Die Wand (Taschenbuch) / Marlen Haushofer Testbericht

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ab 8,52
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Erfahrungsbericht von Nahariel

)) Der letzte Mensch auf der Welt ((

Pro:

Sprache, Athmosphäre, Ausdruckskraft

Kontra:

für mich gar nichts!

Empfehlung:

Ja

Die Phantasie der Menschen regt sich schaudernd, aber neugierig, wenn die Frage in den Raum geworfen wird: Was wäre, wenn du der letzte Mensch auf der Welt wärst? Die Antworten auf diese Frage könnten unterschiedlicher und teilweise dümmer nicht sein. Wenn man der letzte Mensch auf dieser Welt ist, muss man alle Handwerksberufe in sich vereinen, um zu überleben. Strom, Heizung und warmes Wasser gibt es nicht mehr. Es gibt keinen Arzt, der Krankheiten heilt, keinen Bäcker, bei dem man Brötchen kaufen kann, es gibt nicht mal jemanden, der einem zuhört.
Entweder lernt man, mit der Natur zu leben oder man gibt sofort auf und sucht sich einen Baum mit einem starken Ast, der sehr hoch ist.

Die Protagonistin aus Marlen Haushofers "Die Wand" gibt nicht auf. Sie ist zu Besuch bei ihrer Kusine und deren Mann. Sie ist zu Besuch in einem Jagdhaus, das in einem Kessel liegt, umringt von Bergen und Wald. Sie ist zu Besuch, als die Wand sie vom Rest der Welt trennt und sie zur wahrscheinlich einzigen Überlebenden macht. Ihre Kusine und deren Mann sind ins Dorf gegangen und als sie nicht wieder zurückkommen, macht sie sich in Begleitung des Jagdhundes Luchs auf den Weg und stößt auf eine unsichtbare Barriere, die einfach so da ist. Ohne Sinn, ohne Logik und vor allem ohne Erklärung.

Im ersten Moment völlig verwirrt, hält sie die Wand für eine Illusion, eine Sinnestäuschung, wieder einen Moment später ist die Wand eine militärische Waffe, eingesetzt von einer unbekannten Siegermacht, die sicherlich bald feststellen wird, dass sie irgendetwas nicht verstanden hat und nicht da sein dürfte, wo sie jetzt ist: Auf der anderen Seite der Wand. Auf der Seite, wo alles lebt, wo Vögel ohne Vorwarnung gegen die Wand geflogen sind und jetzt halb zerfetzt am Boden liegen. Auf der Seite, wo die Vögel nicht einfach so vom Himmel gefallen sind und die Menschen nicht in ihrer letzten Haltung erstarrt sind, als wäre plötzlich die Atmosphäre verschwunden. Auf der Seite, wo Luchs nun ihr einziger Freund wird und Angst ihre größte Herausforderung.

Als sie den Bericht beginnt, lebt sie bereits mehrere Jahre alleine im Jagdhaus. Sie glaubt nicht, dass ein menschliches Auge ihre Worte jemals lesen wird. Sie schreibt, um sich einen letzten Rest Menschlichkeit zu bewahren, sieht sich aber selbst, wie sie eines Tages das Geschriebene findet und es animalisch zerfetzt. Sie schreibt auf alte Kalenderrückseiten, um nicht wahnsinnig zu werden.
Innerhalb kurzer Zeit wird Luchs vermenschlicht. Auch die alte Katze, die sich eines Tages bei ihr einnistet, wird zum Menschersatz. Zusammen mit der Kuh Bella, die sie auf einem Erkundungstrip findet, schmelzen die drei zu einer neuen Familie zusammen.

Ihre echte Familie existierte sowieso schon lange nicht mehr. Ihr Mann war vor mehreren Jahren gestorben, ihre Kinder waren längst erwachsen und ihr komplett entfremdet, als die Wand die Scheidung endgültig machte. Sie mochte ihre Kinder als Erwachsene sowieso nicht leiden. In ihrer Erinnerung bleiben sie klein und brauchten ihre Mutter noch. Nun brauchten die Tiere sie. Die Kuh stellt sie alleine vor große Probleme. Sie braucht einen Stall und nach kurzer Zeit keimt der Verdacht auf, dass das Tier trächtig ist.
Sie muss sich um Nahrung kümmern. Sie hasste es schon immer, Tiere zu töten, doch nun ist sie gezwungen, auf die Jagd zu gehen. Dankbar für einen kleinen Vorrat an Bohnen und Erdäpfel, beginnt sie den Ackerbau zu lernen. Sie lernt, an Rückschlägen, an ihrer mangelnden Kraft, Intelligenz und Courage nicht zu verzweifeln, sondern erneut das Haupt zu heben und verbissen weiterzumachen. Sie lernt das Überleben für sich und ihre Tiere. Und um sie herum hält die Wand, hinter der es offenbar kein Leben mehr gibt, den Tod von ihr fern.

