Architekten, diente im zweiten Weltkrieg als Kanonier und veröffentlichte nach einigen Dramen das hier zu rezensierende Werk, sein Tagebuch aus den Jahren 1946 bis 1949, ein zeitgeschichtliches Manifest sondergleichen.

Was mag einen Menschen dazu bewegen, sein Tagebuch zu veröffentlichen, und: warum führt man überhaupt ein solches? Macht das Sinn? Wer will das lesen? Mag sein, dass meine Vorstellungen vom Tagebuchschreiben einfach gnadenlos überholt waren, jedenfalls war ich positiv überrascht, wie wertvoll dieses Büchlein für mich geworden ist, wie sehr es mich motiviert hat, die Gedanken des Verfassers weiterzuführen, eigene Gedanken dieser Art endlich festzuhalten. Ich bin noch immer kein Tagebuchschreiber und bezweifle, dass ich jemals damit anfangen werde, aber immerhin hat sich (ohne irgendwie abgeschmackt klingen zu wollen, mir fehlen nur die präzisen Worte, falls es diese überhaupt geben kann) mein Horizont in dieser Hinsicht erweitert (Tatsache: es klang wirklich furchtbar. Hoffentlich muss ich das nie wieder schreiben.). Der langen Rede kurzer Sinn: in fremden Tagbüchern zu lesen, ist durchaus eine wertvolle Erfahrung.

Zurück zu Frisch: sein Stil ist klar, einfach zu lesen und äußerst stimmungsvoll. Wenn nun Max Frisch immer wieder im Café Odeon in Zürich (von dem ich übrigens genaueste Vorstellungen habe, ohne dass der Autor auch nur einmal erwähnt, wie es da aussieht) sitzt und das Zeitgeschehen Revue passieren lässt oder sich seine eigenen Gedanken spinnt, dann meine ich fast, daneben zu sitzen und ihm zuzuhören. Auch seine zahlreichen Reisen nach Deutschland, Italien, der Tschechoslowakei, Österreich, Frankreich oder Polen sind großartige zeitgeschichtliche Schilderungen, immer aus der Perspektive des neutralen Schweizers. Wie sagt Marcel Reich-Ranicki (der im Gegensatz zu Doris Lessing – wir erinnern uns vielleicht – durchaus brauchbare Buchumschlagrezensionskommentarausschnitte zu liefern vermag) so schön auf dem Buchumschlag: „Max Frisch praktiziert Moral ohne Predigt und Zeitkritik ohne Propaganda“, und das ist in diesen Jahren anscheinend eher eine Seltenheit. Auch seine Erzählung, wie er (als an der Grenze stationierter Soldat) das Ende des zweiten Weltkriegs erlebt hat, ist definitiv ganz groß, zudem seltsam bewegend und ganz ohne den moralischen Zeigefinger oder andere herbe Kritik auskommend.

Doch nicht nur die europäische Nachkriegswirklichkeit beschäftigte Frisch in diesen drei Jahren. Der Bau des Züricher Freibades, etliche Dramenentwürfe und Kurzgeschichten, einige philosophische Essays (auf jeden Fall lesenswert: „Du sollst Dir kein Bildnis machen“), Überlegungen zum Theater, zur Schriftstellerei, letztendlich zum Leben selbst, ein Filmentwurf und – auf keinen Fall zu vernachlässigen! – Frischs Begegnungen mit Berthold Brecht... die „Tagebücher“ sind ein wunderbarer Flickenteppich. Erst hier lernen wir Max Frisch kennen (Was man so als kennen lernen bezeichnen mag. Natürlich kennen wir ihn jetzt nicht und werden es auch nie können, selbst wenn wir alle seine Werke gelesen haben. Aber ein ungefähres Bild haben wir.) als einen überaus sympathischen, ja beinahe weisen Zeitgenossen, der mit offenen Augen, vorurteilsfrei durch die Welt schreitet. Und davon können wir noch was lernen.


Max Frisch – Tagebuch 1946-1949
407 Seiten - Taschenbuch
Verlag: Suhrkamp - von 1985
ISBN: 3-518-37648-9
ehemals 19,80 DM, jetzt wohl um die 10,- €

(Dieser Bericht ist auch bei www.ciao.com erschienen. Da heiße ich allerdings TFaust99)

15 Bewertungen, 1 Kommentar

  • morla

    14.10.2005, 14:34 Uhr von morla
    Bewertung: sehr hilfreich

    sehr hilfreich