Rock'n'Roll Realschule - Die Ärzte Testbericht

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Summe aller Bewertungen
  • Cover-Design:  sehr gut
  • Klangqualität:  sehr gut

Erfahrungsbericht von *sannah*

Salonfähige "Besserpunks"

Pro:

-

Kontra:

-

Empfehlung:

Ja

\"15 Jahre Netto\" auf dem Berliner Marianenplatz war im Sommer 2002 das Konzertereignis für die wahren Ärztefans. Netto deshalb, weil die Band von 1988 bis 1993 eine fünfjährige Pause einlegte, ihre Bandgeschichte begann jedoch bereits 1980. Da traf im Berliner SO36 (so die Legenden) der Gymnasiast Jan Vetter (der sich später nach seinem Hobby in \"Farin Urlaub\" umbenannte) auf den Dekorateurslehrling Dirk \"Bela B.\" Felsenheimer, der unter einem Haufen von leeren Getränkeverpackungen gepennt haben soll. Dem Zahn der Zeit folgend, gründeten sie 1982 mit dem Bassisten Hans \"Sahnie\" Runge eine Punkband \"Die Ärzte\", die schon bald darauf erste Erfolge feierte – und das trotz Indizierung bzw. Verbot der ersten Alben. Sahnie jedoch stieg der Starrummel (was verboten ist, hat einen gewissen Reiz und so verkauften sich die Ärzte-Platten weiterhin gut auch unterm Ladentisch) mit all den Groupies (man munkelt, dass eine gewisse Jenny Elvers damals Gefallen am jungen Farin gefunden hatte) zu Kopf und man trennte sich 1986 voneinander. Für die nachfolgenden zwei Jahre fand sich Hagen Liebing als Livemusiker am Bass, doch aufgrund von \"Kreativitätsproblemen\" legte mich eine fünfjährige Pause ein.

Doch die Sehnsucht war groß, der Griff zum Telefon folgte und mit dem neuen Bassisten Rodrigo \"Rod\" Gonzalez folgte ein neues Album, das sich allen Unkenrufen zum Trotz rasend schnell verkaufte: Es gab noch immer Fans und es sollten in der Folgezeit noch mehr werden, ehe Rod, Farin und Bela mit \"Männer sind Schweine\" 1998 ihren bisher größten kommerziellen Erfolg, Platz 1 in Deutschland, feiern konnten.
Ironie, Wortwitz und -spiele und eine nicht wirklich

Nur kurze Zeit nach dem Jubiläumskonzert, am 31.08.02, durchliefen die Ärzte eine weitere Bewährungsprobe: als dritter deutscher Gig nach Grönemeyer und den Fanta 4 durften sie für MTV den Stecker herausziehen und ein \"Unplugged\" aufnehmen. Nur musste für dieses besondere Ereignis auch eine besondere \"Location\" (wie es neudeutsch so schön heißt) gefunden werden. Farin dachte sofort an eine Tropfsteinhöhle, doch war diese Idee nicht mehr neu - so wurde weiter überlegt und die Wahl fiel auf eine Schule.

Und diese eine Schule ist trotz des Albumnamens \"Rock’n’Roll Realschule\" das Hamburger Albert-Schweitzer-Gymnasium, das unter Hunderten von Bewerbern siegreich war. Dabei dürfte der Musiklehrer, der schon Rod einmal unterrichtet hatte, aber ausschlaggebender gewesen sein als die \"riesengroße Aula, in die ungefähr 287 Personen hereinpassen, wenn sie drängeln\" (O-Ton Farin). Solche Mini-Clubatmosphären müssten für die Ärzte allerdings nicht Neues sein, ein Novum hingegen ist die Unterstützung durch Schulmädchenchor und -orchester sowie der feine Zwirn, der die Ärzte zumindest zu Beginn ihres Auftritts betuchte, auch Schuluniform genannt: schwarze Hose, rosa Hemd, dunkelrotes Jackett mit Emblem. Doch im Eifer des Gefechts mussten zumindest die Jacken dran glauben...

