Sexueller Mißbrauch Testbericht

No-product-image
ab 10,11
Auf yopi.de gelistet seit 09/2003

5 Sterne
(5)
4 Sterne
(1)
3 Sterne
(0)
2 Sterne
(1)
1 Stern
(0)
0 Sterne
(11)

Erfahrungsbericht von LeaofRafiki

Vom Überleben zur Lebenslust

Pro:

klingt vielleicht schräg, aber ein Pro sind die Stärkender Überlebensstrategien

Kontra:

auf jeden Fall die Seelenverletzungen

Empfehlung:

Nein

\"Männern kann so etwas ja nie passieren!\", dieser Satz, verbunden mit dem Titel und einem Blick auf den Kategoriepfad, alles drei in einem AugenBlick wahr- und aufgenommen, reichten, um meine ansonsten doch recht stabile Abwehrmauer zu durchbrechen. Mehr lesen wollte ich auch eigentlich nicht, uneigentlich hab ich mir den Text abgespeichert, um mich zu einem späteren Zeitpunkt damit auseinander zu setzen.

Ich saß noch lange vor dem Computer, längst offline, und versuchte, die aufsteigenden Tränen und Bilder gleichzeitig zurückzudrängen wie auch zu sortieren. \"Männern kann so etwas ja nie passieren!\" Doch es war ein Bild, daß sich immer wieder in den Vordergrund drängte. Ich war wieder zurückversetzt in ein TZI-Ausbildungs-Seminar zu Studienzeiten, wir hatten viel gelacht, einiges an Selbsterfahrungsübungen gemacht und saßen abends in gemütlicher Runde zusammen. Ein Teilnehmer war sehr still, beteiligte sich nicht an den Späßen. Unser Seminarleiter, sonst ein sehr einfühlsamer Mann, nahm ihn \"auf\'s Korn\", mir wurde immer unbehaglicher, er ließ aber bald auch wieder von ihm ab und wandte sich anderen Studenten zu. Später trafen wir, er, der Bedrückte, seine Freundin und ich, uns zufällig (?) in einem anderen Raum wieder. Meine Ahnung hatte mich nicht getrogen. Im Laufe der weiteren Stunden switchte ich von der Teilnehmerin zur Seelenempfängerin, er erzählte, stockend, von seiner Vergewaltigung als Jugendlicher. Später in der Nacht, war er befreiter, gelöster, ich um einige Zentner Seelenlast schwerer, aber auch glücklich, daß er mir sein Vertrauen geschenkt hatte. Wer je ein solches Erlebnis hatte, weiß, wie wertvoll ein solches Geschenk ist.

Ich schaltete den Computer aus, lief den restlichen Abend wie Falschgeld durch meine Wohnung.

