Grand Prix Countdown Testbericht

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ab 4,52
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Summe aller Bewertungen
  • Unterhaltungswert:  gut
  • Informationsgehalt:  gut
  • Präsentation:  gut
  • Spaß:  sehr viel
  • Spannung:  viel
  • Romantik:  durchschnittlich

Erfahrungsbericht von T-Shirt

Zwischen dünnen Stimmchen und fehlendem Talent

Pro:

-

Kontra:

-

Empfehlung:

Nein

Jetzt ist es also doch passiert. Im dritten Anlauf ist Corinna May auf einer Welle des Mitleids zum Grand Prix Eurovision gespült worden. Nachdem sie schon einmal gewonnen hatte, dann aber disqualifiziert worden war, und nachdem sie beim zweiten Versuch dem "bösen, bösen" Spaßfraktionär Stefan Raab den Vortritt lassen musste, darf Deutschlands bekannteste Blinde die Republik nun beim Song-Contest im April in Estland vertreten.

Ganz so unverdient war ihr Sieg beim deutschen Vorausscheid nicht - das muss ich ihr trotz aller Abneigung, die ich gegen diese Person hege, durchaus zugestehen. Dass sie direkt nach ihrem Erfolg gleich wieder vor Betroffenheit triefend darauf hinweisen musste, wie "toll" die Woche mit all den anderen Teilnehmern gewesen sei, ist für ihr Auftreten absolut typisch. Das kann mögen oder auch nicht. Ich mag es nicht.

Darüber hinaus war an der Sendung, die die ARD am 22. Februar live aus Kiel übertrug, das gleiche wie im Vorjahr zu kritisieren. Moderator Axel Bulthaupt ist nach wie vor so spritzig und unterhaltsam wie eine verweste Küchenschabe, und die Telekom hat mit der telefonischen Abstimmung erneut das Publikum abgezockt. Nachdem zunächst alle 15 Teilnehmer zur Wahl standen, wurde im Anschluss eine zweite Telefon-Voting-Runde durchgeführt, an der die besten Drei aus Runde eins teilnehmen durften. Doppelte Abstimmung bedeutet doppelte Telefon-Gebühren. Bravo, Telekom – sehr geschäftstüchtig!

Aber wenden wir uns der Musik zu und damit zunächst den drei Erstplatzierten:

1. CORINNA MAY: I CAN´T LIVE WITHOUT MUSIC
Grand-Prix-Papst Ralph Siegel hat einen Song im pseudo-modernen Disco-Sound produziert, der auf europäischer Ebene aber durchaus seine Anhänger finden dürfte. Dass Corinna May eine großartige Stimme hat, ist bei aller Antipathie auch unbestritten. Leider hatten aber nicht nur die hübschen Background-Sängerinnen, sondern auch die komplette Bestuhlung in der Kieler Ostseehalle mehr Ausstrahlung als Corinna May. Zu ihrem armseligen Outfit wäre noch anzumerken: Blinde sollten sich nicht unbedingt alleine einkleiden - sie sehen nicht, was sie anziehen!!!

2. JOY FLEMING: JOY TO THE WORLD
Wie schon im vergangenen Jahr hat Joy Fleming wieder nicht gewonnen. Nachdem sie im Vorjahr aber eher an die Allwissende Müllhalde aus der TV-Serie "Die Fraggles" erinnerte, hat sie das getan, was man Corinna May auch nahelegen sollte: Sie hat ihr Outfit überarbeitet. Zweifellos hat Joy Fleming eine herausragende Stimme, aber der Song, den sie mit einem befreundeten Gospelchor darbot, erinnerte weniger an Popmusik als an amerikanische Kirchenprediger ... nur mit dem Unterschied, dass die Darbietungen bewusster Prediger etwas mehr Pep haben.

3. NORMAL GENERATION: HOLD ON
Dass es dieser Beitrag unter die Top-3 geschafft hat, lässt einen zweifeln: entweder an der Verlässlichkeit des Telefon-Votings oder am Verstand des Publikums. Der Auftritt dieser christlichen Popgruppe war der Tiefpunkt des Abends. In einem Einspiel-Film versuchten sie locker zu erscheinen, indem sie kindisch auf einem Sofa herumhüpften und Peinlichkeiten von sich gaben wie "Jesus find ich cool." Mit überschaubarem gesanglichen Talent ausgestattet stolperten sie durch eine öde Pop-Ballade und präsentierten eine Choreographie zum Weglaufen - irgendwo zwischen erster Tanzstunde und Kindergeburtstag.