So spitzen wir die Ohren, was passiert, wenn man den Ärzten den Strom abdreht. Können sie auch Akustikgitarren bedienen? Gröhlen sie ins Mikro oder singen sie tatsächlich? Haben sie die Hits aus 20 Jahren inzwischen gelernt oder gar verlernt? Folgende CD, aus dem erstmals am 2. November ausgestrahlten Unplugged-Konzert entstanden, soll darüber Aufschluss geben...

#01 Schrei nach Liebe (3:54)
Ein Klassiker, unmittelbar nach der Wiedervereinigung (der Band) aufgenommen, als der Rechtradikalismus in Deutschland erneut aufflammte. Als Punkband charakterisieren die Ärzte jene arme Schweine, die ihren \"Selbsthass auf andere projizieren\", weil sie sich nicht anders \"artizukulieren\" wissen.
Im Vergleich zum Original vielleicht mit einem Hauch Kuba versehen, was dem Lied aber nicht schadet, es macht nach wie vor Spaß, das böse Wort mit A mitzugröhlen.

#02 Ich ess Blumen (3:23)
Farins Lied - ist er doch schließlich bekennender Vegetarier. \"Für mich macht niemand Tiere tot\" singt er und füttert nur seine Katzen mit \"Kuhragout in Dosen\".
Das Lied lebt hauptsächlich durch Tempiwechsel, ist sonst recht schlicht gehalten. Die Bandkollegen verstärken den Leadsänger bei seinem leidenschaftlichen Plädoyer für Löwenzahnbutterbrote.

#03 Langweilig (3:42)
Ohne \"rhythmisches Klatschen\" ist dieses Stück gar nichts oder aber \"langweilig\". Auch wenn Schlagzeug und (Kontra-) Bass einen treibenden Grundschlag verfolgen, zu dem sich besagtes \"rhythmisches Klatschen\" geradezu anbietet. Der Text besticht leider auch nicht durch die gewohnten Wortspiele – einziger Höhepunkt ist immer noch die Textverteilung.

#04 Meine Ex (plodierte Freundin) (2:04)
Wer eine Vorliebe für Skurrilitäten hat, wird dieses Lied mögen. \"Eben lag sie neben mir, jetzt überall... im ganzen Raum verteilt\"

#05 Monsterparty (3:28)
Ein Relikt aus der 80ern, aus früheren \"punkigeren Zeiten\", irgendwann einmal aufgenommen, aber nie veröffentlicht: \"Das Lied, wegen dem man die CD kaufen muss\". Und deshalb besteht auch kein Grund, den Kauf zu bereuen. Bedächtig beginnt das Stück zwar, wie auch eine Party immer etwas Zeit braucht um anzulaufen, doch schon nach wenigen Takten verschärft sich das Tempo radikal – kaum können die Gitarren so schnell geschrammelt werden. Doch auf Monsterpartys ist alles möglich.

#06 Hurra (3:46)
Vorsicht, jetzt wird es andächtig, nicht nur im Vergleich zum Original. Die Ärzte schwimmen gegen die (N)Ostalgie-Welle an: \"Alles ist besser, als es gestern war.\" Rezession - nein danke? Nur gut, dass man bei den Dreien nie wirklich weiß, ob sie wirklich alles bierernst meinen...
Im OV-Vergleich vom Tempo her deutlich zurückgenommen, aber ich mag es trotzdem, der Sentimentalität wegen.

#07 Kopfhaut (2:42)
Ja, sind wir denn im Wilden Westen? Statt Gitarre wird hier ein Banjo und ein waschbrettähnliches Etwas geschrammelt und sorgt für den typischen Sound von Cowboy und Indianer – was auch immer Fahrradklingel und rostige Hupen in dieser vortechnischen Welt zu suchen haben. \"Du kannst gehen, aber deine Kopfhaut bleibt hier\" erklärt ein Indianer dem Farin, woraufhin dieser sein wildes Wild-West-Geschrammel kurz für einige nachdenkliche Takte unterbricht. Um schließlich doch wieder in die Abendsonne zu galoppieren, bevor ihm noch vorgeworfen wird: \"Du bist...

