Die Taube (Taschenbuch) / Patrick Süskind Testbericht

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ab 6,53
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Erfahrungsbericht von Araxas

Die Logik des Wahnsinns

Pro:

in gute Prosa kann man alles mögliche hineininterpretieren

Kontra:

konnte ich nicht entdecken

Empfehlung:

Ja

Aufgrund einer furchtbar schlechten Schullektüre, die mir zufällig in die Hände geraten war, interessiere ich mich seit einiger Zeit für die Literatur mit der unsere armen Kinder gequält werden. Das die Taube auch Schulliteratur ist habe ich erst bei der Recherche zum Buch erfahren. Süskinds Werk ist das erste Buch das meine volle Zustimmung findet.

Handlungsanriss
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Jonathan Noel hasst „ Ereignisse“. Als Ereignis bezeichnet Jonathan alles was seine äußere Lebensordnung bedroht. Er liebt die Monotonie und geordnete Strukturen und vermeidet alles was diese Strukturen stören könnte. So hat der 50jährige Jonathan es fertig gebracht 20 Jahre in völliger Ereignislosigkeit zu verbringen.

Sein Bedürfnis nach monotoner Ruhe, kommt nicht von ungefähr. Als der kleine Jonathan an einem Tag im Juli 1942 heimkommt ist seine Mutter verschwunden. Sie sei verreist erklärt der Vater dem Jungen. Die Nachbarn aber erzählen, man habe sie fortgeschafft, in den Osten, in ein Lager aus dem niemand mehr zurückkommt. Jonathan begreift nichts von diesem Ereignis und ist tief verstört. Ein paar Tage später ist auch der Vater verschwunden und Jonathan wird in den Süden zu einem Onkel gebracht der ihn auf einem Bauernhof bis zum Ende des Krieges versteckt hält.

Anfang der fünfziger Jahre wird er von seinem Onkel dazu genötigt sich zum Militärdienst zu melden. Den Großteil der Jahre in Indochina verbringt er mit einem Fußschuss, einem Beinschuss und der Amöbenruhr im Lazarett. Auch die, vom Onkel angeordnete, Ehe bringt nicht die erhoffte Ruhe. Seine Frau brennt schließlich mit einem tunesischen Obsthändler aus Marseille durch.

Aus diesen Vorkommnissen zieht Jonathan Noel den Schluss, dass auf die Menschen kein Verlass ist und dass man nur in Frieden leben kann, wenn man sie sich vom Leibe hält.

In Paris gelingt es ihm endlich den ersehnten Zustand herzustellen. In seinem 7,5 qm großen Zimmerchen fühlt er sich so geborgen wie eine Muschel in ihrer Schale. Im Laufe der Jahre hat er dieses Zimmer immer weiter verschönert, so hat er hinter dem Waschbecken eine schöne rote Lacktapete angebracht. Oder das Bücherregal am Kopfende des Bettes, auf dem nicht weniger als 17 Bücher stehen. Unter anderem ein dreibändiges medizinisches Taschenwörterbuch und das „ Brevier für das Wach- und Schutzpersonal mit besonderer Berücksichtigung der Vorschriften für den Gebrauch der Dienstpistole“. Er liebt dieses Zimmer so sehr das er es sogar seiner Vermieterin abgekauft hat. Noch eine Rate ist zu bezahlen dann wird es ihm endgültig gehören. Sein Beruf als Wachmann bei einer Bank kommt seinen Bedürfnissen in höchstem Maße entgegen. Seine Aufgabe besteht seit zwanzig Jahren darin, 8 Stunden, in würdevoller Haltung, vor dem Portal stehend zu verharren oder allenfalls gemessenen Schrittes auf der untersten der drei Marmorstufen auf und ab zu patrouillieren.

Der Freitagmorgen im August des Jahres 1984, beginnt wie jeder andere Tag in der Rue de Sèrves. Jonathan hat Pantoffeln und Bademantel angezogen, um wie jeden Morgen vor dem Rasieren das Etagenklo aufzusuchen. Wie auch sonst lauscht er zuerst ob sich jemand auf dem Gang befindet, denn er liebt es nicht, Mitbewohnern zu begegnen, am allerwenigsten auf dem Weg zur Toilette. Die Vorstellung vor der Toilette mit einem anderen Mieter zusammenzutreffen ist geradezu peinigend grässlich. Ein einziges Mal war im das vor 15 Jahren passiert. Er denkt heute noch mit Schaudern an den Verlust der Anonymität, den er dabei empfunden hat, zurück. Danach konnte er solch eine furchtbare Situation, gottlob durch sein vorsorgliches Lauschen vermeiden.

Nachdem er sich nun solcherart versichert hat das niemand im Gang ist, öffnet er die Toilettentür. Das was er dort vorfindet erschüttert ihn in den Grundfesten seiner Seele. Der entsetzliche Anblick raubt ihm fast den Verstand und er bleibt an der Tür, für Sekunden, wie zu einer Salzsäule erstarrt stehen. Diese Erstarrung weicht dem blanken Entsetzen und seine Haare sträuben sich vor Schreck. Da vor ihm auf den Fliesen des Ganges sitzt: Eine Taube.

Erzählstil
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Auffallend ist der leicht barocke Stil des auktorialen Erzählers der eigentlich gar nicht mehr zeitgemäß erscheint. Er erinnert mich an Werke die vor 1900 erschienen, wie z.B. von Robert L. Stevenson der diese Perspektive auf die Spitze getrieben hat. Warum der Autor diese Form gewählt hat entzieht sich, momentan, meinem analytischen Denken. Emotional gesehen fügt sich diese Erzählweise aber der Geschichte.

