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Erfahrungsbericht von sugips

Pickwick statt Picknich. Charles Dickens: Die Pickwickier

Pro:

-

Kontra:

-

Empfehlung:

Ja

Der erste Lichtstrahl, der das Dunkel erhellt und blendenden Glanz in die Finsternis bringt, welche die öffentliche Laufbahn des Unsterblichen Pickwick anfangs zu verhüllen scheint, ist der sorgfältigen Durchsicht nachstehenden Protokolls in den Sitzungsberichten des pickwick-Klubs zu verdanken, das der Herausgeber dieser Papiere seinen Lesern mit größter Freude als einen Beweis für seine beflissene Aufmerksamkeit, den unermüdlichen Eifer und die peinlich genaue Unterscheidung vorlegt, mit denen er seine Nachforschungen unter den ihm anvertrauten mannigfaltigen Dokumenten geführt hat.

12. Mai 1927
den Vorsitz führte: Joseph Sniggers, Esq., SVPMdPK Folgende Beschlüsse wurden einstimmig angenommen: der Verein hat mit den Gefühlen ungeteilter Befriedigung und uneingeschränkter Zustimmung den Vortrag von Mr. Samuel Pickwick, Esq., OPMdPK, mit dem Titel „Betrachtungen über den Ursprung der Teiche von Hampstead nebst einigen Bemerkungen zur Stichlingstheorie gehört und spricht besagtem Samuel Pickwick, Esq., OPMdPK, hiermit seinen wärmsten Dank dafür aus.

Da der verein tief überzeugt ist von den Vorteilen, welche der Sache der Wissenschaft aus dem Geistesprodukt, dem er soeben seine Aufmerksamkeit schenkte, erwachsen müssen – ebenso wie aus den unermüdlichen forschungen Samuel Pickwicks, Esq., OPMdPK, in Hornsey, Highgate, Brixton und Camperwell – kann er nicht umhin, sich lebhaft die unschätzbaren Segnungen vor Augen zu halten, welche unausbleiblich das Ergebnis sein müssen, wenn dieser gelehrte Mann seine Betrachtungen einem umfangreicheren Felde zuführt, seine Reisen ausdehnt und so zum Fortschritt der Erkenntnis und zur Ausbreitung des Wissens den Wirkungskreis seiner Beobachtung erweitert.

Zu dem eben erwähnten Zweck wurde von dem verein ein Vorschlag in ernste Erwägung gezogen, der von besagtem Samuel Pickwick, Esq., OPMdPK, und drei weiteren, nachstehend genannten Pickwickiern ausging: einen neuen Zweig der vereinigten Pickwickier unter dem Namen „Korrespondierende Gesellschaft des Pickwick-Klubs“ zu bilden.

Besagtem Vorschlag wurde die Genehmigung und Billigung des Vereins zuteil.

Die „Korrespondierende Gesellschaft des Pickwick-Klubs“ ist folglich hiermit konstituiert, und Samuel Pickwick, Esq., OPMdPK, Tracy Tupman, Esq., MdPK, augustus Snodgrass, Esq., MdPK, und Nathaniel Winkle, Esq., MdPK, sind hiermit zu Mitgliedern derselben ernannt und berufen und werden ersucht, von Zeit zu Zeit authentische berichte über ihre Reisen und Untersuchungen, über ihre Beobachtungen hinsichtlich Personen und Sitten und über all ihre Abenteuer nebst allen mündlichen und schriftlichen Zeugnissen, zu denen örtliche Gegebenheiten oder Gedankenverbindungen Anlaß bieten mögen, an den in London residierenden Pickwick-Klub zu senden.

Aufrichtige Anerkennung zollt der Verein dem Prinzip, daß jedes Mitglied der Korrespondierende Gesellschaft für seine Reisekosten aufkommt, und hat nichts dagegen einzuwenden, dass die Mitglieder der besagten Gesellschaft ihre Nachforschungen zu denselben Bedingungen auf beliebig lange Zeit betreiben.