Ein anderes Bild kam vor dem Schlafengehen:
Ich hatte mich in der Uni zu einem TZI-Block-Seminar angemeldet, es gab eine Liste für Mitfahrgelegenheiten zum Seminarort, und so hatte ich einer Frau angeboten, sie dorthin mitzunehmen. Kaum hatten wir die Stadt verlassen und befanden uns auf der Autobahn, fing Susanne an zu erzählen. Sie redete und redete ohne Punkt und Komma, ohne Unterbrechung, meine Hände krallten sich ums Lenkrad, bis die Knöchel weiß hervortraten, keine Fluchtmöglichkeit für mich... Ihr Thema: Die Woche nach diesem Seminar würde sie im Notruf für Vergewaltige Frauen eine neue Selbsthilfegruppe für vergewaltigte und mißbrauchte Frauen anbieten. Irgendwie hab ich\'s geschafft, uns heile zum Seminarort zu bringen, und ich, die ich sonst immer darauf bestanden hatte, ein Einzelzimmer zu bekommen, da ich es nicht ertragen konnte, wenn jemand im selben Raum schlief wie ich, hörte mich plötzlich fragen, ob sie das Zimmer mit mir teilen wollte. Dies war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.
Von den drei Tagen Seminarzeit verbrachten wir gut drei Viertel zu zweit, Einzelgespräche statt Gruppenarbeit... Den folgenden Dienstagabend saß ich wie von unsichtbaren Fäden gelenkt in dieser Gruppe... Und ich hörte zu. Hörte lange Zeit nur zu, wenn die anderen Frauen erzählten, von der erlebten Vergewaltigung, von ihrem frühkindlichen Mißbraucht-Worden-Sein, von Prügeln und von Seelenqualen. Die Bilder, die sie beschrieben, stimmten nicht mit meinen überein, aber die Gefühle kamen mir bekannt vor...
Sehr rasch avancierte ich zur Co-Leiterin, so schlimm wie bei den anderen war es ja bei mir nicht. Nach der Gruppe saßen wir beide abends oft noch lange zusammen, sprachen über das, was zuvor in der Gruppe gelaufen war. Auch ich hatte schon viel sexuelle Gewalt erlebt, bei der sechsten Vergewaltigung hab ich aufgehört zu zählen, aber irgendwie erschien mir das nicht so schlimm wie das, was die Frauen in der Gruppe erlebt hatten. Bei mir waren es ja \"nur\" Beziehungstäter gewesen, also nie jemand Fremdes, Unbekanntes, kein klassischer Vergewaltiger aus den Schauermärchen, der nächstens die Rolladen hoch schiebt und ins Haus und die Frau eindringt, oder der berühmte Überfall in einer verlassenen Gegend, im Gegenteil, ich konnte tief in der Nacht durch Downtown Kingston stromern, ohne das mir etwas passierte, sogar ein Einbrecher in meinem Hexenhaus hatte vor meinen Katzen (?) die Flucht ergriffen, nein, ich war nie wirklich zu Schaden gekommen, gut, gekränkt war ich, weil wer die Gesetze des Gastfreundschaft verletzt hatte und einfach in mein Bett und mich gestolpert kam, statt im Gästezimmer zu bleiben, oder ein Mann, mit dem ich zusammenlebte, mich am Abend, an dem ich erfahren hatte, daß mein Seelenbruder Selbstmord begangen hatte, so daß ich nicht mit ihm schlafen wollte, mich zur Strafe für meine Verweigerung in die Klitoris gebissen hat, oder der Vater meines ungeborenen Kindes in der Nacht vor der Schwangerschaftsunterbrechung in mein Zimmer kam, mich weckte und versuchte mich zu erwürgen, nachdem er mich die Abende vorher durch die Wohnung geprügelt und anschließend wüst gevögelt hat, von erzwungenen Küssen als Jugendliche und ähnlichem will ich gar nicht erst reden.
Ich war dann jedesmal ein paar Tage geknickt, konnte aber jede einzelne Situation gut rational erklären - und wegstecken. Nicht erklären konnte ich mir lange Zeit die immer wieder langen dunklen, depressiven, teils/fast todessehnsüchtigen Phasen in meinem Leben, die Phasen, in denen ich wie eine Marionette durch\'s Leben lief, nach außen hin weiter fröhlich und gut funktionierend, innerlich wie tot und abgeschaltet, die Phasen, in denen ich \"über den Zaun\" blickte, also als \"schwebender Kopf\" mich mehr in heut würde man sagen esoterischen Sphären aufhielt und zuhause fühlte als mit den Füßen auf dem Boden, meine ungeheure, mich teils umwerfende Sensibilität für noch nicht bewußtes Leid anderer, Vorahnungen und Vorauswissen, deja vus, das Empfinden, uralt zu sein, weise Frau, Hexe und Jungfrau in einem.
Na ja, daß ich jahrelang keine Berührung am Hals ertragen konnte, geschenkt, daß ich nicht mehr schlafen konnte, wenn noch wer im Raum war, geschenkt, daß ich panische Angst vor Oralverkehr hatte, geschenkt, ist ja auch nicht zwingend notwendig, daß ich Orgasmen gehaßt habe, geschenkt, schließlich lernt frau schnell, diese vorzuspielen, um wieder ihre Ruhe zu haben, aber mir ging es doch nie richtig schlecht, \"danach\", ich hab keine Zwangshandlungen entwickelt, wie andere Frauen, hab mir nie die Hände aufgekratzt, an mir geschnibbelt oder mir Brandwunden zugefügt, mir aus Scham und Ekel die Pulsadern aufgeschnitten, nur aus Liebeskummer, habe weder Bulimie noch Freßsucht entwickelt, bin nicht drogenabhängig geworden oder auf dem Strich gelandet. Also war das alles doch nicht so schlimm... Oder?
Es blieb ein Unbehagen.
Dieses Unbehagen wuchs. Gebar die Frage: warum habe ich so viele Situationen, nicht nur sexueller Gewalt erlebt. Warum kam ich immer wieder an den gleichen Menschenschlag, geriet ich immer wieder an die gleichen Männer, die Gewalt ausübten, an Alkoholiker, an Drogenabhängige. Warum habe ich das immer wieder mit mir machen lassen, mich nie gewehrt. Warum immer wieder das Gefühl des \"ich kenne diese Gefühle\", wenn Frauen von ihrem Mißbrauchserlebnis erzählten. Die Heimlichkeit. Das Zweifeln an der eigenen Wahrnehmung. Und eines abends, nach der Gruppe, sagte ich zu ihr: \"Ich bin eine Mißbrauchsüberlebende. Ich habe keine Erinnerung, aber ich weiß es.\" Und ihre Antwort war das Beste, was ich je gehört habe: \"Wenn Du es so empfindest, dann ist das so!\"

