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Erfahrungsbericht von glockenkind

American Dream aus kritischer Sicht - T.C. Boyle: "America"

Pro:

an- und aufregend, intelligent unterhaltend

Kontra:

nix

Empfehlung:

Ja

T.C. Boyle, Jahrgang \'48, publiziert seit einem Vierteljahrhundert. Seine Bücher als literarische Meisterwerke zu bezeichnen, wäre übertrieben; einer großen Leserschaft erfreuen sie sich eher wegen seines Humors, seiner exzellenten Beobachtungsgabe und seiner gelegentlich messerscharfen Kritik am \"american way of life\". 1977 promovierte er mit einer Arbeit über britische Literatur im 19. Jahrhundert, heute lehrt er an der University of Southern California. Boyle ist Träger des PEN/Faulkner-Preises; er lebt in Santa Barbara.

Zu den bekannteren seiner inzwischen 22 Romane zählen \"Grün ist die Hoffnung\" (über drei durchgeknallte Typen, die die natürlich nicht wirklich erfolgreich durchführbare Idee haben, in den Bergen Nordkaliforniens Marijuana anzubauen), \"World\'s End\" (eine sich im 17. und 20. Jahrhundert abspielende Geschichte zweier niederländischer Einwandererfamilien - eine arm, eine wohlhabend , deren dramatische Schicksale miteinander und mit einem Indianerstamm verbunden sind) und \"Willkommen in Wellville\" (Satire über das Lebensmittel-Konsumverhalten der US-amerikanischen Oberschicht).

\"America\" erschien in USA 1995 unter dem Titel \"Tortilla Curtain\" und ein Jahr später bei uns (Hanser Verlag). Bei eBay wird es immer mal wieder ab EUR 1,- angeboten; der derzeitige Buchhandelspreis ist mir nicht bekannt. Die Hardcover-Version, die ich besitze, hat um die 20 Euro gekostet.

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Zum Inhalt:

USA, Neunziger Jahre. Kyra und Delaney Mossbacher sind ein in Südkalifornien lebendes umweltbewusstes \"Yuppie\"-Pärchen Mitte 30, das sich und seinen sechsjährigen Sohn gesund ernährt, liberale Ansichten pflegt und viel von demokratischen Werten hält. Rassisten sind sie nicht. Sie fahren sauber gewaschene Autos und gehen geregelten und gut bezahlten Tätigkeiten nach: Kyra als Immobilienmaklerin, Delanay als Journalist.

Amèrica Rincòn ist 17, als sie ihrem mexikanischen Landsmann Candido nach Kalifornien folgt. Beide sind illegale Einwanderer. Unter miserablen Bedingungen und schlecht bezahlt arbeiten sie als Tagelöhner, sind meistens hungrig und schlafen unter freiem Himmel. Sie werden \"Bohnenfresser\" genannt, kämpfen täglich ums Überleben, sind ständig begleitet von der Angst, entdeckt und nach Mexiko zurück geschickt zu werden. América ist schwanger und will nichts als ein \"kleines weisses Häuschen\" mit Fernseher, Waschmaschine und Kühlschrank. Der \"Amerikanische Traum\" scheint sich jedoch nicht zu erfüllen. Das Amerika, in dem sie sich befinden, hat wenig zu tun mit den Fernseh-Soaps und den Hollywood-Filmen, die ihr Bild vom \"Gelobten Land\" geprägt hatten.

Der Roman hat zwei Handlungsstränge, die sich zum ersten Mal berühren, als Candido von Delaney angefahren wird. Von nun an ist das Leben der beiden Paare untrennbar verknüpft. Delaney, zunächst noch wegen des Unfalls von seinem schlechten Gewissen geplagt, wird in einige unerfreuliche Begegnungen mit anderen Mexikanern verwickelt und verwandelt sich zunehmend in einen paranoiden Rassisten, der schließlich kein anderes Ziel kennt, als Candido zu vernichten. Am Ende des Buches ist es Candido, der Delaney das Leben rettet.