Sie hat keinen Namen, denn in einer Welt, wo sie keiner mehr rufen kann, ist ein Name bedeutungslos geworden. Bedeutung haben nur noch der Wald, die Tiere und ihre Gedanken, die in ihrem Erlebnisbericht herumspringen wie Flöhe auf einem Hundefell. Ihre Worte sind einfach - sie selbst hält sich für eine Frau durchschnittlicher Intelligenz. Doch gerade diese Einfachheit ist schmerzhaft eindringlich. Ihre sprunghafte Analyse der zwei Leben, vor und nach der Wand, klingt hart und abgestumpft und ist doch nur ein Resultat der Distanziertheit - wer soll ihr schon einen Vorwurf machen, wenn sie ihre Kinder als heranwachsende, gefühlskalte Monster sieht? Sie fühlt sich befreit von den Zwängen und Regeln, die andere Menschen ihr aufgedrückt haben. Es gibt keine Menschen mehr und nun kann sie sich selbst die Wahrheit eingestehen: Irgendwie ist die Wand doch das Beste, was ihr widerfahren konnte.

Doch Menschen können nicht ohne andere Menschen leben. So werden die Tiere ihre Gefährten. Der Hund, der ihr bedingungslos vertraut und sie beschützt, sie aufmuntert, sie rüffelt. Die Katze, die launisch mit Zuckerbrot und Peitsche spielt und sie emotional am meisten berührt. Die kleinen Katzen, die ihre Kinder werden und ihr alle wieder genommen werden. Sie nimmt sich vor, ihr Herz nicht wieder zu verlieren und kann doch nichts gegen den nächsten Wurf unternehmen. Sie lernt, dass Abschied nehmen nun einmal mit ihrem neuen Leben untrennbar verbunden ist.
Bella, die Kuh, die ihr größtes Sorgenkind und ihre Nährmutter ist. Bella, die ihr Stier als neuen Sohn gibt, um den sie sich kümmern kann. Bella ist Segen und Fluch zugleich, denn gerade die Kuh zeigt ihr mit ihren Anforderungen, wie klein und schmächtig und unzulänglich sie ist. Und gerade die Kuh treibt sie immer wieder an, noch mehr zu schaffen.




Marlen Haushofer veröffentlichte "Die Wand" im Jahre 1963. Zu dem Zeitpunkt war sie 43 Jahre alt, verheiratet, geschieden und mit dem gleichen Partner erneut verheiratet. Sie hatte bereits die Novelle "Das fünfte Jahr" veröffentlicht, für die sie mit dem Staatlichen Förderungspreis für Literatur ausgezeichnet wurde.
Mit "Die Wand" schuf sie ihr Lebenswerk. Eingezwängt von den Erwartungen ihrer Familie floh sie ins Schreiben, schuf sich ihre Wand, die sie gegen die Menschen abschottete. In der Natur und in ihrer Arbeit fand sie vorübergehende Erfüllung - wie ihre Heldin in dem Roman.

Ihre Sprache ist trostlos und wunderschön, teilt Empfindungen in ihrer höchsten und reinsten Form mit. Der Leser wird mit einer Identitätskrise konfrontiert, die ihn selbst tief erschüttert und ihm zeigt, wie sinnlos und töricht die meisten menschlichen Wünsche und Erwartungen sind. Natürlich kommt unterschwellig die Frage nach dem Sinn des Lebens zum Tragen und das ist bei diesem Roman äußerst legitim. Denn "Die Wand" zeigt eine neue Einschätzung des Lebens, die unweigerlich zum Nachdenken führt. Hinzu kommt eine unheimliche, düstere Atmosphäre, die schwermütig und hoffnungslos ins Gehirn des Lesers schleicht und gleichzeitig doch von so viel Freiheit und Schönheit spricht, dass einem das Herz noch schwerer wird.