Ich erlebte bei anderen Frauen, immer wieder, wie eine \"Gedächtniserinnerungslückenblase\" aufstieg und platzte. Nur bei mir nicht. Weder von alleine noch mit professioneller Hilfe. Keine \"richtige\" Erinnerung an meine Kindheit, nur bruchstückhafte Fetzen. Jahrelang fühlte ich mich \"falsch\", weil ich keine Kindheitserinnerungen an meine Eltern hatte, nur an meine Großeltern. Ich sehe meine Oma, wie sie den Schlafanzug über den Ofen hängte zum Anwärmen, wie sie Stampfkartoffeln rührte, meinen Opa, wie er seine Zigarre in den Aschenbecher legt, da muß ich drei gewesen sein, aber keine Erinnerung an meine Eltern... (Dieses Rätsel löste sich später, als ich erfuhr, daß ich die ersten Jahre häufiger bei Oma Else und Opa Willi als bei meinen Eltern gewesen war, was meine Mutter bis heute verneint, die Kalender meiner Oma aber eindeutig belegen.)
Ich erinnere das Unbehagen an meinen Großvater väterlicherseits, mein von ihm Abrücken, wenn er mich in den Arm nehmen wollte, sehe den Karnickelstall im Garten und spüre den Ekel vor dem österlichen Karnickelbraten auf dem Tisch...(Später erfuhr ich, daß er zwei Jahre im Zuchthaus war. Weil er sich an seiner Stieftochter vergangen hatte.)
Ich habe heute noch Angst vor Sirenen, reagiere auf ihren Klang mit Herzrasen, trockenem Mund und Kaltem Schweiß. Aber ich bin doch ein Nachkriegskind...
Ich erinnere dunkel, daß ich als Kind eine Verletzung zwischen den Beinen hatte, meine Mutter mit einem Ruck ein Pflaster abriß \"dann tut\'s nicht so weh\" - aber warum wieso weshalb diese Verletzung? Keinen blassen Schimmer, nur ein flaues, bedrohliches Gefühl im Bauch..

Der Prozeß des Erinnerns dauert jahrelang. Geht nur häppchenweise. Immer gerade so viel, wie meine Seele zu ertragen vermag. Manches hab ich durch Malen geschafft, da, wo der sprachliche Ausdruck versagte, unmöglich war, sahen andere meine Bilder, erbleichten sie, so wie ich Anbetracht ihrer heute, manches durch das Besuchen alter Kindheitsstätten. Der Hausflur im Haus meiner Kindheitsfreundin, eine Gänsehaut und ein Frösteln, innere Anspannung und Abwehr, sobald ich die Wohnung betrat angesichts ihres Vaters, noch als Erwachsene zwanzig Jahre später dieselben Gefühle bei einer gemeinsamen Katzenrettungskation. Die Schere im Kopf: er tut etwas Gutes und trotzdem in mir nur Abwehr. Auf meiner Suche nach der vermissten Kindheit geleitet hat mich jedesmal mein Herzklopfen, mein \"ich will das nicht, will mich lieber verkriechen und vergraben, mir die Decke über den Kopf ziehen\", dann wußte ich, weiß ich, ich bin nah dran. Viele Rätsel hab ich schon lösen können, die meisten im Alleingang. Immer noch muß ich erstmal \"alleine ran\", brauche dann aber jemanden, dem ich das Erfahrene erzählen kann, der mir glaubt. Viele Menschen haben mir geholfen, am meisten meine Freundinnen, S., oben genannte Notruffrau, die mich immer wieder bestärkte, wenn ich an meinen Erinnerungen und Gefühlen zweifelte. K., die die mich heilende Eigenschaft hatte, meine \"Gedanken lesen\" zu können, wenn es mir mal wieder die Sprache verschlagen hatte, und das meine ich wörtlich! In die Ecke gedrängt von Gefühlen, Erinnerungen und Ängsten versagte mir beredtem Wesen die Sprache, ja selbst die Gedanken wurden stumm. Ich konnte sie Tag und Nacht anrufen und wenn ich nur noch Geräusche am Telefon hervorbrachte, frug sie \"Ist es wieder soweit?\" und kam oder ich fuhr zu ihr..

