Bahnwärter Thiel (Taschenbuch) / Gerhart Hauptmann Testbericht

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ab 5,55
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Erfahrungsbericht von Boadicea

Wer den Sohn nicht ehrt....

Pro:

intensiv, erschreckend, Symbolik

Kontra:

-

Empfehlung:

Ja

h hatte vor ungefähr einem Jahr mal eine Phase, in der ich mir dünne Reclam-Klassiker gekauft habe, um möglichst viele (da dünne ;-)) Klassiker schnell abhaken wollte. Das klingt oberflächlich, ist auch so, was mein Auswahlverfahren anging. Soll aber nicht heißen, dass ich mich mit den Inhalten der kurzen Novellen oder Dramas nicht weiter befasst hätte.

Eines der Bücher, das ich aufgrund seiner nur knapp über 50 Seiten auswählte war \"Bahnwärter Thiel\" von Gerhard Hauptmann, anscheinend die Gelegenheit, ganz schnell mal was von Gerhart Hauptmann zu lesen...


Bei genauerem Hinsehen stellte sich heraus, das die Geschichte an sich nur 40 Seiten ausmacht, die folgenden Seiten werden von einem Nachwort von Fritz Martini gefüllt. Eine solche Reclamausgabe kostet nur 1,60 Euro, selbst wenn einem das Buch nicht gefällt, muss man sich wegen des Preises nicht ärgern. Außerdem ist man so oder so um eine \"Erfahrung\" reicher.

Entstanden ist die Erzählung, oder \"Novellistische Studie\" 1887, erschienen ist sie ein Jahr später und zählt damit zu den Frühwerken Hauptmanns, das im übrigen seine weiteren Werke beeinflusst hat.


Inhalt
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Protagonist ist der robuste, phlegmatische Bahnwärter Thiel (wer hätte das gedacht), ein zuverlässiger Arbeiter. Sein Leben ändert sich, als seine Frau stirbt. Um weiterhin seinen Sohn Tobias versorgt zu wissen heiratet er schon bald eine Bauernmagd namens Lene, die sich jedoch als grob und herrschsüchtig herausstellt. Sie hat bald das Kommando über den Thielschen Haushalt. Nachdem seine neue Frau ein eigenes Kind geboren hat, muss Thiel ansehen, wie sie seinen ersten Sohn Tobias misshandelt. Eines Nachts hat er in seinem Wärterhaus eine Vision von seiner ersten Frau, die mit einem blutigen Bündel im Arm flieht, die Gleise entlang, von einem Zug verfolgt. Thiels Schicksal nimmt bald seinen Lauf.
Allerdings möchte ich hier das Ende nicht verraten, selbst wenn ich dann im zweiten Teil meiner Meinung nicht so ausschweifend werden kann. Ihr sollt ja schließlich auch noch was von dem Buch haben..


Was mir dazu so einfällt, ohne zuviel zu verraten
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Hauptmanns Text war für die damalige Zeit modern. Hauptmanns Stil ist wissenschaftlich objektiv, die Geschehnisse dienen aber auch als Symbole für eine \"andere\" Wirklichkeit.
Dabei sind die Bilder nur wenig ausgeführt, was die Handlung straffer erscheinen lässt, die drei kurzen Kapitel der Erzählung lesen sich in einer guten halben Stunde.

Es ist erstaunlich, wie Hauptmann auf wenigen Seiten den Verfall, die Wandlung Thiels, der mit seiner Entfremdung von seinem Ich schon expressionistische Züge trägt, die Veränderung seines Bewusstseins intensiv darstellen kann, ohne sich lange mit Innenansichten aufzuhalten, vielmehr dient die Außenwelt als unmittelbarer Spiegel. So verbindet Hauptmann alle Elemente- Natur, Mensch, Technik - unmittelbar miteinander. Dabei wird dem Leser keine Sichtweise aufgezwungen, es liegt an einem selbst, wie man die Vorgänge, das Handeln der Personen bewertet und welche Schlüsse man daraus für sich selbst zieht.

\"Bahnwärter Thiel\" ist so eine Novelle, die zwar schnell zu lesen ist, aber doch mehrmaliges Lesen bedarf, um die Symbolik Hauptmanns, die er in folgenden Erzählungen weiter ausführte, im ganzen erfassen zu können. So zeigt sich erst vollkommen, wie Hauptmann hier Kontraste zusammenführt, verbindet.

Die Lektüre von \"Bahnwärter Thiel\" hatte für mich in erster Linie etwas erschreckendes, was sicher jeder nachvollziehen kann, der die Novelle zuende gelesen hat.
Es ist eine Novelle, die zeigt, das diejenigen, von denen man es nicht erwartet, unter Druck abrutschen können und zu ganz anderen \"Menschen\" werden können.

Ich rate also allen interessierten Lesern, sich ruhig einmal dieser kurzen Novelle anzunehmen. Nach kurzer Zeit ein Klassiker, den man dazu auch noch zur Weltliteratur zählen kann: das ist wahrlich nicht schlecht. Gerade das Abstoßende in der Erzählung wird nach näherem Betrachten das faszinierende Element, vor allem, wenn man sieht, wie geschickt doch alles zusammenhängt.


Boadicea/Boda für dooyoo, ciao, compinion, yopi

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