Kontroll (DVD) Testbericht

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Erfahrungsbericht von mima007
Orpheus und Eurydike gegen den Kapuzenmann
Pro:
spannend, unheimlich, temporeich, z.T. romantisch, Galgenhumor; sehr gutes Bonusmaterial, sehr guter Sound, sehr gutes Bild
Kontra:
Special Edition kostet etwas mehr; düstere Stimmung, kein Regiekommentar
Empfehlung:
Ja
Als ein unheimlicher Kapuzenmann anfängt, Fahrgäste scheinbar wahllos vor die einfahrenden Züge zu stoßen, wird klar, dass ihr Arbeitsplatz zudem verdammt nah an der Hölle liegt… (korrigierte Verlagsinfo)
Ich bespreche hier die Special Edition (2 DVDs).
Filminfos
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O-Titel: Kontrol (Ungarn 2003)
Dt. Vertrieb: Sunfilm
FSK: ab 16
Länge: ca. 106 Min.
Regisseur: Nimrod Antal
Drehbuch: Nimrod Antal
Musik: Neo
Darsteller: Sandor Csanyi, Zoltan Mucsi, Csaba Pindroch, Sandor Badar, Zsolt Nagy u.a.
Handlung
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Vor den Film ist ein erklärendes Vorwort des Direktors der Budapester Verkehrsbetriebskontrolleure gestellt. Es dauert immerhin zwei Minuten lang. Dann kann’s endlich losgehen.
Das Böse treibt sein Unwesen in den Schächte, Tunneln und geheimen Röhren der Budapester U-Bahn. Insbesondere spät in der Nacht müssen sich Fahrgäste auf eine unliebsame Überraschung gefasst machen: Sie werden vor den einfahrenden Zug gestoßen. Das widerfährt auch der von einer Feier kommenden Sekttrinkerin in den roten Schuhen, die wir am Anfang sehen. Doch wer ist der oder die Unbekannte?
Der Chef der Kontrolleure ist dementsprechend schlecht gelaunt, als er morgens um acht seine Ansprache hält. Sieben Opfer in einem Monat – das kann so nicht weitergehen. Allerdings befindet er sich im Irrtum: Er glaubt, die Menschen seien selbst gesprungen.
Die Hauptfiguren
Wieder werden die Gruppen bestimmten Sektoren und Strecken des Netzes zugeteilt. Bulcsu ist der Leiter einer chaotischen Truppe von Taugenichtsen: Muki wollte Polizist werden, ist aber 3x beim Eignungstest durchgefallen – wenn er sich nämlich aufregt, verfällt er in Schlaf. Seine Krankheit hat einen Namen: Narkolepsie. Das führt zu ein paar drastischen Szenen.
Lesco hat ein „unakzeptables hygienisches Erscheinungsbild“. Das ist die Standardbegründung für seinen Rauswurf aus bislang vier Jobs. Er ist obendrein rechthaberisch. Vergeblich versucht er den frechen „Roadrunner“ zu erhaschen, der die Truppe mit seiner Schwarzfahrerei herausfordert, aber offenbar über die bessere Laufkondition verfügt.
Tibi sollte die Familien-Metzgerei übernehmen ist deshalb froh um den Job als Kontrolleur. Der Professor ist schon älteres Semester. Sein Nachschlagewerk „Dienstvorschriften und Moral“ ist Pflichtlektüre, die aber nur zu gern vernachlässigt wird.