S. und ich sind aus dem Notruf geflogen, weil wir ein Konzept entwickelt hatten, daß von völliger Akzeptanz des Erlebten ausgingen, egal, ob Mann oder Frau, ob als Kind oder als Erwachsene, unabhängig von der Form der erlebten Gewalt. Das paßte nicht dorthin. Paßte nirgendwo hin...

Die Schritte zur Heilung liefen wir unbeholfen, wie ein Kind die Welt (neu) entdeckt. Ohne all die großartigen Therapeuten, die immer alles besser wissen, die wissen, was gut ist für einen oder was nicht, dafür in Begleitung von respektvollen und respektierten Menschen, die uns ernst nahmen und annahmen so wie wir sind. Sie bestanden aus Selbsterfahrung, Körperarbeit - viel Körperarbeit, Tanztherapie, künstlerisch-kreativem Tun, Malen, Musik machen, immer an der Angst lang. Sie wurde zum Wegweiser. Ein weiteres wurde - für mich - Tantra. Die Wiederentdeckung des Körpers als Tempel der Seele, von Erotik als Lebensenergie, von sexueller Vereinigung als heiliges Ritual. Alles zusammen genommen, begann das Leben richtig Spaß zu machen.

Vor mehr als zehn Jahren dann der Rückschlag. Ich war mit meinen Eltern in Berlin, hatte mich im Osten der Stadt verabredet. Er/sie brachte mich zur S-Bahn. Im Abteil fühlte ich bohrende Blicke auf mich gerichtet, ein Unbehagen breitete sich in mir aus, steigerte sich bis zur Panik, eine lange Dreiviertelstunde lang. Bahnhof Zoo stieg ich aus, hastete durch das Gebäude, froh den Blicken entronnen zu sein, doch der Mann, der sie warf, folgte mir, verfolgte mich. Ging ich langsam, hielt er Abstand, wurde ich schneller, so er auch. Es regnete. Der große Platz war menschenleer. Die Atmosphäre hätte jedem Horrorfilm als Kulisse dienen können. Die ganze Szene hatte etwas Irreales, ich stand als Beobachterin neben mir und war doch mitten drin, Akteurin und Opfer. Endlich! Vor dem KaDeWe ein Taxi! Ich stürzte hinein, ließ mich die letzten Meter bis zu unserer Unterkunft fahren. Der Taxifahrer hatte einen siebten Sinn, hat nicht gemosert über die kurze Fahrstrecke sondern gewartet, bis ich im Haus in Sicherheit war. Im Appartement angekommen, saß ich klatschnass am Tisch, stumm, starr und bleich. Meine Mutter fragte und fragte und fragte, mein Vater schenkte mir wortlos einen großen Cognac ein. Als ich mich etwas beruhigt hatte, erzählte ich das Erlebte. Hätte meine Mutter wie in so vielen Situationen zuvor es gewagt zu sagen: \"Kind, das hast du nur geträumt!\", ich hätte mich auf sie gestürzt. Was sie tatsächlich gesagt hat, weiß ich nicht mehr.

