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Erfahrungsbericht von willibald-1

"Unter Einsatz meines Lebens. Ein New Yorker Feuerwehrmann im World Trade Center."

Pro:

ein Bericht, der die Unfaßbarkeit jenes 11. September mit ungewohnter Nüchternheit und doch gleichzeitig fesselnd vor Augen hält

Kontra:

./.

Empfehlung:

Ja

Seit jenem 11. September läßt mich persönlich dieses Thema nicht mehr los. Ich war vor einigen Jahren in New York/Manhatten und natürlich auch am World Trade Center. Es hatte auf mich eine fast magische Ausstrahlung, die ich nur schwer beschreiben kann.
Ich hörte zufällig Radio an jenem 11. September, als "Es" gerade passierte, dieses für mich immer noch Unfaßbare. Ich habe lange keine Bilder vom WTC ansehen können, ohne Tränen in die Augen zu bekommen. Irgendwann Ende 2002 fand ich dann ein Buch mit Bildern vom WTC, in dem auch das Ausmaß der Zerstörung dargestellt wurde. Ich blätterte es durch, kaufte es - und schenkte es dann meiner Schwester (die damals mit mit in New York war) zum Geburtstag.
Kurz vor Weihnachten fiel mir wieder dieses Buch in die Hände, und ich kaufte es auch für mich. Denn noch immer hatte ich auch für mich das Geschehene nicht verarbeitet. Dieser Kontrast der Bilder - das WTC, wie wir es kannten und erlebt hatten, auf der einen Seite, und die brennenden Türme, wie ich sie im Fernsehen live sehen mußte, das gesamte zerstörte Arreal auf der andern Seite - ist auch heute noch für mich unfaßbar. Und auch an diesem 11. September waren die Bilder für mich wieder lebendig...
Gleichzeitig mit dem Bilder-Buch stieß ich auf den Erlebnisbericht von dem Feuerwehrmann Richard Picciotti, den er zusammen mit Daniel Paisner verfaßt hat. Paisner hat auch schon andere Persönlichkeiten beim Schreiben unterstützt und bleibt auch in diesem Buch vermutlich eher so eine Art Redakteur.

Laßt Euch zunächst mit hineinnehmen in das Buch:

"11. September 2001: 9.59 Uhr

Es kam wie aus dem Nichts.
Wir waren ungefähr zwei Dutzend Mann an den Fahrstühlen im 35. Stockwerk des Nordturmes im World Trade Center. Wir waren Feuerwehrmänner, jedenfalls die meisten von uns, und wir waren alle mehr oder weniger erschöpft. Manche schwitzten wie verrückt. Einige hatten ihre Einsatzjacken ausgezogen und sie um die Hüften geschlungen. Ziemlich viele rangen keuchend nach Luft. Andere wollten unbedingt weiter. Wir alle machten einen Moment Pause, um Atem zu schöpfen, um uns zu orientieren, um rauszufinden, was zum Teufel eigentlich los war. Wir waren seit fast einer Stunde hektisch an der Arbeit, manche nicht ganz so lang, und es war absolut kein Ende in Sicht. Natürlich hatten wir keine Ahnung, was noch alles vor uns lag, aber erreicht hatten wir bislang so gut wie nichts.
Und dann setzte das Geräusch ein, und das Gebäude begann zu beben, und wir erstarrten. Wie in Totenstarre. Was auch immer vielleicht noch zu tun war, jetzt würde es warten müssen. Worauf, wußten wir nicht, aber es würde warten. Oder auch nicht, aber darum ging es nicht mehr. Es ging darum, daß keiner sich bewegte. Bis auf den letzten Mann, keiner rührte sich, außer, um die Augen zur Decke zu heben, um zu sehen, woher das Getöse kam. Als könnten wir da die Antwort finden. Keiner sagte ein Wort. Es war keine Zeit, Gedanken in Worte zu fassen, obwohl noch Zeit war zu denken. Für mich jedenfalls, für mich war noch Zeit zu denken, zuviel Zeit zu denken, und meine Gedanken überschlugen sich. Sie entwarfen alle möglichen Horrorszenarien und noch ein paar mehr dazu. Das Gebäude zitterte wie bei einem Erdbeben, wie eine außer Kontrolle geratene Achterbahn, aber was mir wirklich das Blut in den Adern gefrieren ließ, das war dieses Getöse. Seine Wucht, mit der es direkt durch mich hindurchging. Ich konnte mir absolut nicht vorstellen, was ein derartiges Geräusch machen könnte. Als ob tausend führerlose Züge auf mich zurasen würden. Eine durchgegangene Herde wilder Tiere. Ein donnernder Erdrutsch. Es ist schwer, die richtigen Worte zu finden, aber was auch immer es war, es wurde schneller und noch kraftvoller, und es kam näher, und ich saß mittendrin, konnte ihm nicht ausweichen."

Richard Picciotto, ein ganz normaler New Yorker Feuerwehrmann, Spitzname "Pitch", beschreibt "seinen" 11. September mit einer Nüchternheit und Klarheit, wie ich sie nicht erwartet hätte. Das pathetischste an diesem Buch ist der Titel - für einen amerikanischen Erfahrungsbericht völlig ungewohnt.