Der Kappo schließlich, Bulcsu, hatte früher offenbar eine gute Stellung an der Oberwelt, doch aus nicht näher genannten Gründen ging er vor einem Jahr in den Untergrund und hält sich dort 24 Stunden am Tag auf… Unklar ist, warum er morgens aus der Nase blutet. Man sieht ihn nur ein einziges Mal essen - bei seinem besten Freund, dem trinkfreudigen Zugführer „Onkel Bela“, der eine spezielle Art von Witzen zu erzählen weiß und ein sehr hübsches Töchterlein hat…
Bulcsu und seine Truppe liegt im Dauerclinch mit Gonzo und seiner Truppe. Als die Gegner auch noch neue Uniformen tragen dürfen, ist der Ofen völlig aus. An diesem Tag fordert Bulcsu Gonzo zum berüchtigsten Schienlaufen heraus. Dabei laufen die zwei Konkurrenten nach dem vorletzten Zug durch den Tunnel zur nächsten Station, wohlwissend, dass der allerletzte Zug des Tages, der Mitternachts-Express“ sie einholen und überfahren könnte. Diesmal gewinnt Bulcsu um Haaresbreite. Er zerrt seinen erschöpften Kontrahenten in letzter Sekunde auf den rettenden Bahnsteig. Das wird Gonzo ihm heimzahlen…
In einem Traumschlaf der Erschöpfung begegnet Bulcsu der jungen Schwarzfahrerin wieder, die er heute gesehen hat: Sie hat das Kostüm eines pummeligen hellfelligen Bärchens an. Weiß der Kuckuck, warum sie das Ding trägt, aber es ihm unmöglich, sie zu kontrollieren, geschweige denn, sie zu bestrafen. (Sie heißt übrigens Sofie und ist Belas Tochter.) Das Traum-Bärchen führt ihn, mit einer Fackel den Weg leuchtend, durchs Gewirr der Tunnel zu einer sehr engen Röhre, die direkt ins Erdreich führt. Das ist an sich schon seltsam, weil es so etwas wie Erdreich hier unten nicht geben kann – es ist ja alles zubetoniert. Aber dies ist ja ein Traum, also zum Teufel mit der Logik! Und am Ende dieses Erdtunnels erblickt Bulcsu das Erdloch, in dem sich ein Kapuzenmann, der in einen schwarzen Mantel gehüllt ist, verbirgt. Bulcsu schreit und wacht auf…
Für ihn stellt schon recht bald die Frage, ob der Kapuzenmann nur in seinem Traum oder auch in der Realität existiert. Im letzten Drittel des Films wird dies zu einer existentiellen Frage, die Bulcsu dadurch entscheidet, dass er seinen Job kündigt. Die Dienstaufsicht der Kontrolleure, die von den Kontrolleuren verächtlichen so genannte „Gestapo“ (ein Mann mit einem Feuermal im Gesicht), hat ihn nämlich im Verdacht, einen Fahrgast vor einen Zug gestoßen zu haben. Sie benutzen das Video einer der allgegenwärtigen Überwachungskameras, um ihren Verdacht zu belegen. Allerdings ist es lückenhaft. Hat Bulcsu den Kapuzenmann nur geträumt und ist er am Ende der Schuldige?!
Nein. Im Trubel eines Kostümballs in der Metro stößt er auf den Killer und beschattet ihn. Ein Kampf auf Leben und Tod entbrennt.
Mein Eindruck
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Beim ersten Ansehen fand ich es schwierig, mich auf den völlig anderen Rhythmus dieses Films einzulassen. Dies ist kein Thriller im herkömmlichen Sinn, auch wenn meine Inhaltsangabe dies andeuten könnte. Die Geschichte präsentiert genauso stark ein Panorama der Existenzmöglichkeiten im U-Bahn-System. Dafür wird ein Kaleidoskop von skurrilen bis gewalttätigen Begebenheiten dargeboten, das sich als erheiterndes Moment im zunehmend düster werdenden Thrillergewebe erweist. Allerdings erreicht die Comedy nie das tiefe Niveau von Klamauk. (Das ist eher schon in den Deleted Scenes zu sehen.)
Neben diesen beiden starken Elementen, die auch Action umfassen, gibt es selbstverständlich auch eine Liebesgeschichte. Zwischen dem Kontrolleur Bulcsu und der aus Prinzip schwarzfahrenden Sofie entspinnt eine schön schräge Romanze, in der sich Sofie als Seelenführerin à la Eurydike erweist, die ihren Orpheus aus der Verbannung in der Unterwelt erlöst und zurück in das Land der Lebenden führt. Das ist ohne Kitsch und ohne schmalzige Dialoge erzählt, mit einfachen Bildern, die genügend aussagen, um die Sache zu kapieren. Es gibt also auch für die verhasstesten Zeitgenossen Budapests, die Kontrolleure, nicht nur eine Hölle, sondern auch Hoffnung auf einen Himmel.