Was war das? Es war doch gar nichts passiert, nicht wirklich...
Wieder zuhause in der Fremde, ich war kurz zuvor in ein anderes Bundesland gezogen, stürzte alles zusammen. Im Äußeren Jobverlust und dadurch bedingte Existenzängste, die Trennung von meinem Freund wenige Tage darauf gab mir den Rest. Ich konnte nicht mehr denken, nicht mehr schlafen, nicht mehr sprechen. Auf der Fahrt von meinem Dorf in die Stadt zum Arzt mußte ich an den Rand fahren, nichts ging mehr. Irgendwann kam ich doch noch an. Schaffte es aber nur unter Mühen und Trennung von mir selbst, den großen Platz zu überqueren, die Praxis lag in einer verkehrsberuhigten Zone. Er verschrieb mir Psychopharmaka, ich legte die Schachtel als Mahnmal auf\'s Regal, schmiss sie später weg. Es dauerte Jahre, bis ich wieder S-Bahn fahren und große, weite Plätze überqueren konnte, meist mit einem Stofftier in der Manteltasche, das ich fast zerquetschte...

Ausgelöst durch dieses Erlebnis in Berlin kamen fast alle bis dahin geahnten und erinnerten Gewalterlebnisse auf einen Schlag wieder hoch - und hauten mich um.
Unkraut vergeht nicht, ich klaubte meine Reste zusammen und floh gen Norden. Und begann erneut, mich langsam, Stück für Stück wieder zusammenzusetzen. Insgesamt war ich 15 Monate krankgeschrieben, was über Umwege zu meiner späteren Verrentung führte, aber das ist ein anderes Thema.

Einige haben meine S/M-Geschichten gelesen und werden sich fragen, wie das zusammenpaßt - oder schlimmer noch, denken, aha, da kommt das her...
Ich habe diese Diskussionen vielfach geführt, privat wie nach Vorträgen. Es gibt nämlich einen winzigen wichtigen Unterschied: S/M ist consensual, sexuelle Gewalt ist es nicht. Immer an der Angst lang. Aber nie über sie hinweg, jedenfalls nie so weit, daß der eine so bodenlos fällt, daß der andere ihn nicht mehr auffangen kann. Das heißt auf deutsch, die Positionen kehren sich um..., das vermeintliche Opfer ist der eigentliche Machthaber. Der sexuelle Gewalt-Täter hingegen übt sexuelle Gewalt aus gegen den Willen des Opfers, setzt sich über dessen Würde und Grenzen hinweg, beim S/M steht jedoch die Lust beider an erster Stelle, oberstes Gebot ist der Erhalt des Vertrauens und das sich Bewegen innerhalb vorher fest abgesteckter Grenzen. Überschreitet der S die Grenzen des M, so daß dieser aus der Lust in die Panik kippt, haben beide (!) verloren. Bei sexueller Gewalt hingegen bezieht der Täter seinen verqueren Gewinn genau daraus, daß er die Grenzen überschreitet.
Was menschen- oder frauenverachtend anmutet, ist im Grunde eine Vertrauensübung. So einfach ist das, vereinfacht gesagt. Ich hatte das Glück, mit meiner AngstLust Frieden schließen zu dürfen, umgeben von wunderbaren FreundInenn, größtenteils bisexuelle Switcher (also Menschen, die sowohl die aktive wie auch die passive Seite ausleben), als M, verbunden mit einem sehr einfühlsamen Mann, konnte ich im sogar eines Tages meinen Hals bieten, als S lernte ich, mit meinen eigenen Agressionen umzugehen. Bei einem \"M\'chen\", das bettelte, ich solle ihn \"klein machen\" brach ich die Situation ab, mit dem Gedanken \"Wenn du wüßtest\"! Wünsche es dir nicht, ich weiß aus eigener Erfahrung, wie es geht, wie es sich anfühlt...\" Bereits erwähnte Freundin kommentierte mein S/M-Coming-Out übrigens seinerzeit mit \"Du willst durch deinen Masochismus durchgehen, um dich davo zu befreien.\" Recht hatte sie. Bis auf die Kleinigkeit, daß ich es tatsächlich geschafft habe, alle gewaltenden Männer aus meinem Leben zu schmeißen - und mir statt dessen drei Macho-Kater ins Haus geholt hab. Aber diesen Knoten werd ich auch noch lösen...


