Pflegekinder Testbericht

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Erfahrungsbericht von tinathomas

Meine Eltern konnten sich eins ihrer Kinder aussuchen - MICH!!

Pro:

-

Kontra:

-

Empfehlung:

Ja

Viele von euch kennen den Spruch „seine Kinder kann man sich nicht aussuchen“. Das trifft auf die meisten von euch zu, aber nicht auf mich. Ich kann glücklich sagen: meine Eltern haben mich ausgesucht! Wie kam das? Wenn es euch interessiert, lest einfach weiter.

Die Vorgeschichte kann ich nur kurz erläutern, da ich sie nicht live miterlebt habe :- ), war ja noch nicht auf der Welt. Ausserdem weiss ich auch nicht alles.

Irgendwann 1971 lernt Gabriele, 18-jährige Mutter einer kleinen Tochter Dieter kennen. Ob es die große Liebe war, weiss ich nicht, aber diese Begegnung hatte Folgen: MICH.
1972 wurde ich in Frankfurt am Main geboren. Meine leiblichen Eltern hatten ein paar Monate vorher geheiratet. Das Problem war: Gabriele war mit ihren 19 Jahren zu jung, selber im Kinderheim aufgewachsen und Dieter war psychisch sehr schwach um mit 2 kleinen Mädchen zurecht zu kommen. Alkohol spielte eine große Rolle. Gabriele ließ mich und meine Halbschwester Gitte oft abends alleine, ging in die Kneipe, Dieter suchte sie und blieb meist auch in der Kneipe hängen.

Es kam wie es kommen musste: Die Schwester von Dieter, selber Mutter von 2 Söhnen, informierte das Jugendamt. Es war für sie ein sehr schwerer Schritt, aber sie konnte nicht anders. Ihr Mann war mit den Jungs schon mehr als bedient und dann noch 2 Mädchen? Nein! Und die Eltern von Dieter? Tja, die hätten mich vielleicht genommen, aber doch nicht die Tochter eines anderen Mannes. Also war das Jugendamt die beste Lösung für uns, bevor wir noch mehr verwahrlosten.

Ich war gerade 8 Monate alt, Gitte 15 Monate älter, als wir ins Kinderheim nach Offenbach kamen (übrigens meine erste und nicht letzte Begegnung mit kirchlichen Leuten, da das Kinderheim von Nonnen betreut wurde).

Vom Kinderheim habe ich kaum bis fast keine Erinnerungen. Was ich noch weiss, ist, wer nichts essen wollte, musste ohne Essen ins Bett! Meine Erinnerung fängt an, als ich ca. 4 ½ Jahre alt war.
Davon aber später, jetzt ein kleiner „Kameraschwenk“ nach Limburg an der Lahn, anno 1976/1977:

In Limburg lebte Claudia, ihres Zeichens Erzieherin in einem Kinderheim. Und wo wohl? Natürlich in Offenbach. Irgendwie hatte sie von Anfang an eine sehr enge Bindung zu Gitte, meiner Halbschwester. Die beiden waren ein Herz und eine Seele. Claudia nahm Gitte irgendwann mit zu ihren Eltern. Aus einem Besuch wurden 2, dann 3 und dann immer mehr. Claudia´s Eltern beschlossen, Gitte in ihre Familie zu nehmen und stellten einen Adoptionsantrag. Aber da spielte das Jugendamt nicht mit. Es gab schliesslich noch so einen kleinen Wurm namens Tina, die ja mit Gitte blutsverwandt war. Die beiden konnte man nicht trennen. Aber 2 Kinder nehmen, das wollten Claudias Eltern verständlicherweise nicht.

Wie es der Zufall wollte, trafen sich Claudias Mutter und, ich sag es jetzt schon, meine spätere Pflegemutter auf der Straße. Meine Pflegefamilie hatte schon 3 Kinder. Einen Sohn von 16, eine Tochter von 17 (die kennen einige schon aus meinem Bericht „Meine Schwester liebt eine Frau, na und??) und eine Nachzüglerin von fast 5 Jahren. Damit die Nachzüglerin nicht als verwöhntes „Einzelkind“ aufwächst, wollte meine Pflegefamilie ein Kind adoptieren, da die Mutter keine Kinder mehr bekommen durfte. Eigentlich war ein Kind aus der 3. Welt im Gespräch (war in dem Ort damals total in), aber nach dem Gespräch mit Claudias Mutter durfte ich probeweise in die Familie kommen. Meine erste Erinnerung daran war: mein Pflegevater stand im Hausflur und renoviert und ich stand gebannt vor ihm und sagte das erste Mal \"Vati\" zu ihm.

Wie bei Gitte wurden aus einem Besuch mehrere (ich seh mich noch heute mit meinem kleinen Köfferchen von dem Haus der neuen Familie zu dem Haus von Gittes neuer Familie laufen. Tagsüber war es O.K. mit den neuen Leuten, aber nachts musste ich bei meiner großen Schwester bleiben. Entweder sie konnte ohne mich nicht schlafen oder andersrum) und irgendwann entschloss sich auch meine neue Familie, die ich schon am ersten Tag mit meinem Charme um den Finger gewickelt habe, mich zu adoptieren.
Yippie, endlich aus dem Kinderheim raus und ne eigene Familie haben!!!

