Kurzgeschichten Testbericht

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Erfahrungsbericht von Joe69

DER BESUCH DER ALTEN DAME

Pro:

Kurzgeschichte soll zum Nachdenken anregen.

Kontra:

nichts

Empfehlung:

Ja

Liebe Yopi-Gemeinde, liebe Gäste,

keine Angst, ich bringe keinen Abklatsch auf Friedrich Dürrenmatt. Das würde meiner Verehrung ihm gegenüber doch Abbruch tun.

Vielmehr möchte ich die Geschichte „meiner“ alten Dame erzählen, jener Episode, die sich täglich mitten unter uns abspielt. Zuerst habe ich darüber gelacht, dann nur noch gelächelt, bis ich anfing ernsthaft nachzudenken.

Früher, als ich bis zur Abfahrt meines Zuges noch etwas Zeit hatte, trank ich im Stehausschank des Stuttgarter Hauptbahnhofes eine Cola oder sonstiges Erfrischungsgetränk.

Gedankenverloren schaue ich auf die mehr oder wenig hektischen Menschen die kommen oder gehen. Es ist ein stetiges Kommen oder Gehen, monoton, und in der Anonymität geht jeder an jedem achtlos vorüber. Keiner hat für den anderen ein Wort. Warum auch?

Es war an einem kalten Wintertag, als etwas außergewöhnliches passierte: Der Besuch der alten Dame.

Nach meiner Schätzung dürfte sie etwa 70 Jahre alt gewesen sein. Sie betrat den Hauptbahnhof vom Haupteingang her, in der linken Hand trug sie eine Plastiktüte, in der rechten Hand einen Stecken, den sie von der Straße aufgelesen zu haben schien. Müden Schrittes kam sie zum Stehausschank und ich fragte mich, wozu der Besuch der alten Dame wohl dienen mochte. Sie trug einen Mantel mit Pelzkragen und hatte eine Pelzmütze auf dem Kopf. Arm konnte sie also nicht sein, obwohl ich nicht beurteilen konnte, ob beides echt war.
Jedenfalls sah sie sehr gepflegt aus.

Beim ersten Mal habe ich gelacht, als eben jene alte Dame anfing, in den Abfalleimern, die unter und bei den Stehbiertischen des Hauptbahnhofes aufgestellt sind, zu stochern. Mit dem besten Willen konnte ich mir nicht vorstellen, was das sollte.

Da! Ein halbes Brötchen, weggeworfen von einem eiligen Gast, fischte sie mit ihrem Stecken heraus und lies es in ihrer Plastiktüte verschwinden.
Da! Der Rest einer Wurst, ein Stück einer Brezel. Alles verschwand in ihrer Plastiktüte.

„Oh, diese Menschen werfen so viel weg....“ hörte ich sie murmeln, und ich musste unwillkürlich grinsen. Der Anblick war irgendwie lustig: Die alte Dame im Pelz stochert im Abfall. Was soll das alles? Sie wird diese Abfälle wohl doch nicht essen.
Was aber bewegt einen älteren Menschen, noch dazu eine Dame, Abfälle zu sammeln?

Das gleiche Schauspiel konnte ich noch einige Male beobachten. Jedoch erstarb mir allmählich das Lachen und Lächeln auf den Lippen. Als ich nämlich hörte, daß eben diese alte Dame mit den Abfällen unserer Wohlstandsgesellschaft die gerade im Winter bedrohte Tierwelt füttert, ist mir das Lachen gänzlich vergangen und ich habe angefangen, nachzudenken. Ich habe angefangen nachzudenken über die Tierwelt, über unsere sogenannte Wohlstandsgesellschaft.

Ich habe über mich nachgedacht und über den Sinn des Altwerdens und des Alters. Und ich kam zu dem Schluß: vom Besuch der alten Dame kann man allerhand lernen. Und sei es nur das Nachdenken.

Tun wir es. Bald.


Die 5 Punkte beziehen sich auf den Versuch, zum Nachdenken anzuregen.


Fürs Lesen, Bewerten und Kommentieren freut sich wie immer

Euer Joachim



© Joe69 04/2004


Ich poste auch bei www.ciao.com unter gleichem nick.

37 Bewertungen, 1 Kommentar

  • Zuckermaus29

    20.04.2006, 14:21 Uhr von Zuckermaus29
    Bewertung: sehr hilfreich

    "sh" von mir für Dich! <br/>Liebe Grüße <br/>Jeanny