Bis heute habe ich nicht bis zum letzten vordringen können, aber es ist nicht mehr wichtig für mich, darauf kommt es nicht mehr an. Wichtiger ist mir geworden, mit den Folgen, den Spätschäden, den Seelennarben umgehen zu können, leben zu können, wieder mit LebensLust leben zu können. Denke ich, dachte ich, denn es gibt immer wieder schwarze Phasen, wie eine Gewitterwolke, die sich vor die Sonne schiebt und alles verdunkelt, so wie dieser Tage, gottlob tauche ich immer öfter immer schneller wieder auf.

Mißbrauch ist Mord an der Seele, hat viele Formen. Es gibt nicht nur sexuellen Mißbrauch, auch wenn ich das Wort hasse, impliziert es doch einen rechtmäßigen Gebrauch. Ich nenne es heute lieber Grenzverletzung. Und dafür gibt es tausend und mehr Beispiele. Ein begehrlicher Blick, der ein Kind trifft, reicht schon. Das Empfinden, was ich in Berlin in der S-Bahn hatte, für mich als Erwachsene schon schlimm genug, wie schlimm aber für ein Kind, das dessen Bedeutung nur spürt, nicht aber sprachlich fassen oder ausdrücken und sich demzufolge auch nicht dagegen wehren kann... Eine Berührung, nach außen hin wohlwollend, aber als unangenehm und tätschelnd empfunden, die sexuelle Absicht ist spürbar, aber nicht in Worte zu fassen... Da fängt es bereits an!

Es gibt seelischen Mißbrauch. Wie ich ihn erfahren habe. Meine Mutter hat mir neben Märchen auch ihre Kriegserlebnisse so plastisch geschildert, immer und immer wieder, daß ICH heute Angst habe, wenn in regelmäßigen Abständen die Sirenen überprüft werden, hat mir, als das Haus gegenüber brannte und mich als Kind ängstige, statt mich in den Arm zu nehmen und zu trösten und zu besänftigen, vom brennenden Berlin anno 45 erzählt, von ihren Erlebnissen auf dem Hauptverbandsplatz. Vielleicht hat sie durch dieses Aussprechen ein bißchen ihres eigenen Grauens mildern können, hat es aber mir aufgebürdet und eingepflanzt, mich als Ersatz für ein erwachsenes Gegenüber mißbraucht.

Es gibt körperlichen Mißbrauch. Prügel und Schläge, ohne erkennbaren Grund und Anlaß, die sich aber atmosphärisch ankündigten, wenn meine Eltern wieder einmal Streit miteinander (!) hatten. Unberechenbar. Unabhängig davon, ob ich lieb war oder nicht. Ich wußte als Grundschulkind an bestimmten Tagen, wenn ich morgens zur Schule ging, daß ich, wenn ich nach Hause komme, meine Mutter mit dem Kochlöffel oder Kleiderbügel auf mich wartet, schlimmer noch, mich zwingen wird, ihr diese aus der Küche oder dem Schrank zu holen, damit sie mich damit schlagen und ohne Essen ins Bett stecken wird. Noch heute kann ich es nicht ertragen, wenn sich zweie hinter geschlossenen Türen streiten.

Es gibt Vertrauensmißbrauch. Briefe öffnen, Tagebücher einem Dritten laut vorlesen. So erlebt im Internat von Mitschülerinnen, später, nach meinem Suizid (ich spreche bewußt nicht von Suizidversuch, denn ich bin reanimiert worden) hat meine Mutter meinen Vater gezwungen, sich am Wohnzimmertisch MEINE Tagebücher vorlesen zu lassen. Weinend brachte er sie mir ins Krankenhaus. Auch eine Verletzung der Intimsphäre.

