Der Schimmelreiter (Taschenbuch) / Theodor Storm Testbericht

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ab 4,01
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Erfahrungsbericht von w.gruentjens

Storms Meisterwerk

Pro:

Storms Hauptwerk ...

Kontra:

... liest sich manchmal schwer.

Empfehlung:

Ja

Der Schimmelreiter

Wie schön ist es, ein Kind zu betrachten, das mit seinen geistigen Gaben und seinen Ideen alle anderen überragt! Um wie viel schöner ist es dann noch, zu sehen, wie dieses Kind nicht nur heranreift, sondern durch Eifer, Fleiß und glückliche Zufälle an die oberste Spitze der kleinen dörflichen Gemeinschaft, zu der man gehört, gelangt?

Wir Leser des „Schimmelreiter“ dürfen die Entwicklung des kleinen Hauke Haien bis hin zum mächtigen Deichgraf (Bürgermeister) beobachten. Aber schon mitten in dieser Entwicklung mischen sich in die Freude über die Entwicklung düstere Töne, die das drohende Verhängnis ankündigen …

Mit diesem seinem Hauptwerk, auch seinem letzten Werk, hat Theodor Storm eine schwerblütige Novelle über den Aufstieg und Fall nicht nur des Hauke Haien, sondern der ganzen Menschheit geschrieben, die in ihrer Beherrschung der Natur irgendwann möglicherweise so weit gegangen sein wird, dass sie – wie Hauke Haien – dem Untergang unentrinnbar geweiht ist.


INHALT

Rahmenhandlung

In stürmischer Nacht kann sich ein einsamer Wanderer gerade noch in eine am Deich gelegene Wirtschaft retten. Auf dem Deich ist ihm eine unheimliche schwarze Gestalt auf einem Schimmel begegnet.

Als er im Wirtshaus von der Begegnung berichtet, raunen alle etwas vom Schimmelreiter, und dass ihn auch der und der gesehen habe, dass er sich da und dort dreimal ins Meer gestürzt habe, dass das Zeichen aber für die auf der anderen Seite gelte.

Schnell wird dem Wanderer bewusst, dass es sich bei dem Schimmelreiter um ein Gespenst handelt, das die Menschen vor Sturmfluten warnt, und er ist nur gar zu neugierig, dessen Geschichte zu erfahren. Der Dorfschulmeister erklärt sich schließlich bereit, ihm die Geschichte zu erzählen, in der es aber auch viel Aberglauben gebe.

Haupthandlung

Der junge Hauke Haien beobachtet schon als kleines Kind den allzu harten Anschlag der Wellen gegen das steile Deichprofil. Aus Sand baut er verschiedene weichere Profile und probiert an diesen den sanfteren Anschlag der Wellen. Von seinem Vater leiht er sich, um dem normalen Schulunterricht voranzueilen, einen holländischen Euklid (Geometrie) und ein holländisch-deutsches Wörterbuch aus; und bald beherrscht er die Geometrie.

Eine erste Feindin macht er sich mit der alten Trin Jans, die ihn verflucht, als er ihren alten Kater umbringt, weil der ihm einen erbeuteten Eisvogel abnehmen will. Ob es dieser Fluch ist, der schließlich in sein Verhängnis führt?

Als junger Mann kommt er als Kleinknecht in das Gut des Deichgrafen, der bald merkt, was für einen guten Rechner er da gewonnen hat. Abends sitzen dann der schnarchende Deichgraf, seine kluge und hübsche Tochter Elke – wer ahnt etwas? – und Hauke im Pesel (Wohnstube) zusammen, und Hauke und Elke besprechen die Deichrechnungen und die Verfehlungen der Deichanwohner gegen die Vorschriften.

Hier kommt auch sein zweiter Feind zum Zuge, der Großknecht Ole Peters, der dem Schreiberknecht am liebsten 3 Doppelzentnersäcke auf einmal auf den Rücken lädt und überall verkündet, dass der Schreiberling derjenige ist, der die Schläge des Deichgrafen austeilt.

Schon bald spricht sich dadurch also herum, von wo die ausgeteilten Protokolle und Anweisungen des Deichgrafen in Wirklichkeit kommen, und das Wort „Deichgraf“ wird immer öfter in doppelter Bedeutung benutzt, denn es gibt auch Leute, denen das neue, schärfere Regiment besser gefällt als der alte Schlendrian.


