Erfahrungsbericht von diva68
Von Zeugnissen und Zappa
Pro:
-
Kontra:
-
Empfehlung:
Ja
Schon am Morgen, als ich mich mit meinem orangefarbenen Bonanzarad auf den Weg zur Schule machte, hatte ich so ein komisches Gefühl. Daggi und Dörte sahen auch ganz missmutig aus. Daggi mit ihrem quietschgelben Pollunder, um den ich sie so beneidete. Und Dörte, die bei jedem Wetter einen coolen Bundeswehrparka trug. Wir fühlten uns alle nicht besonders. Dörte wusste genau, dass sie `ne Fünf in Mathe bekommen würde. Frau Behrends, unsere Klassenlehrerin, hatte es schon Dörtes Mutter gepetzt. Und wir litten mit ihr. Schließlich waren wir Freundinnen.
Nach zehn Minuten schweigsamer Fahrt kamen wir bei der Schule an und schlossen unsere Räder ab. Daggi gab mir die Cassette, die sie mir aufgenommen hatte. „Hier, Frank Zappa...“ Ich bekam rote Ohren. Wir hatten neulich heimlich bei ihr zu Hause eine Radiosendung gehört, zufällig, die sich nur mit Zappas Album „Sheik Yerbouti“ beschäftigte. Und da war uns klar geworden, dass unsere Kindheit ihrem Ende zu ging. Für einen Moment war ich abgelenkt.
Die anderen waren schon in der Klasse. Wir setzen uns auf unsere Plätze, und da kam auch schon Frau Behrends. Eigentlich war sie ne nette Lehrerin. Daggi fand zwar, Frau Behrends sei langweilig, so wie ihr Unterricht. Aber ich war anderer Meinung.
Ich drehte mich zu Dörte um. Sie rutschte immer tiefer in ihrem Stuhl, denn Frau Behrends holte den Stapel mit den Zeugnisheften heraus. Ich musste plötzlich dringend aufs Klo. Daggi spielte nervös an dem Behälter für ihre Zahnspange herum, den sie immer an einem langen Band um den Hals trug.
Der Reihe nach wurden wir aufgerufen. Eigentlich gehe ich gern zur Schule, aber Zeugnisse müssen nun wirklich nicht sein. „Dörte Becker!“ Frau Behrends rief Dörte nach vorn. Die Arme. Ganz blass wirkte sie. Und ihr Bundeswehrparka war auf einmal gar nicht mehr so cool. Sie nahm das Zeugnisheft entgegen und schlich sich wieder auf ihren Platz.
Nun kam auch ich dran. Danach Daggi. Es waren keine großen Überraschungen bei unseren Zensuren. Soweit alles in Ordnung. Aber was sollten wir jetzt mit Dörte machen? Als Frau Behrends endlich fertig war mit der Zeugnisausgabe, wünschte sie uns allen noch schöne Ferien, und dann sahen wir zu, dass wir uns für die nächsten sechs Wochen möglichst weit von diesem Gebäude entfernt hielten.
„Komm, Dörte“, sagte Daggi aufmunternd, „es sind Ferien. Lasst uns zum kleinen Lädchen fahren und mal gucken, welches Eis die heute da haben...!“ „Oh ja, das schockt!“ rief ich begeistert. Dörte sah man ihre Begeisterung zwar nicht an, aber sie setzte sich auf ihr braunes 26er-Rad, das ihr noch viel zu groß war, und kam hinterher.
Das „kleine Lädchen“ war ein Edeka-Markt, ganz in der Nähe der Schule, dessen Besitzer sich wahrscheinlich heute auf einer Südsee-Insel zur Ruhe gesetzt haben. Generationen von Schülern gaben dort ihr Taschengeld für Süßigkeiten und Zeitschriften aus. Der Laden lag einfach goldrichtig. Im Winter kauften wir uns dort immer Saure Pommes und Salinos für 10 Pfennig das Stück. Im Sommer gab es nur eines, in was wir unser Taschengeld investieren: „Brauner Bär“.
„Brauner Bär“ kostete 60 Pfennig, war ein so genanntes Stieleis und schmeckte uns oberlecker. „Drei Brauner Bär“, sagte Daggi zu Frau Schulte hinter der Kasse. „Einsachtzig.“ Frau Schulte legte das kostbare Gut auf das Laufband. Dörte bezahlte, und voller Vorfreude griffen wir alle nach unserem Eis.
Vor dem Laden gab es ein Geländer, das Kinder davon abhalten sollte, unvermittelt auf die Strasse zu laufen. Wir setzten uns auf das Geländer, wir waren schließlich (fast) keine Kinder mehr, und schleckten unser Eis.