#08 Zu spät\" (3:41)
Zwei Takte und das Publikum schreit begeistert auf. Sonst ist dieses Stück immer der Rausschmeißer, und sonst ist auch Farin immer das arme Schwein, dessen Freundin zu einem Bonzen überwechselt. Aber hier wurde der Text leicht umgewandelt: Farin hat jetzt das Geld und sogar eine \"Geldspeicherstadt\": \"Du warst mit ihm essen, natürlich Pommes Frites, bei mir gabs nur ab und zu nen schlechten Witz\" statt \"Du warst mit ihm essen, natürlich im Ritz, bei mir gabs nur Currywurst mit Pommes Frites\".
Wir bemerken die feinen Unterschied, schmunzeln und singen trotzdem lauthals im Antwortchor mit... \"zu spät\"!

#09 Westerland (4:18)
\"Jetzt haben sie schon so viele Asse aus dem Ärmel gezaubert, wie geht es jetzt weiter: jetzt kommen die B-Seiten\" denken die Ärzte, dass es das Publikum denkt. Doch es irrt, im Ärmel steckt noch ein weiteres As, dass ich allerdings beim ersten Hören erst nach vier und nicht schon nach zwei Takten erkennt habe. Erstmals auf der CD tritt das Schulorchester begleitend auf und sorgt damit für ein Novum, doch auch diese Version kann mich voll und ganz überzeugen.

#10 1/2 Lovesong (4:14)
Rods großer Auftritt, das Publikum ist begeistert. Er singt das alte Lied von Beziehungen und deren Ende - akzentuierte Beckenschläge sind nicht die einzigen Mittel, um die Ausdrucksfähigkeit zu erhöhen. Kurzum: es klingt schon sehr dramatisch, was uns Rod da erzählt. Nur ein halber oder doch ein ganzer Lovesong?

#11 Komm zurück (3:29)
Dieses Lied wird zur neuen Teeniehymne verkommen, lautet eine Prophezeiung. Farin und der ihn unterstützende Schulmädchenchor sprechen für gebrochene Herzen, das Stadium des Liebeskummers, das nach Rods 1/2 Lovesong auftritt.
Und wirklich lässt die schülerorchestrale Untermalung die ein oder andere Träne aus dem Augenwinkel kullern. *schnief* Hach, wie dramatisch.

#12 Der Graf (3:34)
Hier singt Bela, oder ist es sein Pendant, ein Bruder des Grafen Dracula? Er beklagt, dass der Stern seines Bruders gesunken ist: Wer hat denn noch Angst vor Vampiren? Nicht einmal mehr kraftvoll zubeißen (in den Hals einer Jungfrau oder eines ähnlichen Opfers) kann er, auch er hat Angst vor HIV.
Mitleidig begleiten ihn Farin und Rod in langsamem Tempo mit gelegentlichen Energieschüben, die sich auch in der Dynamik auswirken.

#13 Ignorama (2:58)
Für alle, die grad in LMAA-Stimmung sind, und denen alles egal ist. Textlich aktualisiert, ob \"sich Brosis auflösen\", es \"4 Mio Arbeitslose grob geschätzt\" gibt, alles ist egal. Ihr fragt nach dem Grund, warum? Der könnte banaler nicht sein... Ich sag nur eins: Männer! :-)

#14 Is ja irre (1:36)
Skurrilitäten hatten wir schon vor genau 10 Tracks. In diesem Sinne handelt es sich also nur um ein kurzes, lustiges, lautes, wahnwitziges Intermezzo. Also weiter im Takt.

#15 Bitte Bitte (2:59)
‚Alles, was Töne von sich geben kann, ist ein Instrument’ - nach diesem Leitsatz müssen die Ärzte Waschbrett, Flaschen, Sägen und andere Metallgegenstände bis hin zu peitschenähnlichen Gerätschaften gecastet haben.
Ein Song nicht nur fürs SM-Studio, der tierisch gute Laune macht. \"Bitte bitte lass mich dein Sklave sein\"! (Wer auch immer sich da draußen jetzt angesprochen fühlt...)