Die Mitglieder vorerwähnten Gesellschaft werden hiermit davon in Kenntnis gesetzt, dass von dem verein über ihren Vorschlag, die Postgebühren für ihre Briefe und Pakete zu bezahlen, beraten wurde, dass der verein einen solchen Vorschlag der großen Geister, von denen er ausging, für würdig hält und dass er sich hierdurch völlig einverstanden damit erklärt.

.... ein zufälliger Beobachter würde vielleicht nichts Außergewöhnliches an der Glatze und den runden Brillengläsern bemerkt haben, die während der Verlesung obiger Beschlüsse unverwandt auf sein (des Schriftführers) Gesicht gerichtet waren: Für solche aber, die wussten, dass unter jener Stirn das gigantische Hirn Pickwicks arbeitete und dass hinter jener Brille die strahlenden Augen Pickwicks blitzte, war der Anblick fürwahr fesselnd. ....

So beginnt der Roman DIE PICKWICKIER oder komplett DIE NACHGELASSENEN AUFZEICHNUNGEN DES PICKWICK_KLUBS (THE POSTHUMOUS PAPERS OF THE PICKWICK CLUB) von Charels Dickens (1812-1870), in Fortsetzungen erschienen 1836/37. Samt Nachwort hat er 1181 vergnügliche Seiten und kostete in meiner Goldmann-Taschenbuchausgabe DM 24,80 also EURO 12,40.

Der Titel erklärt sich aus der Fiktion, es handle sich dabei um die Herausgabe von Berichten und Protokollen eines Klubs von Forschern, den der exzentrische Samuel Pickwick gegründet hat. Im Laufe des Romans wird diese Fiktion aber bald durch einer einfache Er-Erzählung ersetzt.

Samuel Pickwick und seine Freunde haben es sich zur Aufgabe gestellt, England zu durchreisen und ihre Entdeckungen der Fachwelt mitzuteilen. Pickwick entwickelt dabei unhaltbare Thesen über banale Dinge wie die Entstehung der Teiche bei Hamstead oder eine nur scheinbar uralte Inschrift auf einem Stein. Diese Fahrten bringen aber keine wirklich neuen historischen oder naturwissenschaftlichen Erkenntnisse sondern dienen Dickens dazu, neben dem Steckenpferd der Titelfigur auch anderen charakterlichen Eigenheiten, besonders der Naivität Pickwicks und seiner drei Freunde, komische Wirkungen abzugewinnen. Dazu dienen Augustus Snodgrass dichterische Ambitionen, Tracy Tupmans Versuche als Frauenheld und Nathaniel Winkles sportlicher Ehrgeiz.

Schon auf der ersten reise nach Dingley Dell, Eatanswill und muggleton treten die komischen Charakterzüge der Hauptfiguren deutlich hervor. Zuerst lassen sie sich von einem Wanderschauspieler namens Jingle täuschen, den sie dann auch noch ehrenvoll bei ihren neuen Freund Mr. Wardle einführen. Dort blamiert sich zunächst Winkle, indem er auf der Jagd Tupman anschießt, und dann wählt Tupman ausgerechnet den gauner und Heiratsschwindler Jingle zum Fürsprecher bei Rachel Wardle, einer alten Jungfer, für die er sein Herz entdeckt hat. Jingle entführt die keineswegs unwillige Miss Wardle und gibt sie erst gegen ein ansehnliches Lösegeld frei. Bei der Verfolgung des Hochstaplers lernt Mr. Pickwick Samuel Weller, einen Schuhputzer kennen, der ihm von nun an auf seinen Abenteuern als Diener folgt. Weller ist seinem Herrn an Weltklugheit weit überlegen und sorgt durch seine freundlich-unverschämte Art und seine im Cockney-Dialekt (das Original sei ans Herz gelegt) vorgetragenen und mit Vergleichen und Anekdoten gewürzten Reden für die Erheiterung der Leser. Wie auch er ist auch ein Grossteil der über achtzig mit Namen genannten Personen – ohne die Personen in den eingeschalteten Erzählungen – eindeutig als Karikatur angelegt.