Auf der Verpackung war ein Indianer abgebildet, der auf einem braun-weiss-gescheckten Pferd ritt, Pfeil und Bogen in Bereitschaft. Das Eis selbst sah man auch, im Anschnitt, ebenso den Schriftzug „Brauner Bär“.
Das Eis bestand aus entrahmter Milch, 18% Karamellmasse, Zucker, Pflanzenfett, Molkenerzeugnis, kakaohaltiger Fettglasur, Glukosesirup, Aroma, Karamellzuckersirup und ein paar weiteren Zutaten, von denen ich im Leben noch nichts gehört hatte.
Wenn man alles über das Eis erfahren wollte, konnte man beim Hersteller Langnese direkt anrufen. Für 12 Pfennig in der Minute. Aber wir wollten nichts darüber wissen, wir wollten es essen.
Das leicht nach Karamell schmeckende Milcheis hatte eine in Schokolade getauchte Spitze und, das Beste, einen Karamellkern im Inneren. Eigentlich mochten wir „Brauner Bär“ nur deshalb, weil das Eis drum herum die Vorfreude auf den Karamellkern verschönerte. Er war einfach das Größte. Man konnte ziemlich lange daran herumlutschen, bis der Kern ganz vom Stiel verschwunden war. Köstlich!
Dörtes Gesichtsausdruck entspannte sich zusehends. „Lecker, nicht?“ sah sie uns schmatzend an. „Pass auf“, sagte ich „es tropft!“ Aber da hatten sich ein paar Tropfen des geschmolzenen Eises bereits ihren Weg auf Dörtes Jingler gebahnt. „Das macht heute auch nichts mehr aus...“lachte Dörte und schien das schlechte Zeugnis bereits vergessen zu haben.
„Komisch“, sagte Daggi, „bei diesem Eis muss man immer höllisch aufpassen. Entweder es ist viel zu gefroren. Dann muss man warten, bis es leicht angetaut ist. Denn erst dann schmeckt es wirklich gut...“ „..oder es tropft einem gleich auf den Boden, weil es schon zu weich ist“, ergänzte ich.
„Stimmt“, sagte Dörte. „Vielleicht will das Eis uns damit sagen, dass es für alles im Leben nur den einen, richtigen Moment gibt.“ Verblüfft sahen Daggi und ich sie an.
War der Indianer auf der Verpackung doch kein Zufall? War „Brauner Bär“ ein weiser Häuptling?
****
Wenn ich an uns drei zurückdenke, an diesen letzten Schultag vor den großen Ferien, an unsere kindliche Zufriedenheit, die sich schon mit dem Verzehr eines leckeren Eises einstellte, dann weiß ich heute, dass ich in dem Moment genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort war.
Nach zehn Minuten schweigsamer Fahrt kamen wir bei der Schule an und schlossen unsere Räder ab. Daggi gab mir die Cassette, die sie mir aufgenommen hatte. „Hier, Frank Zappa...“ Ich bekam rote Ohren. Wir hatten neulich heimlich bei ihr zu Hause eine Radiosendung gehört, zufällig, die sich nur mit Zappas Album „Sheik Yerbouti“ beschäftigte. Und da war uns klar geworden, dass unsere Kindheit ihrem Ende zu ging. Für einen Moment war ich abgelenkt.
Die anderen waren schon in der Klasse. Wir setzen uns auf unsere Plätze, und da kam auch schon Frau Behrends. Eigentlich war sie ne nette Lehrerin. Daggi fand zwar, Frau Behrends sei langweilig, so wie ihr Unterricht. Aber ich war anderer Meinung.
Ich drehte mich zu Dörte um. Sie rutschte immer tiefer in ihrem Stuhl, denn Frau Behrends holte den Stapel mit den Zeugnisheften heraus. Ich musste plötzlich dringend aufs Klo. Daggi spielte nervös an dem Behälter für ihre Zahnspange herum, den sie immer an einem langen Band um den Hals trug.
Der Reihe nach wurden wir aufgerufen. Eigentlich gehe ich gern zur Schule, aber Zeugnisse müssen nun wirklich nicht sein. „Dörte Becker!“ Frau Behrends rief Dörte nach vorn. Die Arme. Ganz blass wirkte sie. Und ihr Bundeswehrparka war auf einmal gar nicht mehr so cool. Sie nahm das Zeugnisheft entgegen und schlich sich wieder auf ihren Platz.