Leseprobe

»Wen hatten sie da drinnen?« frug der Achtzehnjährige.
»Den da!« sagte jener und wies auf Hauke, »Ole Peters wollte ihn zum Jungen machen; aber alle schrien dagegen. ›Und sein Vater hat Vieh und Land‹, sagte Jeß Hansen. ›Ja, Land‹, rief Ole Peters, ›das man auf dreizehn Karren wegfahren kann!‹ - Zuletzt kam Ole Hensen. ›Still da!‹ schrie er; ›ich will\'s euch lehren: sagt nur, wer ist der erste Mann im Dorf?‹ Da schwiegen sie erst und schienen sich zu besinnen; dann sagte eine Stimme: ›Das ist doch wohl der Deichgraf!‹ Und alle anderen riefen: ›Nun ja, unserthalb der Deichgraf!‹ - ›Und wer ist denn der Deichgraf?‹ rief Ole Hensen wieder; ›aber nun bedenkt euch recht!‹ - - Da begann einer leis zu lachen, und dann wieder einer, bis zuletzt nichts in der Stube war als lauter Lachen. ›Nun, so ruft ihn‹, sagte Ole Hensen; ›ihr wollt doch nicht den Deichgrafen von der Tür stoßen!‹ Ich glaub, sie lachen noch; aber Ole Peters\' Stimme war nicht mehr zu hören!« schloß der Bursche seinen Bericht.

MEINUNG

Storms Schimmelreiter ist nicht nur die Geschichte eines außergewöhnlichen Mannes, der durch Talent und Fleiß und Ehrgeiz zu besonderen Taten befähigt ist, es ist nicht nur die Geschichte eines Gespenstes, das in den Erzählungen der Husumer Urgroßmütter vor 120 Jahren vorgekommen sein mag: Es ist auch die Geschichte vom Aufstieg und Niedergang, von Erfolg und Scheitern, von technischem Fortschritt und Vergewaltigung der Natur, vielleicht sogar vom Aufstieg und Untergang des ganzen Menschengeschlechtes.

Denn so wie Hauke Haien sich vom kleinen Kind mit besonderer Begabung zum ersten Mann des Dorfes emporarbeitet, so wie er schließlich als Deichgraf die Ungeheuerlichkeit besitzt, einen nicht zu dämmenden Priel (Meeresabfluss) dennoch dämmen zu wollen, und wie er schließlich an seiner Überheblichkeit, an seiner Vergewaltigung der Natur scheitert, so wissen wir ja spätestens nach den Überlegungen des Club of Rome, dass der Mensch dabei ist, sein eigenes Grab zu schaufeln. Und nach meiner Meinung hat Storm die Problematik des Konflikts Technik- Natur ganz deutlich gesehen und schildern wollen.

Eigentlich ist das also doch eine interessante Geschichte; umso verwunderlicher ist es, dass viele Menschen, auch gebildete Menschen, damit nicht zurechtkommen. Viele sind mit dieser Novelle in der Schulzeit konfrontiert worden, in der Zeit also, in denen nur die wenigsten Schüler schon durch eifrige Lektüre von Klassikern auf den Genuss eines Textes in einer altertümlichen Sprache vorbereitet sind. Wer vorher nur Donald Duck, Bravo und TKKG gelesen hat, ist natürlich bei so einem anspruchsvollen Text völlig verloren.

Wer sich mit der Literatur des 19. Jahrhunderts beschäftigt, für den ist natürlich der Schimmelreiter ein Glanzpunkt; aber ANFANGEN sollte man mit diesem schwierigen Stück nicht. Da würde sich doch eher Polo Poppenspäler eignen.


FAZIT

Eine der schwierigsten, tiefsinnigsten und längsten Novellen des 19. Jahrhunderts über den Aufstieg und Fall eines Mannes, stellvertretend für die ganze Menschheit, liegt uns hier vor. Wer sie noch nicht gelesen hat, sollte das nachholen; aber Vorsicht: Wer noch nicht an die Sprache des 19. Jahrhunderts gewöhnt ist, der sollte mit etwas Leichterem beginnen.

31 Bewertungen, 1 Kommentar

  • Clarinetta2

    02.12.2007, 13:22 Uhr von Clarinetta2
    Bewertung: sehr hilfreich

    priam Bericht, einen wunderbaren ersten Advent