Das Kartengeheimnis (Taschenbuch) / Jostein Gaarder Testbericht

ab 7,60
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Erfahrungsbericht von *sannah*

Spiel mit der Realität

Pro:

-

Kontra:

-

Empfehlung:

Ja

hDas Kartenspiel ist wohl eine der ältesten Möglichkeiten, mit denen der Mensch sich seine Zeit vertreibt – vielleicht einmal abgesehen von dem ältesten Gewerbe der Welt.

„Die Chinesen haben’s erfunden“, irgendwann im frühen Mittelalter (so um 700) und wahrscheinlich über die Sarazenen gelangten sie nach Europa, dort wurden sie 1377 erstmalig erwähnt. „Bube, Dame und König“ bilden dabei die mittelalterliche Hierarchie ab, die Zahlen kommen hinzu und natürlich das As. Die Gestaltung der Spielkarten variiert innerhalb Europas. Es gibt das „deutsche Blatt“ mit Eichel, Blatt, Herzen und Schellen (vor allem noch im Südosten der Republik verbreitet), was in dem in Deutschland verbreiteteren „französischen Blatt“ Kreuz, Pik, Herz und Karo entspricht.

Um dem täglichen Einerlei zu entfliehen, so habe ich es kürzlich gelesen, haben sich Soldaten im Krieg aus einem DinA4-großen Karton ihre Spielkarten selbst hergestellt – gleiches gilt beispielsweise für Häftlinge, denen der Besitz von Karten streng verboten ist. Diese selbsthergestellten Kartenspiele überstanden Leibesvisitationen nur durch besondere Verstecke, beispielsweise unter der Zunge (so klein waren die Karten).

„MauMau“ dürfte jedem Kind ein Begriff sein, andere bekannte Spiele mit 32 bzw. 40 Karten sind Skat, Doppelkopf oder Schafkopfen – regional bedingt. Weitere Möglichkeiten eröffnen sich mit 52 Karten, Rommé, Canasta oder Bridge, das man gerne Alte-Damen-Runden zuschreibt. Mangels Gesellschaft kann man sich auch Patiencen legen, auch auf vielen Computern sind solche Spiele installiert – beispielweise Solitaire.

Ein Kartenspiel mit 52 Karten plus Joker(n) spielt eine ganz große Rolle im Buch „Das Kartengeheimnis“ von Jostein Gaarder. Doch zunächst einmal geht es um eine Reise, laut hinterem Einband sogar um eine dreifache: „einer realen nach Griechenland, einer phantastischen auf die magische Insel und einer gedanklichen in die Philosophie“.

Nach einem (vielleicht leicht verwirrenden) nur halbseitigem Vorwort aus der Retrospektive der Hauptperson, Hans-Thomas (ich weiß nicht, ob dieser Name nur der deutschen Übersetzung zu „verdanken“ ist), beginnt das Buch zunächst ganz einfach mit einer Geschichte von Vater und Sohn, die aus Norwegen kommend, in einem kleinen Fiat durch ganz Europa reisen. Ihr Ziel ist Griechenland, denn in oder um Athen hält sich der Rest der Familie auf, die Mutter von Hans-Thomas hat sich vor acht Jahren dorthin abgesetzt, „um sich selbst zu finden“, und arbeitet dort als Model.

Die Reise durch Dänemark und Deutschland verläuft recht unspektakulär, Abwechslung bieten nur diverse Zigarettenpausen des Vaters, der früher zur See fuhr und vor dort diverse „Macken“ mitgebracht hat: er sammelt beispielsweise Joker aus Kartenspielen und fühlt sich auch selbst als ein solcher „Joker“, als uneheliches „Deutschenkind“ (sein Vater war eine deutscher Besatzungssoldat) im Nachkriegsnorwegen aufgewachsen, wird er von Kindesbeinen an ausgeschlossen. Außerdem hat er durch die lange Zeit auf See Interesse am Philosophieren gefunden, seine Erkenntnisse erörtert er häufig mit seinem Sohn. Ansonsten vertreibt sich dieser die Fahrt mit Comics oder Patiencen legen, Kartenspiele hat er durch die Sammelleidenschaft seines Vaters genug.

Das, was diesen Roman so phantastisch macht, beginnt erst in der Schweiz. Dort bekommt Hans-Thomas von einem Zwerg an einer Tankstelle eine Lupe geschenkt, bevor dieser den Vater eine Übernachtungsmöglichkeit nennt, die sich – wie sich später herausstellt – als großer Umweg erweist. In dem Ort „Dorf“ angekommen, stapeln sich für Hans-Thomas die Ungereimtheiten. Seine Lupe passt beispielsweise genau in die Kerbe des Goldfischglases, das in der Auslage der Dorfbäckerei steht – von eben diesem Bäcker bekommt der Junge später auch noch vier Brötchen geschenkt, in dem größten befindet sich ein klitzekleines Buch mit dem Titel „Die Purpurlimonade und die phantastische Insel“, dessen Buchstaben so klein sind, dass man sie nur mit der Lupe lesen kann. Oder ist das nur ein Zufall?