„Kontroll – Jeder muss bezahlen“ ist wie eine Neuerzählung der antike Sage von Orpheus und Eurydike in der Unterwelt, mit umgekehrten Vorzeichen. Natürlich gibt es Abweichungen vom ursprünglichen Mythos: Nicht Bulcsu, der moderne Orpheus, steigt hinab in den Hades, um seine Geliebte zu befreien, sondern sie ist es, die ihn befreit und an die Oberwelt holt. Bevor dies jedoch geschehen kann, zeigt sie ihm die Verkörperung des Bösen, die er zuerst besiegen muss, bevor er ihr folgen kann.
Diese Geschichte, die der ganzen, möglicherweise etwas unübersichtlichen Handlung zugrundeliegt, hat nur einen kleinen, modern anmutenden Haken: Wir erfahren nie, warum Bucsu es eigentlich vorzieht, in der Unterwelt zu leben, 24 Stunden am Tag (er schläft hier sogar), so dass er mehr Ähnlichkeit mit dem großen Uhu hat, der hier lebt, als mit seinen Kollegen.
Damit der Film nicht zu düster ist, sorgen Bulcsus Kollegen für jede Menge Action, Blödsinn und skurrile Situationen. Verständigungsschwierigkeiten, Verarschung, Bestechungsversuche – der Frustfaktor ist ganz schön hoch. Daher ist ein penetranter Herausforderer wie der Rod Runner (wie er nur in den Untertiteln genannt wird), hochwillkommen. Das führt zu Tempo, Spaß und witzigen Situationen.
Die Musik der Gruppe NEO begleitet die Szenen mit variationsreicher Musik. Diese wechselt von Folk-Ballade über Jazz (eine Trompete wie Miles Davis) zu hartem Techno in nur wenigen Minuten. Diesen Soundtrack würde ich mir gerne als CD zulegen. Die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, dass die Musik auch in Ungarn gut ankam.
Die DVD
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Technische Infos
Bildformate: 16:9 (1:1,85 anamorph)
Tonformate: D in DTS und DD 5.1, Ungarisch in DD 2.0
Sprachen: D, Ungarisch
Untertitel: D
Extras:
- Originaltrailer
- Filmografien von Nimrod Antal und Darsteller Sandor Csanyi
- Geschnittene Szenen
- Produktionsnotizen
- Making-of
- Storyboards
Mein Eindruck: die DVD
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Obwohl die Licht- und Soundverhältnisse im Budapester Untergrund sicher alles andere als günstig waren man drehte 40 Tage lang zwischen 23:30 und 4:30 Uhr -, kann sich die Bildqualität des Hauptfilms durchaus sehen lassen. Beim Bild sollte man aber beachten, dass der Kameralinse ein Filter aufgesetzt wurde, der allen Bildern einen Blaustich hinzufügte. Der Unterschied zum realen Licht ist anhand der Dokumentation des Making-ofs zu begutachten: Tatsächlich scheint nämlich in der U-Bahn ein warmes gelbes Licht statt des kalten im Film. Der Sound kommt ins DTS-Qualität daher und lässt sich als einwandfrei einstufen, was sich besonders an der hervorragenden Wiedergabe der Musik bemerkbar macht.
Neben der Werbung in Form des Trailers (1:50 Min.) bietet die Bonus-Disc eine Fülle von Material, das der Bezeichnung „Special Edition“ seine Berechtigung verleiht. Das Making-of von 16:12 Minuten Länge ist eine spannende und lehrreiche Viertelstunde und hält für den Zuschauer zahlreiche Aha-Momente bereit. Der von einem Erzähler dargebotene Werkstattbericht präsentiert nicht nur die Entstehung des Films, sondern verrät auch, welche Koryphäen des ungarischen Filmgeschäfts dabei ganz nebenbei mitgewirkt haben. Wer mal über die genannten Namen googeln würde, könnte schnell einen guten Zugang zur dortigen Filmszene erhalten.