Mit humorvollem Blick, gleichzeitig schmerzhaft schonungslos, zeichnet Boyle ein wohl leider sehr realistisches Bild der US-amerikanischen Gesellschaft. Der Leser erlebt, wie schnell sich humanistische Ideale auflösen können, wenn Menschen, die es schick finden, sich \"liberal\" zu nennen, Ruhe und Wohlstand im eigenen Land bedroht sehen von denen, die an diesem Wohlstand partizipieren wollen. Die sozialen und wirtschaftlichen Unterschiede im Leben von Arrivierten und Unterpriviligierten werden nachvollziehbar verdeutlicht; auf wessen Seite der Autor steht, daran besteht keinerlei Zweifel. Die Halbwertzeit von Toleranz und sozialem Gewissen ist übrigens nicht nur im Fall von Delaney und nicht nur in USA recht kurz, befürchte ich.

P.S. ..... Okay, da ich inzwischen gebeten worden bin, meine Meinung zu diesem Buch noch klarer zum Ausdruck zu bringen, will ich das tun, obwohl ich eigentlich denke, dass es hier vor allem um Produktbeschreibungen gehen sollte und die eigene Einschätzung sicher auch einfließen, aber nicht so viel Raum einnehmen sollte. - Anyway ... Ich sehe diesen Roman als grelle Satire auf den "amerikanischen Traum". Deutsche "Greencard-Jäger" werden sicher nicht ganz die selben Erfahrungen machen wie América und Candido, obwohl sich auch für weiße Einwanderer das Land der "unbegrenzten Möglichkeiten" nicht immer so darstellt, wie sie es erhofft hatten. ... Die beiden parallel zu einander existierenden Welten - die hübsche, sichere der Mossbachers und die von Angst und Entbehrungen geprägte von América und Candido - sind mit einfachen Worten treffsicher beschrieben. Amerika-Reisende, die sich nicht nur an Floridas Stränden aufhalten, haben sicher entsprechende Beobachtungen gemacht. Als Touristin mit genügend Geld in der Tasche konnte ich die USA als geniales Reiseland erleben und wurde grundsätzlich nur freundlich aufgenommen. Meine Freunde dort sind weiß, gesund, nicht arbeitslos, gebildet und liberal. Dennoch freuen sie sich blind über die Tatsache, dass Herr Guiliani New York so schön aufgeräumt hat und heute weniger "Penner" in Pappkartons auf den Straßen liegen. Die Frage, wohin die Obdachlosen denn geschafft worden sind, wird selten gestellt. Und die Verachtung, mit der Unterpriviligierte - wie z.B. Latinos, wenn sie nicht wie Jaylo sehr erfolgreich sind - betrachtet werden, ist spürbar genug. Dieselbe Sprache spricht die Tatsache, dass die Insassen amerikanischer Todeszellen entweder "write trash" oder aber - zum allergrößten Teil - andersfarbig und mittellos (Anwaltskosten!!!) sind. Auch darüber wird auch in "liberalen Kreisen" relativ wenig nachgedacht. Schließlich lässt man die eigenen Kinder ja mit denen der schwarzen Nachbarn spielen. No problem: Der schwarze Nachbar ist Arzt. - Ist meine Meinung inzwischen deutlicher geworden? - Dann zum Schluß noch eine Geschichte: Während eines Einkaufs in einem Drugstore in der Nähe von New Orleans hörte ich plötzlich schrille Schreie, die nach Todesangst klangen. Im nächsten Gang sah ich eine junge Latinofrau auf dem Boden liegen. Drei Männer hockten über ihr, ein vierter war dabei, ihr Handschellen anzulegen. Zwei sehr kleine Kinder standen neben ihr und weinten. Auf meine Frage, was denn hier los sei, wurde mir erzählt, die Frau habe gestohlen. Was sie denn gestohlen habe, fragte ich und erfuhr von einem der Umstehenden, dass es sich um das obere Teil einer Säuglingsflasche gehandelt habe (Gumminuckel). Als ich anbot, das Ding für sie zu bezahlen, richtete sich aller Unmut nun auch gegen mich. Schwer vorstellbar, dass auf dieses "Vergehen" ebenso unangemessen reagiert worden wäre, wenn es sich um einen kleinen Anfall von Kleptomanie einer weißen Mittelschichtsvertreterin gehandelte hätte. ... Zusammengefasst: Das Buch beschreibt die Gegensätzlichkeit der Welten, so wie ich sie in USA selbst beobachtet habe. Es ist lesenswert, weil der Autor einen realitätsnahen, wenn auch oft überzeichneten (Satire!) Beitrag zum Verständnis US-amerikanischer Lebensverhältnisse geleistet hat. - Nun zufriedener, g. ? :-)




----- Zusammengeführt, Beitrag vom 2003-07-14 20:08:08 mit dem Titel Ewiges Leben: nicht Lust, sondern Last (Simone de Bauvoir: "Alle Menschen sind sterblich")


