Lebensberichte Testbericht

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Erfahrungsbericht von LoMei

Weihnachtserinnerungen

Pro:

Wir hatten Zeit füreinander.

Kontra:

Wir waren arm.

Empfehlung:

Nein

Das Weihnachtsfest hat heute ein ganz anderes Gesicht als vor über fünfzig Jahren. Die Geschäfte mit einem überquellenden Warenangebot und strahlendhellen Schaufenstern waren unbekannt. Es gab keine Einkaufspassagen in denen aus Lautsprechern ununterbrochen Weihnachtsmusik ertönte, und wir waren arm und hatten Hunger. Trotzdem gehören die Erinnerungen zu den schönsten.


ZUM INHALT

1. Unsere Situation nach dem zweiten Weltkrieg.
2. Weihnachten 1945.
3. Weihnachten 1946.
4. Die Dorfschule.
5. Lesungen in der Adventszeit.
6. Schulweihnachtsfeiern.
7. Ein Tannenbaum für unseren Lehrer 1947.
8. Fazit.


1. UNSERE SITUATION NACH DEM ZWEITEN WELTKRIEG

Wir waren im April 1945 aus Pommern kommend nach dreiwöchiger Irrfahrt in einem kleinen holsteinischen Dorf in der Nähe von Hamburg gelandet. Dort wohnten wir einige Jahre in einem kleinen Zimmer, das sich im Obergeschoss eines nicht sehr großen Hauses befand. Es hatte eine Größe von 16 qm (4 x 4 m). In einer Ecke des Raumes befand sich ein Kanonenofen, auf dem auch gekocht wurde. In der Mitte stand ein ovaler Tisch, der heute eine wertvolle Antiquität wäre. Das gleiche galt für einen Armsessel. Es gab ein Klappbett und ein Bett. An die genaue Einrichtung kann ich mich nicht mehr erinnern. Wir waren fünf Personen, meine Mutter, die Oma, mein kleiner Bruder (3), meine Schwester (6) und ich (9). Die Oma und ich schliefen zusammen in einem Bett.
Wasser musste von der Pumpe auf dem benachbarten Bauernhof geholt und das Schmutzwasser runtergetragen und fortgegossen werden.
Das Klo war in einem kleinen Schuppenanbau über den Hof. Als ich größer war, gehörte es zu meinen Aufgaben, den „Goldeimer“ fortzutragen und zu entsorgen.


2. WEIHNACHTEN 1945

In der Zeit unmittelbar nach dem Kriege herrschte Mangel an fast allem. Ich weiß, dass unsere Großmutter oft selber auf ihr Stück Brot verzichtete, damit meine Geschwister und ich satt würden.
Als das erste Weihnachtsfest des Jahres 1945 näher kam, wurden wir Kinder darauf vorbereitet, dass der Weihnachtsmann auch nicht viel habe und möglicherweise gar nicht kommen könne. Wir warteten ab. Es gab eine bescheidene Bescherung mit einigen lebenswichtigen Dingen wie gestrickten Strümpfen und dergleichen. Plötzlich hörten wir auf der Treppe Schritte. Eine Frau aus der Nachbarschaft erschien mit einem großen Karton. Darin waren neben Kleidungsstücken vor allem auch Spielzeug. Wir waren selig.