Hans-Thomas vertreibt sich die nachfolgende Zeit damit, sich in diese Geschichte einzulesen, heimlich natürlich, denn sein Vater darf nichts merken, und ist bald so fasziniert, dass er jede freie Minute nutzt. Diese Geschichte aus dem „Brötchenbuch“ bildet die zweite Ebene des Romans und handelt von der phantastischen Vergangenheit der Bäcker des Ortes „Dorf“.
Sie beginnt mit einem gestrandeten Seemann, dessen Phantasie auf einer „magischen Insel“ zur Realität wird. Die Spielkarten entwickeln plötzlich ein Eigenleben, sind allerdings von ihrem Schöpfer abhängig. Sie fragen nicht, woher sie kommen, leben einfach; das Wissen, das sie nur Produkte der Phantasie einer Person sind, würde sie ins Verderben führen. Der einzige, der sich dessen ansatzweise bewusst ist, ist der Joker, der erst später auftaucht. Doch die 52 Bewohner behandeln den Joker als einen Außenseiter, sie beäugen ihn kritisch, weil er ihre heile Welt ins Wanken gebracht hat. Um ihr unbefangenes Leben zu sichern, trinken sie „Purpurlimonade“ – doch sie macht die Bevölkerung lethargisch.
Doch ist diese Geschichte nur eine phantastische oder erhält sie Parallelen zur Realität, vielleicht sogar direkt zu Hans-Thomas’ Leben?

Am Ende des Buches fallen die drei Geschichten – die Reise nach Griechenland, die Reise im „Brötchenbuch“ und die Reise in die Philosophie, in die der Vater Hans-Thomas während der Fahrt einführt – in einer zusammen. Der Leser mag perplex sein ob des Finales, ungläubig den Kop schütteln, doch ich war in erster Linie eins: fasziniert.

Nach „Sofies Welt“ war „Das Kartengeheimnis“ das zweite Buch der Norwegers Jostein Gaarder, das ich gelesen habe, inzwischen kam ein drittes „Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort“ hinzu. „Das Kartengeheimnis“ würde ich als ein typisches Buch Gaarders beschreiben: philosophisch, die Realität in Frage stellend und vor allem zum Nachdenken anregend - stutzen, in sich selbst reinhorchen. Dazu fand ich es einfacher zu lesen als das mitunter doch recht trockene und theoretische „Sofies Welt“. Es ist kein Fantasyroman, sondern ein phantastischer Roman, der vom Leser auch eine gewisse Bereitschaft fordert, sich philosophischer Denkweisen zu öffnen. Vielleicht mag man anfänglich stutzen, warum die Kapitelüberschriften die Bezeichnungen von einzelnen Spielkarten tragen, doch im Laufe das Romans wird einem dieses und noch vieles mehr klar, wenn man sich darauf einlässt. Doch zumindest mir ging es so, dass man im Verlauf des Romans selbst Parallelen findet und gespannt ist, ob man mit seinen Vermutungen, was den Zusammenhang betrifft, richtig liegt.

Es ist eine Geschichte, auf die man sich einlassen muss, für Jugendliche und alle anderen ab 12 – faszinierend und absolut weiterzuempfehlen. Gaarder spielt mit den Karten, dem Leser und seiner Verblüffung, setzt Parallelen zur Realität, die einfach erstaunen. Es ist schwer zu beschreiben, ihr müsst es einfach selbst lesen, dann versteht ihr dieses und noch viel mehr...

„Die Patience ist ein Sippenfluch.
Es gibt immer einen Joker, der Blendwerk durchschaut.
Eine Generation folgt auf die andere, aber es geht ein Narr durch die Welt, dem der Zahn der Zeit nichts anhaben kann.“





Zum Autor:
Jostein Gaarder wurde 1952 in Oslo geboren und studierte Philosophie, Theologie und Literaturwissenschaften. Er unterrichtete danach 10 Jahre Philosophie am Gymnasium und in der Erwachsenenbildung. Mit seinen Erfolgsromanen „Kabalmysteriet“/ „Das Kartengeheimnis“ (erschienen 1990/ 1995) und „Sofies Velten“ / „Sofies Welt“ (1991/1993) erlangte er weltweiten Erfolg, es gelang ihm, sowohl Jugendliche als auch Erwachsene die Komplexität der Philosophie nahe zu bringen. Weitere Werke sind: „Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort“ (dieses Buch hat mich zum Weinen gebracht), erschienen 1996; „Der seltene Vogel“, eine Erzählung, (1997); „Das Leben ist kurz“ (1997)