Der Roman wirkt durch die einzelnen Situationen, eine durchgehende Handlung fehlt weitgehend. Neben der Verfolgung Jingles durch Pickwick zieht sich nur noch der auf einem komischen Rechtsstreit, den der Held mit seiner Vermieterin Bardell wegen eines angeblich gebrochenen Heiratsversprechens führt, als roter Faden durch die Vielfalt der Episoden. Mrs. Bardell wird schließlich durch ihren eigenen Rechtsanwälte Dodson und Fogg wegen des unbezahlten Honorars ins gleiche Gefängnis wie ihr Prozessgegner Pickwick gebracht. Dort kommt es zum Vergleich und Mr. Pickwick kann gleich noch Jingle, der dort in Schuldhaft sitzt und in sich gegangen ist, auslösen. In beiden Handlungssträngen geht es um das Generalthema – menschliche Gefühle in Geld umzumünzen.

Das Buch endet mit zahlreichen heiraten und der Auflösung des Pickwick-Klubs. Kein echtes Ende, aber es ging Dickens weniger um die Handlung sondern um das Ausspielen statischer Figuren. Der Titelheld ist bald nach erscheinen in den Volksmund eingegangen und ist heute wie der Tyll Eulenspiegel oder Don Quichotte eine unsterbliche Gestalt geworden.

Das Buch steht in der Tradition des Schelmenromans und zeigt auch die Vorliebe des jungen Dickens für Tobias Smollett und Robert S. Surtees, der 1831 für das New Sporting Magazin die komische Figur des Gemüsehändlers John Jorrock erfunden hatte.

Das Buch wurde mehrfach vertont, zweimal verfilmt und vielfach bearbeitet.

Nach seinem ersten werk LONDONER SKIZZEN erhielt Dickens 1836 das Angebot der Verleger Chapman und Hall, eine Serie von 20 Fortsetzungen zu je 32 Seiten zu schreiben. Für die erste Nummer der Pickwickier hatte man 1.00 Exemplare bei der Druckerei bestellt, aber von der zweiten Nummer wurden nur noch 500 Exemplare verkauft, deren Einnahmen kaum die Kosten für Text und Illustrationen deckten. Von der vierten Nummer an, Weller wurde eingeführt, eine neuer Illustrator gefunden, nahm Dickens die Zügel selbst in die Hand. Die Auflagen stiegen. Im Frühjahr 1837 betrug die Auflage schon 20.00 und bei Auslieferung der letzten Nummern war sie bei 40.000 angelangt. Seither sind die Pickwickier allein im englischsprachigen Raum in 200 Ausgaben erschienen. Mit Übersetzungen sind sie also einer der größten literarischen Welterfolge.

Ich kann das Buch nur empfehlen und die Feiertage bieten auch die Zeit zum Lesen.

Zum Schluß noch ein Auszug.

Mrs. Hunters Ode an einen scheidenden Frosch findet Pickwick wundervoll:

Wie kann ich keuchen dich und liegen sehen
Auf deinem Leib, wie ohne Rührung stehen,
Wenn sonder Klagelaut du am vergehen,
Scheidender Frosch,
Scheidender Frosch!

Wunderschön sagte Mr. Pickwick.
Köstlich sagte mr. Leo Hunter, und so schlicht.
Wahrhaftig sagte mr. Pickwick.
Der nächste vers ist noch ergreifender. Soll ich ihn wiedergeben?
Ich bitte darum, sagte Mr. Pickwick.
Es lautet so, sagte der Würdevolle noch würdevoller.

Sag, waren’s Teufel in gestalt von Kanben,
Die mit Hallo und Hund gehetzt dich haben
Aus Morasts Wonnen, feuchten Sumpfes laben,
Scheidender Frosch,
Scheidender Frosch!

Vortrefflich ausgedrückt, sagte Mr. Pickwick.

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