Das Schlimmste für mich aber ist und war das jahrzehntelange Verneinen meiner Wahrnehmung, meiner Erinnerung, wenn ich etwas erlebt oder erinnert hatte und meine Mutter entgegnete: \"Kind, das hast du nur geträumt\", bis ich selber daran in die Irre ging. Sie hatte versucht sich umzubringen, eines Abends, nachdem sie sich morgens mal wieder mit meinem Vater gestritten, mich nachmittags verprügelt hatte. Er kam in unser Schlafzimmer, ich wachte auf, er saß auf der Bettkante, die Hände vor\'s Gesicht geschlagen und weinte. Ich ging zu ihm. Er nahm die Hände vom Gesicht. Auf beiden Wangen hatte er lange, tiefe, blutiger Kratzer. \"Wo ist Mami?\" frug ich ihn. Er erwachte wie aus einer tiefen Benommenheit, ging durch die Wohnung, sie suchen. Das Bad war verschlossen. Er trat die Tür ein. Sie lag da, blau im Gesicht, den Gürtel ihres Schlafanzugs um den Hals. Mich, die ich klein hinter ihm stand, hatten sie vergessen. Das erste Mal erinnerte ich mich mit zwölf daran, als ich in den Weihnachtsferien vom Internat zuhaus war, bedingt durch eine unheilschwangere Atmosphäre im Haus und Fettflecken an der Decke. Im Internat wieder erzählte ich meiner besten Freundin von meiner Erinnerung, die es wiederum einer Erzieherin, die angeblich meine Mutter nachdem Wahrheitsgehalt meiner unglaublichen Geschichte befragte... Ergebnis, ich wurde als \"böses Kind\" vor allen anderen 280 SchülerInnen auf dem Podium im Eßsaal bloßgestellt, weil ich Lügen über meine Mutter erzählen würde. Ich hielt mich für verrückt und böse. Das zweite Mal erinnerte ich fünfzehn Jahre später es im Studium, ausgelöst durch ein Biographie-Seminar, frug meine Mutter direkt. Sie verneinte. \"Kind, das hast du nur geträumt.\" Ge- und bestärkt durch meine Freundinnen (s.o.) zweifelte ich nicht mehr ganz so dolle an mir. Ein paar Jahre später frug ich sie noch einmal, da gab sie es unter Tränen zu, sie sei so unglücklich gewesen, hätte sich dafür geschämt und mich nicht damit belasten wollen... Wie viele Leben ICH brauchen werde, um nie wieder an meiner Wahrnehmung und Erinnerung zu zweifeln, kann ich heut noch nicht sagen.

Was hat das nun mit sexuellerGewalt und Mißbrauch zu tun?
Nun, hier schließt sich ein Kreis.
Wie oft heißt es \"wird schon nicht so schlimm sein\" oder \"das ist doch nicht schlimm\" oder \"so schlimm war es doch gar nicht\". Egal, ob der Besuch beim Zahnarzt oder eine Vergewaltigung. Dieses Negieren des erlebten Empfindens (oder Empfunden Habens) ist der zweite Mordanschlag auf die Seele. Kein Mensch hat das Recht, einem anderen sein Empfinden abzusprechen!
Wie oft heißt es \"Kind, das hast du nur geträumt\", oder \"das bildest du dir nur ein\", oder \"das war doch ganz anders\" - vielleicht mag sich das eine oder andere wirklich anders zugetragen haben, manches wird auch in der Erinnerung geschönt (oder überzeichnet), ABER kein Mensch hat das Recht, einem anderen vorzuschreiben, wie er was zu erinnern hat!

Die Seelennarben bleiben. Ein Leben lang. Und sind hochempfindlich, reagieren auf die kleinste Andeutung.
Sie geschmeidig zu erhalten, damit sie nicht verhärten, ist eine mühsame Aufgabe und hohe Kunst. Dabei hilft eines: Lachen, aus vollstem Herzen und tiefster Seele. Diese Erschütterungen fördern die Durchblutung und den Energiefluß.