3. WEIHNACHTEN 1946

Ein Jahr später war die Situation auch nicht besser. Wir saßen in unserem kleinen Zimmer und hatten gerade angefangen etwas zu essen. Da fing es auf der Treppe an zu poltern. Ich merkte sofort, das war viel lauter als im Jahr davor. Unsere Mutter schaute uns unsicher an. Sie hatte keine Ahnung. Ja, und dann kam der richtige Weihnachtsmann. Als er in der Tür stand, verschwand der damals fast vierjährige Arno blitzschnell unter dem Sofa und kam erst nach längerer Überredung wieder hervor. Ich sah mir den Weihnachtsmann genau an und wollte herausbekommen, wer da vor uns stand. Ich erkannte Mantel, Kapuze und Bart, weil diese Dinge bei unserem Theaterspiel in der Schule benutzt worden waren. Aber das war auch alles. Der Weihnachtsmann fragte mit verstellter Stimme, ob wir artig gewesen wären und ob wir wohl ein Gebet aufsagen könnten. Als das zu seiner Zufriedenheit ausfiel, öffnete er seinen ziemlich großen Sack und packte aus. Es kamen Speck, Butter, Eier und alles was knapp und teuer war, zum Vorschein. Auch Köstlichkeiten für Kinder waren dabei. Als er sich dann mit Ermahnungen zum Bravsein verabschiedete, ging unsere Mutter ihm nach, um sich unserem Kinderdank anzuschließen. Erst jetzt stellte sie fest, dass es ein Bauer vom anderen Ende des Dorfes war. Es war für alle eine echte Überraschung.
Im Laufe des vorangegangenen Sommers hatte Mutter ihre Kenntnisse am Spinnrad und am Webstuhl an seine Töchter weiter gegeben. Wir haben uns dann zusammengereimt, dass die nun ihrerseits den Weihnachtsmann aktiviert hatten.


4. DIE DORFSCHULE

Die Schule war ursprünglich eine einklassige Dorfschule. Alle Kinder von der ersten bis zur letzten Volksschulklasse wurden in einem Raum unterrichtet. So war es jedenfalls bis zum Jahre 1945 gewesen. Aber nun waren viele heimatvertriebene Familien in das Dorf gekommen. Die Kinderzahl ließ nach Kriegsende eine Weiterarbeit auf dieser Basis nicht mehr zu.
Wir waren 55 Schulkinder. Es wurde in zwei Schichten unterrichtet. In der Grundstufe wurden nachmittags die Schuljahre 1-4 und in der Oberstufe vormittags die Schuljahre 5-9 zusammengefasst.
Mein Lehrer war der Schulleiter. Er hatte den Vornamen Hubert. So redeten wir ihn zwar nicht an, aber wir Kinder sprachen unter uns immer nur von Hubert. Er war Junggeselle und ging in seinem Beruf auf und hat Generationen geprägt.


5. LESUNGEN IN DER ADVENTSZEIT

Am ersten Advent wurde die erste Kerze des Adventskranzes angezündet. Die Deckenlampe in der Nähe der Wandtafel wurde ihres Schirmes beraubt und der Herrenhuter Weihnachtsstern daran montiert. Hubert las Weihnachtsgeschichten vor. Alle Kinder kamen und saßen dichtgedrängt in den Bänken und waren mucksmäuschenstill. Auf dem Tisch stand neben dem Adventskranz eine Leselampe. Manche Geschichten kamen in jedem Jahr dran. Ich erinnere mich besonders an „Als ich Christtagsfreuden holen ging“ von Peter Rosegger, „Das Triptychon der heiligen drei Könige“ von Felix Timmermans, „die Legende von der Christrose“ von Selma Lagerlöf, „Der Weihnachtsabend“ von Rudolf Kinau und viele andere. Diese Abende hatten einen besonderen Zauber, der in jedem Jahr erneuert wurde.


