Steiermark Testbericht

Steiermark
ab 9,12
Auf yopi.de gelistet seit 09/2003

5 Sterne
(6)
4 Sterne
(1)
3 Sterne
(0)
2 Sterne
(0)
1 Stern
(0)
0 Sterne
(0)

Erfahrungsbericht von cxgirl

`Kulturhauptstadt 2003

Pro:

-

Kontra:

-

Empfehlung:

Ja

Sie einzeln zu zählen, kann zur Lebensaufgabe werden: die Dachziegel von Graz. Knapp zehntausend davon schmücken den Uhrturm, das Wahrzeichen der Stadt, genauer gesagt: 9.788 Biberschwanzziegel. In der gesamten Altstadt dürften sich Millionen befinden. Hier bilden sie eine gewaltige rote, natürlich ziegelrote Landschaft, die so einzigartig ist, dass die Unesco dafür das Prädikat „wertvoll“ springen ließ. In diesem Fall heißt das „Weltkulturerbe“. Oder, wie es der steirische Schriftsteller Reinhard P. Gruber neudeutsch formulierte: Graz spiele nun in der Champions League, so wie Athen mit seiner Akropolis. In diesen Wochen sind die Biberschwanzziegel – die im Mittelalter ihrer halbrunden Form wegen „Ochsenzungen“ oder „Kuhmäuler“ hießen – von Schnee bedeckt. Irgendwie schaut es so aus, als hielten sie Winterschlaf. Wahrscheinlich mit Rücksicht auf die „Kulturhauptstadt Europas“, die sich anschickt, nun neue Attraktionen in die Auslage zu stellen: die Muschel-Insel von Vito Acconci in der Mur; den gläsernen Lift, der einen beinahe in Augenhöhe mit der Marienstatue bringt; der gewaltige „Schatten“ aus Stahl, der am Schlossberg dem Uhrturm Konkurrenz macht. Avantgarde also.

Sicher, die Ausstellung „M_ARS – Kunst und Krieg“ in der Neuen Galerie, Souvenirs wie die Sacher-Masoch-Torte, die 2003-Baseballkappe oder das Maskottchen Cosmo sollen wahrgenommen werden. Aber all denen, die nun erst die Stadt im Südosten Österreichs entdecken, sei ein alter Rat von Wolfgang Bauer mit auf den (hoffentlich nicht unbedingt geradlinigen) Weg gegeben. „Ja, auch das Verirren oder wenigstens Herumirren gehört zum Erfassen und Erlernen einer Stadt“, schrieb der Dramatiker schon vor Jahren über die mitunter hämisch „Mur-Metropole“ genannte einstige Habsburger-Residenz. „Das Stadtbild wird zum Vexierspiegel, der Geruch steigt in die Nase und wird für immer erinnerbar sein. Es sind einfach Impressionen, die viele Reisende suchen, und je ,verirrter’ sie herumgehen, desto kräftiger werden diese Impressionen, weil sie nun plötzlich und vorurteilslos auf sie einwirken; deshalb empfehle ich, gerade Graz möglichst ohne Vorurteile zu durchforschen, um schließlich zu einem wirklich erlebnisreichen Urteil zu gelangen.“

Also los, rein in den mittelalterlichen Stadtkern mit seinen Renaissance-Palais und den Bürgerhäusern mit ihren bedeutsamen Häuptern. Kopf hoch, heißt es angesichts dieser Pracht. Einer wie Helmut Kocher kennt sowieso kaum eine andere Haltung, quasi eine Berufskrankheit. Der 35-jährige Grazer ist wie sein Vater Spengler und Dachdecker, wen wundert es da, dass er schon als Kind seine Heimatstadt vorwiegend aus der Vogelperspektive kennen gelernt hat. Dem „Graz 2003“-Projekt „Berg der Erinnerung“ stellte Kocher bereits historische Raritäten zur Verfügung: Dachziegel aus dem Jahr 1830 und eine alte Giebelspitze. Und auf der dazugehörigen Internetseite erinnert er sich, wie viel Mut die Ausübung dieses Handwerks, dem Graz sein zauberhaftes Antlitz verdankt, noch vor wenigen Jahrzehnten abverlangt hat: „Mitte der 70er-Jahre mussten wir das große schmiedeeiserne Kreuz der St. Andrä-Kirche vom Hauptturm für Restaurationsarbeiten demontieren.“ Ein harter Job: Mit einfachsten Hilfsmitteln errichtete sein Vater damals einen so genannten „Galgen“ am Turm, mit dem das schwere Kreuz zuerst hinunter und später wieder hinauf transportiert wurde. Längst stehen für derlei Tätigkeiten in großer Höhe Gerüste und Autokräne zur Verfügung. Damit aber bei all dem technischen Fortschritt die „antike“ Ästhetik der Dächer nicht unter die Räder kommt, ist die Zunft der Grazer Handwerker bemüht, der historischen Turm- und Dachlandschaft auch in Zukunft gerecht zu werden. Der aus einer alten Dachdecker-Familie stammende Günther Rath etwa ist Handwerker und Kunsthistoriker in einer Person, für kommenden November wird er in Graz einen internationalen Kongress zum Thema „Dächer und Fassaden“ veranstalten.

Zu diesem Zeitpunkt wird bereits das mit Spannung erwartete Kunsthaus der Londoner Architekten Peter Cook und Colin Fournier eröffnet sein – ein „friendly alien“, ein gewagt geformtes Überdrüber-Denkmal für die nächsten Jahrzehnte. Biberschwanzziegel sucht man dann an der Außenhaut dieses futuristischen Gebäudes zwar vergeblich, aber das stört die Grazer gar nicht. Denn dort, wo so einflussreiche Institutionen wie das Forum Stadtpark oder der „steirische herbst“ sich erfolgreich gegen den Mief des Alten wandten, haben Mittelalter und Moderne längst zu einer Partnerschaft gefunden.

14 Bewertungen