Der Sandmann (Taschenbuch) / E. T. A. Hoffmann Testbericht

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Erfahrungsbericht von dani___

Holzpüppchen, hui, schön Holzpüppchen, dreh dich

Pro:

undurchschaubar ==> mysteriös/geheimnisvoll; Motiv der Augen; Unterschieden zwischen Klara&Nathanael und Klara&Olimpia; Vergleich mit der Aufklärung&Romantik; Perspektiv als Auslöser; Sprache; spannend; Wendungen; Preis;

Kontra:

plumpe Schilderung (Kindheit); Erzählungen in der 3.Person außer die drei Briefe am Anfang ==> wirkt unpersönlich

Empfehlung:

Ja

„Ist der Sandmann noch da?“ (Seite 10)

Nein, das fragt kein Kind, welches fast geschlafen hat oder gerade aus seinem Schlaf erwacht ist. Diese Frage stellt Nathanael seiner Mutter, denn er hat Angst vor dem Sandmann.
Aber nicht den Sandmann, den man als lieblich einschätzt, der so lange seine Melodie ertönen ließ und die Worte „Sandmann, lieber Sandmann...“
Nein, der ist es nicht.

Nathanael, das ist der Junge, der von seiner Amme ein Märchen erzählt bekommen hat – vom Sandmann. Dass er immer wiederkomme und den Kindern die Augen aureißen will, mit einer schnellen Bewegung, einem kurzen Schmerz.
Der Nathanael, der später, als er studiert und von seiner Familie und Klara – seiner Verlobten – getrennt ist, von Visionen geplagt wird, sich nicht mehr zu helfen weiß, weil er denkt, dass der Advokat Coppelius, den er für den Sandmann hält und für den Tod seines Vaters verantwortlich macht sich nach dem Vorfall zurückgezogen, ihn nun in der anderen Stadt wieder aufgesucht hat und ihm nun in den Wahnsinn treiben will. Er hat zwar einen neuen, ähnlichen Namen – Giuseppe Coppola – doch das stört Nathanael nicht.
Er ist sich seiner Visionen sicher, obwohl er von seiner Mutter, seinem Freund und Stiefbruder und seiner Verlobten nicht ernst genommen wird. Nathanael verrennt sich in diese Idee und verliert den Verstand.

Nathanael bekommt kein Verständnis, vor allem nicht von Klara. Seine Gedichte, in denen er all das verarbeiten will, beachtet sie nicht, sie strickt während seiner Vorlesungen.
So kommt es, dass sich Nathanael nach dem Kauf eines Perspektives von Coppola in Olimpia verliebt. Sie ist es, die von ihrem Vater, dem Professor Spalanzani, in einem Zimmer eingesperrt wird. Nathanael aber weiß noch nicht, dass Olimpia eine Kunstfigur, anstatt ein Mensch, ist. Ihre Aussprüche „Ach“ und „Gute Nacht, mein Lieber“ wertet er als Hochachtung gegenüber ihm. Bei ihr fühlt er sich im Gegensatz zu Klara verstanden.

Als er Olimpia dann einen Heiratsantrag machen will, eskaliert das Ganze, denn Nathanael weiß auch noch nicht, dass Professor Spalanzani mit Coppola Kontakt hat, von dem er anschließend denkt, er sei der Sandmann.

Ist Coppola nun Coppelius?
Und war Coppelius je der Sandmann?

Ein tückisches Rätsel, was nie gelüftet werden wird.



~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ Meinung ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~
Ein undurchschaubares Werk, was uns E.T.A. Hoffman geliefert hat, eine Menge Dinge werden nie verraten. Der Leser muss sich schlicht und einfach damit abfinden, oder eine gute Phantasie haben.
Wie ich schon angedeutet habe, wird zum Beispiel nie aufgelöst, ob Coppelius nun wirklich Coppola war und ob es denn Sandmann je gegeben hat, oder ob es nur eine Vision war. Der Autor verliert kein Wort darüber.

Aber warum ist Coppelius eigentlich derjenige, den Nathanael für den Sandmann hält? Werfen wir einmal einen Blick in seine Jugend und so stellen wir fest, dass Coppelius mit Nathanaels Vater Alchimie betrieben hat, um Menschen zu konstruieren.
Nathanael kam eines Abends dazu, weil er zu neugierig war, um fernzubleiben, obwohl ihm seine Mutter ausdrücklich verboten hatte, abends seinen Vater zu stören. Er sah die beiden Männer über einem Feuerkreis arbeiten, dabei werden die Augen präzise beschrieben, die zwei sehen außerdem sehr animalisch und furchterregend aus.
Schließlich wird Nathanael erspäht und Coppelius reißt ihm seine Beine ab und macht sie ihm wieder neu an die Gelenke.
Auch hier wird man niemals aufgeklärt, ob es der Wahrheit entsprechen sollte, oder ob es damals schon Visionen von Nathanael sind.