Ewiges Leben - ein uralter Menschheitstraum. Heute glaubt zwar nicht wirklich irgend jemand noch an ein Elixier, das Unsterblichkeit verleihen könnte, aber wissenschaftliche Erkenntnisse und Erfindungen haben immer längeres Leben ermöglicht; viele von Unsterblichkeit Träumende setzen jetzt entsprechende Hoffnungen in gentechnologische Fortschritte, und es gibt Optimisten, die sich sogar einfrieren lassen in dem Glauben, aufgetaut werden zu können, sobald Unsterblichkeit \"erfunden\" wird.

In diesem philosophischen Roman, der Jean-Paul Sartre, dem Ehemann der Autorin, gewidmet ist, geht es um genau dieses Thema:

Der Prolog: Wir befinden uns im Frankreich der Vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Regine, eine junge Schauspielerin, liebt Fosca, den Protagonisten des Buches, und versteht nicht seine sonderbare Art, seine Gleichgültigkeit gegenüber der Welt. Fosca, der von seiner Umwelt als \"verrückt\" wahrgenommen wird, ist verzweifelt bemüht, den lebensbejahenden Enthusiasmus der jungen Frau in sich aufzusaugen. Kann sie ihn sie ihn aus seiner Resignation, von seinem Lebensüberdruss befreien?

Die Geschichte: Im 13. Jahrhundert geboren, lebt Fosca als Herzog in Italien und gelangt an einen Trunk, der ihn unsterblich macht. Nun beginnen wir, ihn durch die Jahrhunderte zu begleiten. Er ist mal Fürst, mal Berater von Karl V. Er ist Zeitzeuge der Entdeckung Amerikas und der französischen Revolution. Er überlebt seine Frau, seine Kinder, seine Enkel, trauert um sie, gründet eine neue Familie ... und noch eine ... und eine weitere. Irgendwann wird er müde. In ihm reift die Erkenntnis, dass ewiges Leben eher Fluch als Segen ist. Weil er reicher an Wissen und Erfahrung ist als alle anderen jeweils lebenden Menschen, lassen sich Mächtige von ihm beraten, folgen jedoch selten seinen Empfehlungen. Immer wieder sieht er blutige Kriege, Auseinandersetzungen, Schlachtfelder, sieht, wie Gier, Mißgunst und Intoleranz alle Bemühungen um eine bessere Welt immer wieder scheitern lassen. Jeden Tag sieht er die Sonne auf- und wieder untergehen. Während sich die äußeren Umstände verändern, wiederholt sich doch immer dieselbe Geschichte.

Auch Regine kann ihm nicht helfen. Am Ende des Romans ist er in seine Gleichgültigkeit zurück geglitten. Er sitzt in Pariser Cafés, hört die jungen Existentialisten herumphilosophieren und will nur eines: endlich sterben.
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Ich habe dieses Buch \"verschlungen\", vor Jahren schon, und es kürzlich zum dritten Mal gelesen. Immer wieder entdecke ich Details, die mir beim vorausgegangenen Lesen verborgen geblieben sind, und immer wieder macht mich das Buch auf ganz neue Weise nachdenklich. Dies liegt sicher an der Art, wie ich mich über die Zeit selbst verändere.

Die Erkenntnisse, die ich gewonnen habe? So, wie Individuen ihre Erfahrungen selbst machen müssen und das Leben der Kinder durch die Erkenntnisse der Eltern nicht wirklich optimierbar ist, scheinen auch Generationen insgesamt nicht entscheidend von einander lernen zu können. - Heute haben wir Autos, Computer & Waschmaschinen, sind aber den Gierigen und Kriegsherren so ausgeliefert wie die Menschen zu allen Zeiten. Resignation ist jedoch keine Waffe, sondern verschlimmert den Schmerz. - Nicht auf die Dauer eines Lebens kommt es an, sondern auf die Freude und Intensität, mit der es gelebt wird. - Unsterblichkeit ist nicht erstrebenswert, sondern wäre unerträglich.

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Ds Buch erschien 1946 unter dem Titel \"Tous les hommes sont mortels\". In Deutschland wird es von Rowohlt verlegt. Die Ausgabe, die ich besitze (rororo 1302 von 1990) hat 312 Seiten. Derzeitiger Preis (broschiert, Rowohlt tb): EUR 9,90

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