Tja, es gab allerdings noch Gabriele (Dieter ist 1977 an einer Leberzirrhose gestorben). Wie jede leibliche Mutter wurde sie wegen der Adoption gefragt. Aber sie entschied sich dagegen (warum, weiss ich nicht, sie hatte sowieso keine Chance darauf, uns wieder zu bekommen).
Also blieb nur die Pflegschaft. Meine neuen Geschwister wurden natürlich gefragt. Der einzige, der aufmuckte, war mein Bruder: Muss es denn schon wieder ein Weib sein??? ( ich habe ihm diese Bemerkung mittlerweile großzügig verziehen).

Juli 1977: So, nun hatte ich meine Familie oder sie hatte mich. Ich lebte mich recht schnell ein, wobei es vom Vorteil war, das Gitte nur 3 Häuser entfernt wohnte!

Dadurch, das die jüngste Tochter meiner Pflegefamilie 5 Jahre lang von ihren großen Geschwistern verwöhnt wurde, war es für sie am schwierigsten, sich an mich zu gewöhnen. Sie musste lernen, das es jetzt jemanden gleichaltrigen (ich bin 6 Wochen älter , und darauf bestehe ich auch!) in der Familie gab, der gerade am Anfang viel Aufmerksamkeit brauchte (besonders, weil ich nicht richtig sprechen konnte, da ich im Kinderheim sprechen lernte und sich keiner die Mühe gab, die richtige Aussprache mit mir zu lernen. Statt Strümpfe sagte ich Krümpfe und anderes. Mittlerweile kann ich fehlerfrei sprechen *g*) und das sie ihre Spielsachen teilen musste (ich hatte selber Spielsachen aus dem Heim mitgebracht, mit denen durfte sie nicht spielen, die waren „mein eigen“. Mit ihren Spielsachen hab ich sehr gerne gespielt, sie nannte ich „meins“…...).

Wir wurden beide leider nie richtige Freunde (allerdings, wenn sie Hilfe brauchte oder ich, haben wir uns immer gegenseitig verteidigt/geholfen, oder wenn es Probleme mit den Eltern gab).
Wir haben zwar die gleiche Erziehung genossen (und die gleiche Kleidung, Haarschnitt und ähnliches…), aber sind vom Wesen her total unterschiedlich. Womit mal wieder geklärt wäre, das die Entwicklung eines Menschen nicht nur von der Erziehung abhängt.

Es sind jetzt im Juli 26 Jahre her, das ich eine neue Familie bekam. Es waren keine leichten Jahre, besonders als ich in die Pubertät kam. Gitte bekam in ihrer Familie alles erlaubt und ich durfte, in meinen Augen, nie was. Das weckte die Rebellin in mir. Teilweise war es richtig hart. Besonders der Konkurrenzkampf zwischen mir und der jüngsten Pflegeschwester. Aber irgendwie haben wir es alle überlebt *g*.

Ich bin mit 19 Jahren zuhause ausgezogen, nachdem ich meine Lehre beendet hatte. Aber meine Familie ist mir immer noch sehr wichtig. Ich fahre gerne die 70 Km nach Limburg um meine Familie zu besuchen, sie sind gerne bei mir (und meinem Freund) in Frankfurt. Ja ihr lest richtig. Ich bin in meine Geburtsstadt gezogen. Einmal, weil ich dort arbeite, andererseits lebte die Familie meines leiblichen Vaters, Dieter, dort. Mit denen habe ich relativ viel Kontakt gehabt. Auch während meiner Kinderzeit. Besonders zu meiner Tante, der Schwester von Dieter, die uns damals ins Kinderheim gebracht hatte.

Ich bin froh, das sich meine Eltern (und es sind meine wahren Eltern!!) gerade mich ausgesucht haben. Es hätte jede(r) andere sein können, nein ihre Wahl traf mich.
Ich bin ein gleichwertiges Familienmitglied (stehe sogar, wie makaber, in ihrem Testament, wie ein leibliches Kind). Auch wenn manche Zeiten hart waren, ich weiss, meine Eltern würden sich immer so entscheiden, wie damals, 1976/1977.


Fazit:
Wenn ich im Kinderheim geblieben wäre (und das wäre ich, da viele doch nur kleine niedliche Babys haben wollen) hätte ich bestimmt nie so viele Möglichkeiten, sei es Schule, Ausbildung, Musik und und und , gehabt. Ich bin meinen Eltern unheimlich dankbar. Das sie nie aufgegeben und aus mir einen, wie ich meine, anständigen Menschen gemacht haben.

Sollte ich mal keine eigenen Kinder bekommen, käme für mich auf jeden Fall eine Adoption oder Pflegschaft in Frage. Nicht unbedingt ein Baby, sondern eventuell auch ein älteres Kind. Denn die haben es schwerer, aufgenommen zu werden.

Jedes Kind, das durch einen Schicksalsschlag im Kinderheim leben muss, hat eine Chance auf eine richtige Familie verdient. Es wird nicht einfach, besonders wenn in der Familie eigene Kinder sind, aber glaubt mir, es geht.

Es gab natürlich viele Tränen. Tränen der Wut, der Traurigkeit, des Nichtverstehens, der Angst, verlassen zu werden. Auch wenn es viele nicht bemerken, aber ich habe noch mein Päckchen an der ganzen Sache zu tragen. Ab und an hab ich meine 5 Minuten, wo ich mich frage, warum, weshalb, wieso. Aber die vergehen, je älter ich werde. Für mich gibt es dann diese Antwort: Es ist so gekommen, weil es so kommen musste. Viele Dinge sind im Leben vorbestimmt. Für mich war einfach vorbestimmt, diese Familie in Limburg kennen zu lernen und als meine zu betrachten.


So, das war in groben Zügen meine Geschichte. Ich hoffe, ich hab euch nicht gelangweilt.
Bis zum nächsten Mal.
Tina

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