Daher das Trauma, das er nun besitzt. Komisch, dass der Ausbruch desselbigen erst dann stattfindet, wenn er schon längst wieder in einer anderen Stadt ist, aber auch hierfür gibt es eine Antwort: er sieht Coppola und erinnert sich an alles. Deswegen auch die drei Briefe an Lothar bzw. Klara, in denen er seine Ängste beschreibt.
Vergleicht man Klara und Nathanael, so stellt man fest, dass die Beiden, obwohl sie zusammen aufgewachsen sind (Lothar und Klara sind Geschwister, wurden aber Waisen und kamen so zur Familie von Nathanael), vollkommen verschieden sind. Während Klara vernünftig und rational ist, nimmt Nathanael es eher so wahr, dass sie ihm nicht glaubt und nichts mehr für ihn übrig hat. Er ist traumatisiert durch die Erlebnisse und nur durch seine Gefühle geleitet. Er versucht, durch seine Gedichte Zugang zu sich selbst zu finden, während er sich von Klara wegen ihrer ruhigen und besonnenen Art immer weiter distanziert.
Man könnte es mit den zwei Seiten der Aufklärung und der Romantik vergleichen, genau die gleichen unüberwindbaren Barrieren befinden sich auch zwischen den zwei Menschen.

Ähnlich kann man auch Olimpia mit Klara vergleichen.
Letztere, die einst Nathanaels große Liebe war, die er wegen nichts verlieren wollte und immer um sie warb. Sie liebten sich und plötzlich bezeichnet er sie als „Automat“, wo sie doch so tiefgründig war und auch der Mensch, den er so vergötterte.
Olimpia aber, die kein Mensch, sondern nur ein Konstrukt zweier Menschen ist und damit augenscheinlich ein Automat, erscheint ihm als die einzig wahre Liebe, jene, nach der er sich immer gesehnt, aber nie gefunden hat. Sie hört ihm zu, was Klara nicht wollte – merkt jedoch nicht, dass sie nur nicht sprechen kann und deswegen still ist.
Er tauscht die Bezeichnungen für die zwei Menschen, denen er am nähesten war, obwohl er merkt, dass Olimpias Hand „eiskalt“ war, obwohl er „sich durchbebt von grausigem Todesfrost“ fühlte. Nathanael ist nicht mehr offen für die Zeichen der Realität, er nimmt nur noch das wahr, was er sonst für unmöglich gehalten hätte.

Der Auslöser dafür ist alleine das Perspektiv, wodurch Nathanael die Dinge in seinem Leben anders sehen kann.
Genau das wird ihn auch später ins Verderben bringen, wobei auch während der Geschichte schon klar wird, dass das Perspektiv nur Negatives bringt.
Auch die Augen kehren immer wieder, sie charakterisieren für Nathanael alle Menschen, er gliedert sie danach. Aber auch seine Ängste stützen sich auf dem Motiv der Augen. Er hat Angst, dass ihn Augen durchdringen könnten, aber auch, dass er seine Augen verlieren könnte.


So, das nur als Hintergrundinformationen, ohne die man das Buch nicht sonderlich gut verstehen würde.
Das Buch „Der Sandmann“ ist in jeder Hinsicht lesenswert, es überzeugt nicht nur durch seine Handlung, sondern zeigt auch, dass E.T.A. Hoffmann sehr redegewandt war, um verschiedene Situationen anschaulich darzustellen.
Die Schilderungen der Augen sind ihm gelungen, auch die Versuche, die Nathanaels Vater zusammen mit Coppelius macht kann man sich gut vorstellen.

Manchmal schien es recht plump, zum Beispiel in dem Moment, als Coppelius dem Jungen Gliedmaßen ausreißt: „Und damit fasste er mich gewaltig, dass die Gelenke knackten, und schrob mir die Hände ab und die Füße und setzte sie bald hier, bald dort wieder ein.“
Solche Situationen lassen sich in dem Buch öfter finden, wodurch man als Leser sehr distanziert an die Geschichte herangeht. Nicht nur, weil es abwegig und unrealistisch ist, sondern die Schilderungen sehr grob sind.
Auch die Tatsache, dass lediglich die Briefe in der Ich-Form geschrieben sind, alles andere aber aus der 3.Person, macht das Ganze noch ferner, man fühlt sich kaum integriert in die Geschichte und kann so manches Gefühl oder Verhalten nicht wirklich nachvollziehen.

