Kurzgeschichten Testbericht

No-product-image
ab 10,41
Auf yopi.de gelistet seit 10/2003

Erfahrungsbericht von schneeweisschen

Kreidepünktchen

Pro:

***

Kontra:

***

Empfehlung:

Ja

Dort saß er.

Den Blick gesenkt auf seine Hände, als hoffte er Antworten in ihnen zu finden. Antworten auf Fragen, die er nie laut gestellt hatte. Als hätte ihn jemand vor drei Stunden an diesen Ort bestellt und wäre dann selbst nicht erschienen. Und er, fremd in dieser Gegend, wüsste nun nicht, wohin er gehen sollte. Die Kastanienblätter, die vor ihm auf den Boden fielen, beachtete er nicht.
Zwei Straßenbahnen hatte er bereits davon fahren lassen. Es war zu kalt, um auf einer Metallbank in einem zugigen Wartehäuschen zu sitzen. Aber das interessierte ihn scheinbar nicht.

Sie sah ihn, beobachtete ihn ungeniert von ihrem warmen Platz im Café. Schaute ihm zu, wie er die Hand hob, um sich für einen Moment an der Nase zu reiben und dann sofort wieder in seiner vermeintlichen Lethargie zu versinken. Gedankenverloren rührte sie mit dem Löffel in ihrem Cappuccino. Der Milchschaum war schon längst in sich zusammengefallen, tödlich getroffen und außerstande noch weitere fantasievolle Kaffeelöffel-Gemälde in sich entstehen zu lassen. Sie kannte seine Augen. Dunkel wie eine Schultafel. Mit ein paar leuchtenden Kreidepünktchen, wenn er lachte. Woran erinnerte sie das nur?

Ganz langsam hob er den Kopf. Er musste gemerkt haben, dass jemand den Blick nicht von ihm wenden konnte. Er kannte ihre Augen. Hell und klar wie das Wasser im Königssee. Woran erinnerte ihn das nur? Er lächelte, und sie erkannte, obwohl das auf die Entfernung unmöglich war, die Kreidepünktchen.

„Die Vergangenheit ist dazu da, dass wir uns an sie erinnern; die Zukunft ist da, um von ihr zu träumen“. Dieser Satz war von ihm. Und jetzt wusste sie wieder, wer er war. Sie sprang auf, legte einen Geldschein auf den Tisch und warf sich ihre Jacke über, während sie nach draußen lief. Sie verfluchte die Straßenbahn, die ausgerechnet jetzt kam und ihr den Weg zu ihm versperrte. Als sie endlich an der Haltestelle ankam, war er verschwunden.


Abschied
Nicht zum ersten Mal
Doch dieses Mal endgültig

28 Bewertungen