Der Regisseur Antal Nimrod kam ursprünglich aus den USA und brachte von dort einiges Wissen über das Vorbereiten und Drehen eines Films mit. „Kontroll“ ist sein erster abendfüllender Spielfilm und war für die kleine ungarische Filmindustrie eine gewisse Herausforderung. In einer der beiden Filmografien gibt der Regisseur ein paar interessante Statements. Sie werden von Aussagen seines Hauptdarstellers Sandor Csanyi ergänzt, der verrät, dass er in einer der Szenen tatsächlich Todesangst erlebte!
Antal Nimrod kommentiert die jeweils nachfolgenden Geschnittenen Szenen, die insgesamt eine Länge von mehr als 25 Minuten haben. Es lohnt sich vielleicht, all dieses Material anzuschauen, aber nur für den, der „langsame“ Szenen und Wiederholungen ertragen kann. Die „Produktionsnotizen“ sind im Vergleich viel interessanter. Dazu gehört zum das „Drehen in der U-Bahn“. Da ist die Rede von einem verletzten Darsteller, der den Drehplan zurückwarf, und von der Unmöglichkeit, gewisse Drehorte akustisch zu erfassen.
Außerdem erfahren wir mehr über die Budapester Metro, die im Jahr 1896 eröffnet wurde und somit die älteste auf dem europäischen Festland ist, noch vor Paris und Moskau. Die realen heutigen Verhältnisse sind natürlich nicht so abgefahren wie im Film, aber es gibt doch offenbar immer noch verborgene Tunnel und Röhren, wie sie im Film eine Rolle spielen.
Das Making-of lässt sich gut mit den Storyboards verbinden. Wir können drei Szenen begutachten und dabei die finale Filmpräsentation mit der von Antal Nimrod gezeichneten Vorlage vergleichen: der Anfang mit der betrunkenen Frau in den roten Schuhen; das Wettrennen zwischen Bulcsu und Gonzo sowie Bulcsus horriblen Traum, in dem ihn Bärchen zum Versteck des Kapuzenmanns führt.
Unterm Strich
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Erst beim zweiten Mal Ansehen erschließen sich dem Betrachter die Qualitäten von „Kontroll“: Humor, Action, Romanze und Drama sind hier einigermaßen gut vereinigt. Der Film gewann in Cannes den Prix de Jeunesse für die Beste Regie, wurde für den Europäischen Filmpreis nominiert und gewann auf dem Chicagoer Filmfestival einen Ersten Preis (Grand Hugo).
Wer bereit ist, sich auf einen langsamen Film mit ungewöhnlichem Schauplatz und ungewohnter Optik (wie der Anfang von „Matrix: Revolutions“, nur viel düsterer) einzulassen, wird mit einem bewegenden, erheiternden und bis zum Schluss befriedigenden Filmerlebnis belohnt. Die DVD trägt dazu bei, den Entstehungskontext komplatt auszuleuchten und macht so einen Regiekommentar unnötig.
Michael Matzer (c) 2006ff
28 Bewertungen, 5 Kommentare
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01.03.2006, 01:22 Uhr von guts2607
Bewertung: sehr hilfreichKanst du mir mal erklären was es mit dem Schluss auf sich hat? Aber der Film war sonst genial.
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02.01.2006, 20:35 Uhr von Lotosblüte
Bewertung: sehr hilfreichNein, eigentlich nichts für mich. <br/>lg
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02.01.2006, 19:51 Uhr von morla
Bewertung: sehr hilfreichsehr hilfreich <br/>
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02.01.2006, 19:40 Uhr von LiLaLaunemonster
Bewertung: sehr hilfreichKlasse Bericht alles drin was man wissen muss! MFG LiLa
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02.01.2006, 19:40 Uhr von Lidlefood
Bewertung: sehr hilfreichsehr hilfreich <br/>
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