Überraschend und gewöhnungsbedürftig ist das Ende des Romans. Ohne zu viel zu verraten zu wollen, möchte ich aber sagen, dass ich anfangs irritiert und ja fast enttäuscht war. Doch je länger ich darüber nachdachte, wurde mir klar, dass ein anderes Ende gar nicht möglich ist! Nur so und nicht anders, macht das Ende dieses eindrucksvollen Buches einen Sinn und verstärkt für mich noch den bleibenden Eindruck der Geschichte.

Marlen Haushofer starb im März 1970 an Krebs. "... ein Abschied ohne Bedauern, sachlich-entrückt: fixiert in ihrem geistigen Vermächtnis, luzid ob seiner Erkenntnis und Selbsterkenntnis:
'Mach dir keine Sorgen. Du hast zuviel und zuwenig gesehen, wie alle Menschen vor dir. Du hast zuviel geweint, vielleicht auch zuwenig, wie alle Menschen vor dir. Vielleicht hast du zuviel geliebt und gehasst - aber nur wenige Jahre - zwanzig oder so. Was sind schon zwanzig Jahre? Dann war ein Teil von dir tot, genau wie bei allen Menschen, die nicht mehr lieben oder hassen können.'" (Zitat aus dem Nachwort von Klaus Antes)

"Die Wand" ist das einzige Buch, das ich bisher von der österreichischen Autorin gelesen habe, aber dafür geht es mir nicht mehr aus dem Kopf. Nur wer wirklich an hoher literarischer Kunst interessiert ist, an einer Psychoanalyse auf poetischstem Niveau, nur der sollte dieses Werk zur Hand nehmen und sich auf einen einzigartigen Ausflug in ein Jagdhaus in einem Kessel zu Füßen von Bergen und mitten im Wald begeben, ganz alleine mit sich und einigen herzgewinnenden Tieren. Denn so könnte es sein, der letzte Mensch auf der Welt zu sein.

Ein Buch das ich garantiert nicht vergessen werde und das immer weit oben auf meiner Lieblingsbuchliste stehen wird. Absolut zu empfehlen für Leser, die nicht nur triviale Literatur bevorzugen.


Buchdaten:
_______
ISBN : 3-423-12597-7
Auflage: Dezember 2004
dtv-Verlag
Preis: 7,95 €


Dieser Bericht wurde von mir ebenfalls auf www.ciao.de und www.buchwurm.info veröffentlicht.

47 Bewertungen, 9 Kommentare

  • anonym

    30.11.2011, 23:01 Uhr von anonym
    Bewertung: besonders wertvoll

    Oh ja, habe es schon vor längerer Zeit gelesen und es ist ein wunderbares Buch, dass mich auch lange beschäftigt hat. Habe dann noch so einiges von der Autorin gelesen, aber nichts hat mich so angesprochen wie "Die Wand". LG

  • anonym

    30.11.2011, 20:36 Uhr von anonym
    Bewertung: sehr hilfreich

    Liebe Grüße Edith und Claus

  • goat

    29.11.2011, 13:37 Uhr von goat
    Bewertung: besonders wertvoll

    Und hier kommt das BW. Das ist was für mich - auch wenn sich das sehr bedrückend liest - also schwere Kost im übertragenen Sinne, muss ich das Buch unbedingt haben. Und jetzt gucke ich schnell nach, wieviele Seiten das Buch hat und setze es auf meinen Wunschzettel.

  • campino

    29.11.2011, 09:39 Uhr von campino
    Bewertung: sehr hilfreich

    LG Andrea ------------

  • misscindy

    29.11.2011, 08:36 Uhr von misscindy
    Bewertung: sehr hilfreich

    Ein sehr schöner Bericht, lg Sylvia

  • anonym

    29.11.2011, 06:22 Uhr von anonym
    Bewertung: besonders wertvoll

    Das klingt interessant. Wundervoll vorgestellt. Macht mich neugierig auf das Buch.

  • uhlig_simone@t-online.de

    28.11.2011, 14:51 Uhr von [email protected]
    Bewertung: sehr hilfreich

    Liebe Montagsgrüße v. Simone

  • katjafranke

    28.11.2011, 14:45 Uhr von katjafranke
    Bewertung: sehr hilfreich

    Viele liebe Grüße. KATJA

  • Miraculix1967

    28.11.2011, 13:45 Uhr von Miraculix1967
    Bewertung: sehr hilfreich

    WWW = Wunderschöne Wochenstarts-Wünsche! LG aus dem gallischen Dorf Miraculix1967