#16 Mit dem Schwert nach Polen, warum René? (4:36)
Ach René, was machst du denn für Sachen? Nur weil dein Leben total verpfuscht ist und dich nur noch Utopien am Leben halten, musst du doch nicht gleich \'ein Exemplar stationieren\'. Ein musikalischer Nachruf, der den Songtitel so gut zwischen Pausen einklemmt, dass ich einige Male auf das Cover schauen musste, um ihn zu verstehen - aber dennoch nichts Besonderes.

#17 Die Banane (4:59)
Statt einiger Worte zum Song, wo wieder einmal Bela ans Mikro darf, eine kleine Anekdote aus meinem ereignislosen Leben.
Eine Kommilitonin erzählte uns, nachdem wir über die Zweideutigkeiten in diesem Song philosophiert hatten, wie sie Bananen isst. \"Zuerst lutsche ich sie an, damit sie weich wird, dann zerdrücke ich sie langsam mit der Zunge und beiße das Stückchen schließlich ab.\" Wir krümmten uns vor Lachen schon auf dem Boden, sie hat aber trotz des Kommentars \"Dein armer Freund...\" bis heute nicht verstanden, wieso.

#18 Manchmal haben Frauen... (5:28)
Mit kniendem Schulmädchenchor intoniert Bela hier seine Antwort auf Frauenverprügler auf der einen und Feministinnen auf der anderen Seite. Spöttisch, von Wortspielen durchtränkt, die Die Ärzte und ihre Anhänger so lieben. Und deshalb gibt es auch keinen Grund, diese Unplugged-Version nicht zu mögen.

#19 Medley (4:59)
Von vier Wochen Proben wurden laut Farin allein dreieinhalb auf dieses Medley verwendet. Diese Zeit ist aber auch gut investiert... Schlag auf Schlag folgen hier 20 Jahre Bandgeschichte, die Übergänge sind fließend: Spitz die Ohren, Unsichtbarer!

Fazit:
Nach gut 70 Minuten wissen wir nun, dass Die Ärzte keinerlei Probleme mit Akustikgitarren haben, tatsächlich ins Mikro singen können (wenn sie nicht grad auf andere Weise einen Kommentar loswerden - wer die Ärzte schon einmal live gesehen hat, weiß, dass sie sich auf aufs exzessive Scherzen verstehen) und ihre musikalischen Fähigkeiten weiter ausgebaut haben. Die \"genialen Dilettanten\" aus den 80ern sind schon längst zu ernst zu nehmenden Musikern geworden, die sich jedoch den Spaß nicht verderben lassen. Die hohe Kunst, sich selbst nicht zu ernst zu nehmen, Die Ärzte beherrschen sie in Perfektion, wie man auch bei den zwischendurch immer mal wieder zu vernehmenden Einwürfen bzw. den Songankündigungen oder auch im Songtext selbst leicht erkennen kann.
Von musikalische Seite spricht ebenfalls rein gar nichts gegen diese CD. Die wenigen Misstöne sind, sofern sie nicht ins Konzept gehören, in meinen Augen (bzw. Ohren) allein auf den Schulmädchenchor zurückzuführen - aber sie sind ganz gut abgemischt.
Die logische Konsequenz sind also fünf Sterne und eine eindeutige Weiterempfehlung der selbsternannten \"besten Band der Welt\", die sich nach wie vor ihr Image der \"Besserpunks\" erhalten - wer so gekonnt zwischen Punk, Rock’ n’ Roll, Ska und Spaß manövriert, hat sich dies verdient. Und 13,99 Euro sind zu verschmerzen.

Anspieltipps:
#01 Schrei nach Liebe (cubanian style) - #05 Monsterparty (als expliziter CD-Kaufgrund) - #09 Westerland (der Klassiker neu aufgemischt) - #17 Die Banane (Ich bitte hier die Bezeichnung \'Ohrwurm\' nicht allzu wörtlich zu nehmen...) - #19 Medley (komprimierte Bandgeschichte).

Alle Infos sind entnommen www.bademeister.com (HP der Ärzte), www.laut.de und den MTV-Vorberichten zur Erstausstrahlung der unplugged-Session am 02.11.02.