6. SCHULWEIHNACHTSFEIERN

An jedem 3. Advent war in der Schule eine Weihnachtsfeier. Es wurden meist drei kleine Laienspiele aufgeführt. Dabei wurde beachtet, dass jedes Kind eine Rolle bekam und mitwirkte. Drei Mädchen in einem weißen langen Hemd waren die Weihnachtsengel, die mit einer Kerze in den gefalteten Händen einmarschierten und zu Beginn des Abends in drei Abschnitten die Weihnachtsgeschichte aus dem Lukasevangelium aufsagten. Dann hielt Hubert eine Ansprache und leitete zu den Theaterstücken über. Viele Stücke stammten von Else Werkmeister. Die Titel lauteten: „Der Mond mit der roten Nase“, „Der Weihnachtsmann hat nichts anzuziehen“, „Der Weihnachtsmann kurbelt die Wirtschaft an“ und so weiter. In jedem Stück gab es viele Zwerge und Engel, und wir waren mit ihnen in eine verzauberte Welt eingebunden.
Die Schulweihnachtsfeier war zweifellos einer der jährlichen Höhepunkte im Dorfleben. Das Einüben der Rollen begann mit dem Lesen in Rollen. Das machten wir oft bei einem Bauern im Kuhstall. Dort war es warm und gemütlich. Wir saßen auf Strohballen, die so platziert waren, dass die Kühe uns mit ihren manchmal herumfliegenden Schwänzen nicht erreichen konnten. Noch heute habe ich den Stallgeruch in der Nase, sehe die wiederkäuenden Tiere und empfinde die wohlige Wärme jener Tage. Wenn die Rollen saßen, wurden im Schulraum mit Hubert die einzelnen Szenen mit Auftritten, Bewegungsabläufen und Abgängen einstudiert. Mir hat das immer sehr viel Spaß gemacht.
Manchmal wurden die Theaterstücke außerhalb des Dorfes ein zweites Mal aufgeführt. Das geschah einmal auf einer Weihnachtsfeier von Heimatvertriebenen im Nachbardorf und einmal bei der Firma Binné in Pinneberg.


7. EIN TANNENBAUM FÜR UNSERN LEHRER 1947

Hubert wohnte mit seiner Mutter im Schulhaus. Sie führte den Haushalt und hielt ihm für seine Arbeit den Rücken frei. Als sie im Februar 1947 starb, war das für ihn eine einschneidende Veränderung seines ganzen Lebens. Die Wohnung im Parterre wurde nun von einer vierköpfigen Familie bezogen. Die Kinder Horst und Jürgen gehörten zu unseren besten Freunden.
Hubert ließ im Unterricht einmal durchblicken, dass es für ihn zukünftig zu Weihnachten keinen Tannenbaum mehr geben werde.
Wir Jungen unterhielten uns darüber und fassten sehr kurzfristig den Entschluss, einen Baum zu besorgen und ihn damit zu überraschen. Mit einem kleinen Beil bewaffnet fuhren wir am Nachmittag des 24. Dezember auf unseren Rädern zum Forst Klövensteen. Dort schlugen wir ein kleines Bäumchen ab und rasten zurück ins Dorf. Irgendwie bekamen wir einen Tannenbaumfuß. Dann wurde etwas Lametta drangehängt und einige Kerzen befestigt. Wir hatten ziemlich starkes Herzklopfen, als wir leise die Treppe zu Huberts Zimmer hinauf stiegen. Dort sammelten wir uns kurz und stimmten „Stille Nacht, heilige Nacht“ an. Er öffnete seine Tür und stand eine sehr lange Weile unbeweglich nur so da. Dann räusperte er sich und bat uns mit belegter Stimme ins Zimmer. Wir drückten ihm die Hand und setzten uns irgendwo hin. Keiner sagte ein Wort. Wir waren plötzlich alle sehr verlegen. Er bot uns ein paar Plätzchen an und legte eine Platte auf. Ich glaube, es war der Pilgerchor aus Wagners Tannhäuser. Wir hörten schweigend die Musik an. Als wir gingen, bedankte er sich und sagte noch, wir würden erst sehr viel später begreifen, was dieser Tannenbaum für ihn heute bedeute.


8. FAZIT

Damals habe ich begriffen, dass Weihnachten nicht nur bedeutet, beschenkt zu werden, sondern dass es froh macht, wenn man anderen eine Freude bereitet.
Wir Geschwister treffen uns regelmäßig zu Weihnachten und reden heute nach über 50 Jahren immer noch von der Nachkriegsweihnacht. Wir protestieren übrigens vehement, wenn jemand behauptet, es gäbe keinen Weihnachtsmann.
Die Konsumgesellschaft von heute gab es damals nicht. Wir konnten uns an Kleinigkeiten begeistern. Ich hoffe, dass der Überfluss mit all seinen Möglichkeiten uns Menschen nicht die Fähigkeit raubt, die kleinen Dinge zu entdecken und uns über sie zu freuen..
Ich wünsche allen Lesern eine besinnliche Weihnacht, in der auch die leisen Töne gehört werden, und dass nicht in Vergessenheit gerät, wer in der heiligen Nacht geboren wurde.

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