Nun kam auch ich dran. Danach Daggi. Es waren keine großen Überraschungen bei unseren Zensuren. Soweit alles in Ordnung. Aber was sollten wir jetzt mit Dörte machen? Als Frau Behrends endlich fertig war mit der Zeugnisausgabe, wünschte sie uns allen noch schöne Ferien, und dann sahen wir zu, dass wir uns für die nächsten sechs Wochen möglichst weit von diesem Gebäude entfernt hielten.
„Komm, Dörte“, sagte Daggi aufmunternd, „es sind Ferien. Lasst uns zum kleinen Lädchen fahren und mal gucken, welches Eis die heute da haben...!“ „Oh ja, das schockt!“ rief ich begeistert. Dörte sah man ihre Begeisterung zwar nicht an, aber sie setzte sich auf ihr braunes 26er-Rad, das ihr noch viel zu groß war, und kam hinterher.
Das „kleine Lädchen“ war ein Edeka-Markt, ganz in der Nähe der Schule, dessen Besitzer sich wahrscheinlich heute auf einer Südsee-Insel zur Ruhe gesetzt haben. Generationen von Schülern gaben dort ihr Taschengeld für Süßigkeiten und Zeitschriften aus. Der Laden lag einfach goldrichtig. Im Winter kauften wir uns dort immer Saure Pommes und Salinos für 10 Pfennig das Stück. Im Sommer gab es nur eines, in was wir unser Taschengeld investieren: „Brauner Bär“.
„Brauner Bär“ kostete 60 Pfennig, war ein so genanntes Stieleis und schmeckte uns oberlecker. „Drei Brauner Bär“, sagte Daggi zu Frau Schulte hinter der Kasse. „Einsachtzig.“ Frau Schulte legte das kostbare Gut auf das Laufband. Dörte bezahlte, und voller Vorfreude griffen wir alle nach unserem Eis.
Vor dem Laden gab es ein Geländer, das Kinder davon abhalten sollte, unvermittelt auf die Strasse zu laufen. Wir setzten uns auf das Geländer, wir waren schließlich (fast) keine Kinder mehr, und schleckten unser Eis.
Auf der Verpackung war ein Indianer abgebildet, der auf einem braun-weiss-gescheckten Pferd ritt, Pfeil und Bogen in Bereitschaft. Das Eis selbst sah man auch, im Anschnitt, ebenso den Schriftzug „Brauner Bär“.
Das Eis bestand aus entrahmter Milch, 18% Karamellmasse, Zucker, Pflanzenfett, Molkenerzeugnis, kakaohaltiger Fettglasur, Glukosesirup, Aroma, Karamellzuckersirup und ein paar weiteren Zutaten, von denen ich im Leben noch nichts gehört hatte.
Wenn man alles über das Eis erfahren wollte, konnte man beim Hersteller Langnese direkt anrufen. Für 12 Pfennig in der Minute. Aber wir wollten nichts darüber wissen, wir wollten es essen.
Das leicht nach Karamell schmeckende Milcheis hatte eine in Schokolade getauchte Spitze und, das Beste, einen Karamellkern im Inneren. Eigentlich mochten wir „Brauner Bär“ nur deshalb, weil das Eis drum herum die Vorfreude auf den Karamellkern verschönerte. Er war einfach das Größte. Man konnte ziemlich lange daran herumlutschen, bis der Kern ganz vom Stiel verschwunden war. Köstlich!
Dörtes Gesichtsausdruck entspannte sich zusehends. „Lecker, nicht?“ sah sie uns schmatzend an. „Pass auf“, sagte ich „es tropft!“ Aber da hatten sich ein paar Tropfen des geschmolzenen Eises bereits ihren Weg auf Dörtes Jingler gebahnt. „Das macht heute auch nichts mehr aus...“lachte Dörte und schien das schlechte Zeugnis bereits vergessen zu haben.
„Komisch“, sagte Daggi, „bei diesem Eis muss man immer höllisch aufpassen. Entweder es ist viel zu gefroren. Dann muss man warten, bis es leicht angetaut ist. Denn erst dann schmeckt es wirklich gut...“ „..oder es tropft einem gleich auf den Boden, weil es schon zu weich ist“, ergänzte ich.
„Stimmt“, sagte Dörte. „Vielleicht will das Eis uns damit sagen, dass es für alles im Leben nur den einen, richtigen Moment gibt.“ Verblüfft sahen Daggi und ich sie an.
War der Indianer auf der Verpackung doch kein Zufall? War „Brauner Bär“ ein weiser Häuptling?
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Wenn ich an uns drei zurückdenke, an diesen letzten Schultag vor den großen Ferien, an unsere kindliche Zufriedenheit, die sich schon mit dem Verzehr eines leckeren Eises einstellte, dann weiß ich heute, dass ich in dem Moment genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort war.
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