An jenem Tag, den er als "das Ende der Welt, wie wir sie kannten" erlebte, begann er zunächst ganz normal seinen Dienst als Chief, als er beim Frühstück zufällig mitbekommt, daß ein Flugzeug in den Südturm des WTC geflogen war. Er fühlte sich den Türmen durch zahlreiche Besuche persönlich verbunden - und wohl auch dadurch, daß er bei dem Bombenanschlag 1993 in der Tiefgarage als Feuerwehrmann dabei war. Deshalb verspürte er den Drang, nun auch dort vor Ort helfen zu müssen. Offenbar ahnte er - anders als viele in der Kommandozentrale, daß dieses ein ganz großer Einsatz werden würde. Nach Rücksprache mit der Zentrale macht er sich ohne seine Einheit auf den Weg zum WTC und übernimmt dort das Kommando über eine andere Einheit, um irgendwo im Nordturm nach Eingeschlossenen zu suchen.

Als der Südturm zusammenbricht, befindet er sich gerade bei einem Fahrstuhl und kann sich dieses unglaubliche Geräusch zunächst nicht erklären. Schließlich wird ihm klar, daß es nun nur noch darum gehen kann, auch den Nordturm zu evakuieren. Quasi als Nachhut rennt er durch die kompletten Etagen und schickt alle Leute raus, die er findet. In einem der Stockwerke trifft er auf eine Gruppe gehbehinderter Menschen, die offenbar vergessen wurden, aber dennoch unbeirrt darauf warten, daß man ihnen sagt, was sie tun sollen. Wieviele von ihnen Pitch mit Hilfe der anderen Feuerwehrleute wirklich gerettet hat - wer weiß das schon.

Jedenfalls befindet er selbst sich mit der letzten Frau aus dieser Gruppe und mit einigen Feuerwehrleuten noch im Treppenhaus, als auch der Nordturm zusammenbricht.

Was man sich kaum vorstellen kann, passiert: das ganze riesige Gebäude stürzt über ihnen zusammen - und "ihr" Treppenhaus bleibt als rettende Luftblase erhalten. 15 Menschen überleben an dieser Stellen den Einsturz quasi unverletzt.

Picciotto beschreibt minutiös und in Rückblenden, was ihm in den Minuten und Stunden des Wartens auf Rettung alles durch den Kopf ging, während er und die anderen Feuerwehrmänner immer wieder versuchen, Kontakt zur Außenwelt zu bekommen. Er beschreibt das alles in einer so wenig dramatischen und doch kraftvollen und fesselnden Art, daß man sich selbst mit in diese Situation hineingenommen fühlt. Man kann ihn in diesen Stunden gar nicht allein lassen - das Buch will weitergelesen werden. Sicherlich schreibt er in einer einfachen Sprache, aber gerade das macht das Buch so authentisch.

Ganz nebenbei erfährt man einiges über die Organisationsstruktur der New Yorker Feuerwehr. Mit Pitch ist man daher verwirrt darüber, daß diese Organisation, die doch wirklich schon so manch einen Großeinsatz erlebt hat, vor der Situation am WTC offenbar in gewisser Weise auch hilflos war. Koordination des Einsatzes fiel offenbar schwer. Jeder versuchte, so gut es ging seine Arbeit zu tun. Aber im Grunde wußte niemand, was die anderen taten. Offenbar funktionierte nicht einmal der Kontakt verschiedener Einsatzgruppen untereinander. Aus der Perspektive des Überlebenden des Einsturzes, der das Gelände des WTC schließlich verlassen kann, ist dies sicherlich unglaublich. Ein Vorwurf erwächst daraus aber nicht.

Pitch ist auch ein Familienvater. Und so kommt in dem Buch auch immer wieder der Gedanke an die Familie vor. Als Pitch nach dem Einsturz eingeschlossen ist, tritt bei ihm auch die Reflektion über die Situation seiner Familie ein. Beruhigend ist für ihn, daß seine Familie auch versorgt wäre, wenn er diesen Einsatz nicht überleben würde. Man erfährt, daß Ehefrauen von Feuerwehrmännern den Gedanken an einen möglichen Tod zu verdrängen gelernt haben. Man erfährt auch, wie Familien von Opfern betreut werden. Dargestellt wird das nicht als reine Fakten, sondern in Verbindung mit all den Gefühlen, die in der Situation eine Rolle gespielt haben mögen.

Und das ist eigentlich das Wesen dieses Buches: es geht dem Autor nicht um einen Hintergrundbericht, nicht um einen Report über die Arbeit der Feuerwehr, sondern um das subjektive Erfahren der Ereignisse.

Mehr als einen Eindruck will ich aber hier nicht vermitteln. Mich hat dieses Buch jedenfalls zutiefst berührt. Es lohnt sich sicherlich, dieses Buch zu lesen. Gerade weil das Thema nicht die Darstellung eines Helden oder einer Heldentat ist, sondern lediglich die Verarbeitung der immer noch unfaßbaren Ereignisse.

46 Bewertungen, 3 Kommentare

  • anonym

    22.03.2007, 20:45 Uhr von anonym
    Bewertung: sehr hilfreich

    LG Damaris :-)

  • anonym

    05.08.2006, 22:50 Uhr von anonym
    Bewertung: sehr hilfreich

    Lieben Gruss, Manuela :o))

  • Woelfchen4

    23.03.2006, 14:30 Uhr von Woelfchen4
    Bewertung: sehr hilfreich

    sh und viele Grüße ...