Was hilft?
Sich behutsam dem eigenen Körper und der geschundenen Seele wieder annähern. Körper sind klug, sie erinnern mehr als uns manchmal lieb ist, blockieren dann, wenn etwas zu viel zu werden droht. Diese Schutzgrenzen wahrzunehmen, zu respektieren und zu beachten ist schwer, für Außenstehende manchmal verquer, führt es doch zuweilen zu absurden Situationen, beispielsweise wenn Erdbeereis mit Sahne Erinnerungsträger ist, aber es gibt halt auch andere Eissorten, oder? Wenn ein quietschegelber Pullover ein mulmiges Gefühl auslöst, dann halt einen grünen nehmen, oder lila-getupft. \"Nein\" sagen lernen ist wichtig! Uns selbst und anderen gegenüber, ohne Schuldgefühl und schlechtes Gewissen, ohne den hemmenden Gedanken \"Was denken die anderen jetzt bloß?\"Sollen sie doch denken, was sie wollen!
Sich wann immer eine schwarze Phase, eine Erinnerungsblase ankündigt, eine Auszeit nehmen, wie bei einer Geburt MIT dem Schmerz schwingen statt sich gegen ihn zu stemmen, das verbraucht nämlich nur unnötige Energie. Aber nicht in ihm schwelgen, das macht wehleidig und/oder lähmt...
Wahre Freunde, die zuhören können, die im richtigen Moment da sind und schweigen können, statt einen mit gut gemeinten Ratschlägen an die Wand zu reden, die Trauer, Wut und Verzweiflung, Niedergeschlagenheit und überschießende Ausgelassenheit aushalten können, die warten können, bis man selbst zu reden beginnen will, die im richtigen Moment die richtige Frage stellen können, die nicht bevormunden, wegtrösten oder besserwissen. Ich lese so oft den RatSchlag, das Erlebte zu erzählen. Aber manchmal ist es genauso wichtig, sich nicht ins Reden zu flüchten, sondern in gemeinsamem Schweigen aushalten können. Jedes zu seiner Zeit.

Im Amerikanischen spricht man von Mißbrauchsüberlebenden (\"survivors\"). Jede Frau und jeder Mann, die (sexuelle) Gewalt und Mißbrauch überlebt haben, die Zahlen schwanken, man sagt aber ca. jede zweite Frau und jeder dritte Mann, ist ungeheuer stark - sonst hätte sie, hätte er nicht überlebt. Egal mit welcher Strategie, bis auf eine: die der Gegengewalt. Diese Stärke gilt es, sich bewußt zu machen, um dann, Schritt für Schritt, vom Überleben zum Leben, wieder zur Lebenslust zu kommen, das geht nämlich auch mit Seelennarben....
Diese Überlebensstrategien, diese Stärken, können auch als Geschenk, als eine besondere Fähigkeit angesehen werden. Das Sich Abspalten vom eigenen Körper beispielsweise, sich schmerzunempfindlich machen können, kann z.B. beim Zahnarzt sehr nützlich sein, oder bei Unfällen, wo es auf schnelles Handeln ankommt. Zusammenklappen kann man hinterher immer noch. Es sind besondere Verhaltensweisen, die damals ihren Sinn hatten, und es ist unsere Aufgabe, ihnen heute einen neuen Sinn, eine neue Verwendung zu geben.

Von mir als hilfreich erlebte Literatur:

Wendy Maltz: Sexual Healing
Rowohlt Taschenbuch
ISBN 3499193264 ( vergriffen)
auf englisch: The Sexual Healing Journey: A Guide for Survivers of Sexual Abuse
bei Amazon erhältlich, 17,03 Euro
bei www.abebooks.de (vormals justbooks) zahlreich erhältlich


Pat Califia: Sapphistrie. Das Buch der lesbischen Sexualität
Auch nicht-Lesben oder nicht-bisexuellen Frauen empfehle ich dieses Buch, da es von einerFrau für Frauen geschrieben wurde, mit einer einzigartigen Einfühlsamkeit, ohne patriarchalen Hintergrund, daher bestens geeignet, sich mal wirklich auf sich selbst als Frau zu besinnen.
Leider vergriffen, aber vielleicht noch irgendwo antiquarisch aufzutreiben.
Neuauflage: Wie Frauen es tun. Das Buch der lesbischen Sexualität.
Orlanda Frauenverlag 1998
ISBN 3929823535
bei amazon ebenfalls leider nicht mehr erhältlich.
Auf Englisch: Sapphistry. The Book of Lesbian Sexuality. Naiad Press 1988, ISBN 094148324X
bei www.booklooker.de 1 Exemplar für 5 Euro erhältlich

© LeaofRafiki 22.04.2002 / 14.07.2002

diesmal ohne Fakerschutz ;-) JedeR nehme sich, was er/sie brauchen kann aus diesem Text.
Wie an dem Text gegen Ende vielleicht zu merken ist, hab ich die Nase wieder oben!

24 Bewertungen