... UND SONST? Widmen wir uns den restlichen Teilnehmern, die in der Reihenfolge ihres Auftretens abgehandelt werden.

DISCO BROTHERS & WEATHER GIRLS: GET UP
Der Song klang ein wenig wie der 15 Jahre zurückliegende Weather-Girls-Hit "It´s raining Men" und sehr stark nach "Jump" von den Pointer Sisters. Aber besser gut geklaut als schlecht selbst komponiert. Das Werk konnte sich hören lassen, und dass die stark übergewichtigen Sängerinnen in knallbunten Abendkleidern aufgetreten sind, lässt auf einen sehr sympathischen Hang zur Selbstironie schließen.

NINO DE ANGELO: UND WENN DU LACHST
Nino, der uns schon Ende der 80-er Jahre mit der Bohlen-Komposition "Flieger" ordentlich beim Grand Prix vertreten hat, lieferte mit seinem Beitrag ein echtes Bekenntnis zum deutschen Schlager ab - was nicht unbedingt schlecht sein muss. Aber seine Ballade, die sich thematisch um seine beiden Kinder drehte, war schlicht und ergreifend langweilig.

UNITY 2: YOU NEVER WALK ALONE
Hier wagten sich zwei unbedarfte junge Mädchen aus Westfalen auf die Bühne. Ihr Lied klang aber nicht wie die gleichnamige Fußball-Hymne, sondern erinnerte eher sehr stark an "We are the World" von USA For Africa. Eigentlich eine ganz hübsche Ballade, aber die Stimmen der beiden Protagonistinnen waren doch arg dünn.

MUNDSTUHL: FLEISCH
Das hessische Comedy-Duo präsentierte zwei Jahre nach "Wadde hadde dudde da" den einzigen komödiantischen Beitrag der Show. Der Titel, der musikalisch irgendwo zwischen Country und Reggae pendelte, sorgte immerhin für die schönsten Reime des Abends: Da kam „Mortadella auf den Tella" oder „das Genital vom Wal". Auch der Background-Chor konnte sich sehen lassen: Mehrere übergewichtige Kerle mit blonden Perücken und einer tanzbärmäßigen Performance. Stefan Raab und Guildo Horn waren weitaus besser, aber Mundstuhl waren wenigstens ein Farbtupfer in der wenig unterhaltsamen Sendung.

ISABEL: WILL MY HEART SURVIVE?
Hierbei handelte es sich um eine klassische Grand-Prix-Ballade im Stil zahlloser irischer Sieger-Titel. Die 18-jährige Sängerin hatte sich bei einem Grand-Prix-Casting der Bild-Zeitung qualifiziert. Man muss sich fragen, wie untalentiert ihre Mitbewerberinnen waren. Mit ihrer dünnen Stimme traf Isabel nicht allzu viele Töne. Obwohl: Sie traf mehr richtige Töne als Zlatko im vergangenen Jahr. Immerhin.

LINDA CARRIER: HIGHER GROUND
Dass diese junge Dame von Moses Pelham produziert wurde, war nicht zu überhören. Sie präsentierte eine Soul-Ballade im Stile von Sabrina Setlur oder Glashaus. Gut produziert, gute Stimme - nur den peinlichen Background-Hip-Hopper hätte man sich sparen sollen.

SPN-X: BRAVO PUNK
Die Punks aus Cottbus waren für den Schreiber dieser Zeilen das Highlight des Abends. Obwohl sie durchaus familientauglichen Punkrock und einen lustigen Text präsentierten, waren sie aber chancenlos. Vielleicht hätte man es sich sparen sollen, direkt nach dem Auftritt direkt vor der Kamera pseudo-revolutionär in der Nase zu popeln.

ZARAH: TO BE OR NOT TO BE
Die 18-jährige Blondine hatte einen Talentwettbewerb im Internet gewonnen. Vom Musik-Stil her schien sie sich an Alanis Morissette anlehnen zu wollen. Dummerweise singt die Amerikanerin zwei Ligen über Zarah.