Die Sprache des Buches ist zwar jetzt nicht die Einfachste, aber mit etwas Konzentration und gutem Willen sollte das auf jeden Fall zu machen sein. Man versteht alles, es sind fast keine Fremdwörter enthalten, wenn wirklich gibt es in manchen Ausgaben ja auch ein informatives Nachwort, in dem man nachschlagen kann.
Die Sätze in „Der Sandmann“ sind meist kurz und unvollständig, vor allem, wenn Nathanael außer Rand und Band und später wahnsinnig wird. Er schreit um sich, was sich am besten durch kurze Sätze ausdrücken lässt.
Ansonsten findet man dann eher längere Sätze vor, Hypotaxen.
Da es aber ein reiner Prosatext ist und nur ab und zu eben kleinere Dialoge vorzufinden sind, sollte das Lesen keine großen Schwierigkeiten machen.


Spannend ist das Buch zweifellos, ob man es ganz verstehen muss, bleibt die Frage. Lückenlos interpretieren ist nicht möglich, da der Autor zu wenig voraussetzt und somit wichtige Informationen für den Leser versteckt bleiben. Fesselnd und ergreifend aber alleine durch die Visionen, die Nathanael verfolgen.
Stellt man sich die vor, ist gut nachvollziehbar, dass er wahnsinnig wird und sein ganzes Leben umkrempelt, seine alten Gewohnheiten aufgibt und ein komplett anderer Mensch wird.

Faszinierend waren die vielen Wendungen, die das Werk hat.
Kaum glaubt man, dass Nathanael nun diesen Weg geht, wird alles durcheinander gewirbelt und es fängt von Neuem an. Er kommt nie zur Ruhe, muss immer neue Dinge beginnen, was Parallelen zu den Motiven der Romantik hat, in welcher das Buch auch verfasst wurde.
Das Buch hat etwas Mystisches, Geheimnisvolles, etwas, das man kaum beschreiben kann, was die Romantiker auch versucht haben, zu erreichen.
E.T.A. Hoffmann hat das in seinem Buch gut zum Ausdruck gebracht.



~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ Autor ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~
Ernst Theodor Amadeus Hoffmann
geboren 1776 in Königsberg, gestorben 1822 in Berlin
Er studierte Jura, ihn interessierte aber auch die Musik, die Kunst und die Literatur. Er war folglich vielseitig begabt, er schrieb beispielsweise Musikkritiken oder zeichnete Bilder.

„Der Sandmann“ soll in einer Zeit entstanden sein, in der die Geschichte sein Leben in etwas spiegelt, zumindest den Teil des Wahnsinns.


Weitere Werke von E.T.A. Hoffmann:
-Die Elixiere des Teufels
-Das Fräulein von Scuderie
-Der goldne Topf
-Nachtstücke
-Lebensansichten des Katers Murr
-Der Mönch



~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ Sonstiges ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~
Titel: Der Sandmann
ISBN: 3-150002303
Seitenanzahl: ca. 70

Preis: 2,60€ (Reclam)
weitere Informationen unter www.reclam.de



~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ Fazit ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~
Ein durchaus lesenswertes Buch, auch wenn man durch selbiges nicht ohne Hintergrundinformationen durchsteigen würde. Das Motiv der Augen zum Beispiel muss man erst einmal genauer untersucht haben, um das Buch vollkommen zu verstehen.
Ansonsten fällt es auf durch die einigermaßen leichte Sprache, die große Spannung und die Surrealität. Es ist fesselnd und man versinkt in der Handlung. Plötzlich ist es aus und man befindet sich wieder in dieser Welt – in der echten.

Vier von fünf Sternen von mir.

Viel Spaß beim Lesen wünscht dani!


+++

68 Bewertungen, 1 Kommentar

  • bienemaja1972

    27.02.2005, 18:12 Uhr von bienemaja1972
    Bewertung: sehr hilfreich

    komme ich so gut wie gar nicht mehr zum bücher lesen :-( schade eigentlich ( ausser natürlich mathebücher etc von meinem sohn *lach)