BERNHARD BRINK & IREEN SHEER: ES IST NIEMALS ZU SPÄT
Im Gegensatz zu manch anderem Protagonisten des Abends können die beiden Schlager-Dinos wenigstens singen. Dank massiver Orchestrierung gelang ihnen auch eine ansehnliche, klassische Grand-Prix-Hymne. Wenn nur dieser peinliche Text nicht gewesen wäre, der sich vorgenommen hat, den 11. September zu thematisieren. "Steh auf und sag Nein", hieß es da, und gemeint war Nein zum Hass, denn "wo die Liebe regiert hat der Wahnsinn keine Chance". Zum Glück hatte auch dieser wahnsinnig schlechte Text keine Chance.

KELLY FAMILY: I WILL BE LOVED
Deutschlands berühmteste Altkleider-Sammlung kam nicht mal unter die ersten Drei - das war sicherlich die Überraschung des Abends. Das vorgetragene Lied war eine Ballade und klang wie alle anderen Kelly-Balladen auch. Dass die extrem übergewichtige Frontfrau eher wie ein "Rettet die Wale"-Mahnmal aussah, konnte sie durch eine gute Stimme wieder ausgleichen. Und damit sorgte sie dafür, dass die Kellys noch eher zu den Lichtblicken des traurigen Abends zu zählen waren.

TUESDAYS: DU BIST MEIN WEG
Netter Lala-Pop im mittleren Tempo - musikalisch irgendwo zwischen den Backstreet Boys und den Grand-Prix-Veteranen von Wind gelagert. Dass bei ihrem sechsstimmigen Chorgesang nicht jeder Ton getroffen wurde, war schon übel ... aber das schlimmste war die peinliche Anbiederung an das Publikum: Styling-technisch war bei den sechs Sängern für jeden Zuschauer etwas dabei - vom Blumenkind bis hin zum Pseudo-Streetfighter mit Lederjacke und Sonnebrille. Weia - neben Normal Generation das Lowlight des Abends!

NATALIE: DON´T SAY GOODBYE
Im Vorfilm, den jeder Künstler vor seinem Auftritt über sich ergehen lassen musste, sah man die russisch-stämmige Natalie mit derart strengem Gesichtsausdruck und derart streng zurück gekämmtem blonden Haar, dass man bei ihrer Vorstellung nur auf den Satz wartete: "In meiner Freizeit arbeite ich als Domina." Doch dann folgte ein glänzender Auftritt. Mit dezenter Orchester-Begleitung wurde eine sehr schöne Ballade zu Gehör gebracht - dargeboten von der besten Stimme des Abends. Für den Schreiber dieser Zeilen war Natalie neben SPN-X die Favoritin des Abends. Nur eine Frage blieb offen: Warum steht sie in einem dicken Wintermantel auf der Bühne???

... ach ja - eine Frage bleibt doch noch: Warum hat Natalie nicht gewonnen? Und noch eine Frage: Warum war der diesjährige deutsche Grand-Prix-Countdown bloß so langweilig?
Etwa zwei Drittel der Beiträge gehörten in die Kategorie Ballade, was auf Dauer etwas eintönig ist; und einfallslos, denn viele Komponisten schienen nach dem Motto verfahren zu sein: Wenn Irland zahllose Siege mit Balladen gelandet hat, können wir das ja auch mal versuchen.
Erspart blieben dem Publikum immerhin künstlerische Tiefpunkte wie Zlatko oder Mooshammer, aber wenn man fast gar keine Farbtupfer in einer solchen Show hat, trägt das auch nicht gerade zum Unterhaltungswert bei. Dies fällt vor allem dann ins Gewicht, wenn auch keine wirklichen Highlights im Programm sind und sich der ganze Wettbewerb in gepflegtem Mittelmaß erschöpft. In den vergangenen Jahren war der Grand Prix Eurovision in Deutschland auf dem aufsteigenden Ast, aber wenn sich die Entwicklung des diesjährigen Vorentscheids fortsetzt, ist der Wettbewerb bald wieder auf dem Level der Vor-Guildo-Horn-Zeit: auf dem Tiefpunkt.

14 Bewertungen, 2 Kommentare

  • ritasport

    02.03.2002, 15:45 Uhr von ritasport
    Bewertung: sehr hilfreich

    Eine absolut herrliche Meinung! Ich werde sie gleich mal ausdrucken und meiner Mutter zeigen, die dürfte auch begeistert sein!!! Grüße von Katharina

  • Nietzsche

    02.03.2002, 15:45 Uhr von Nietzsche
    Bewertung: sehr hilfreich

    den ton tarfen da wahrlich nur wenige...