Ein Zitat: @@ Er sei zu Tode erschrocken gewesen – so hätte er diesen Moment wohl im nachhinein beschrieben, aber es wäre nicht richtig gewesen, denn der Schreck kam erst später. Er war viel eher zu Tode erstaunt.@@

Diese grammatikalischen Klimmzüge findet man in der Gegenwartsliteratur ( oder im modernen Sprachgebrauch ) eher selten.

Spannung
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Man glaubt es kaum, aber ich empfand die Geschichte durchaus als spannend. Die dramatisch immer stärker werdende Verzweiflung des Protagonisten drängt dem Leser die Frage auf wo das alles hinführen wird. Sprengt er das Haus in die Luft, erwürgt er die Hausmeisterin, bringt er sich selbst um oder geht er auf die Straße und erschießt mit seiner Dienstpistole wildfremde Menschen ?

Interpretation der Erzählung
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Das scheint wohl, jedenfalls für mich, das Kennzeichen guter Prosa zu sein. Die Vielschichtigkeit dieser, scheinbar banalen Geschichte, offenbart sich durch das weite Spektrum wie eine solche Erzählung wirkt und damit verstanden und interpretiert wird.

Da gibt es eine Interpretation dass ein biederer Bürger durch den Anblick der Taube, die Anarchie und Chaos verkörpern soll in seinen Grundüberzeugungen erschüttert wird. Das erscheint mir doch zu trivial und oberflächlich.

„Als leichte Kost und doch Literatur. Als amüsante Geschichte für Zwischendurch.“ Diese Aussage geht, nehme ich an, weit an der Intension des Verfassers vorbei.

Ganz klar mache ich hier subjektive Aussagen, wer sich umfassender informieren will den verweise ich auf Suchmaschinen wie z.B. http://www.metacrawler.de/ .

Mein spontaner Eindruck war eher, das hier ein psychologischer Sachverhalt sehr eindringlich und glaubhaft dargestellt wird.

Meine Interpretation
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Der Autor wollte vielleicht einfach nur eine gute Geschichte erzählen, was ihm auch gelungen ist. Bei mir persönlich hat diese Novelle folgende Echos ausgelöst:

Wäre ich Psychologe hätte ich Jonathan sofort in der Schublade Borderline – Störung gesteckt. Durch ein Trauma aufs tiefste erschüttert erfindet die Seele eine neue Welt deren Hauptmerkmal die Reduktion ist. Die Welt wird eingeteilt in Schwarz und Weiß, in Gut und Böse. Die Abspaltung ist ein Schutzmechanismus den das traumatisierte Kind als Überlebensstrategie einsetzt. Man beachte die Informationen über die Kindheit von Jonathan. Es ist nachvollziehbar das diese Strategien im Erwachsenenalter fortwährend mit der Realität kollidieren und die Betroffenen darunter leiden. Was mitunter auch heftige aggressive Reaktionen auf scheinbar unbedeutende Dinge hervorruft.

Dem Leser erscheinen die Ereignisse vielleicht trivial aber in der Wahrnehmung von Jonathan stellen sie eine existentielle Bedrohung dar.

Man könnte fast annehmen der Autor hätte in einem Psychologiebuch geschmökert. Jonathan zeigt auch ein weiteres Hauptsymptom, nämlich Zeiten in denen er real handelt, an die er sich später aber nicht mehr erinnern kann. Wahrscheinlich ist der Verfasser aber nur ein sehr guter Beobachter.

Man sollte nicht verkennen das solche Dramen, wie hier so gekonnt präsentiert, sich in den Köpfen vieler Menschen abspielen. Wem der Auslöser der Tragödie zu unrealistisch erscheint dem kann ich versichern dass das Leben noch viel absurdere Geschichten schreibt.

So musste ich mir einmal, vor Jahren als junger Ingenieur, von einem älteren Kollegen, eine schier endlose Triade von Belehrungen und Vorwürfen anhören über die richtige Art und Weise wie man zwei Löcher in eine Milchdose stanzt. Mein Fehler war augenscheinlich das die beiden Löcher keine übereinstimmende Größe hatten. Immerhin wurde von ihm anerkennend bemerkt das die Lage der Löcher ( genau gegenüberliegend ) seine Zustimmung fand. Der Gute Mann hat sich über meine Gedankenlosigkeit beim ** Milchdosenlöcherausstanzen ** so in Rage geredet das ich die Befürchtung hatte er würde gleich platzen oder mir mit dem Lineal eines hinter die Löffel geben.

Dies soll nur einmal einen Aspekt der Geschichte herausstellen über den man nachdenken kann. Die besondere Beziehung die Jonathan zu dem stadtbekannten Penner hegt dürfte auch eine nähere Analyse wert sein. Wie schon gesagt die Vielschichtigkeit der Erzählung offenbart einen großen Interpretationsspielraum.

Der Autor ( auszugsweise übernommen von: http://www.hh.shuttle.de/hh/h10/Parfum/dwma/derautor.htm )
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Patrick Süskind wurde am 26. März 1949 in Ambach am Starnberger See geboren. Er ist als Dramatiker, Prosaschreiber, Hörspiel- und Drehbuchautor gleichermaßen bekannt. Sein Vater hieß Wilhelm Emanuel Süskind und war Schriftsteller.
Nach Abschluss des Abiturs und des Zivildienstes studierte P. Süskind von 1968 bis 1974 in München wie sein Vater Geschichte. Dieses Studium schloss er mit einem Magisterexamen ab, wobei er gleichzeitig kleine Prosastücke und Drehbücher schrieb, die aber zu der Zeit nicht veröffentlicht wurden.
Mittlerweile werden Süskind Bücher millionenfach gelesen und etliche Bücher sind verfilmt worden. Außer einer kurzen, ironisch- distanzierten Selbstbiographie ist über Patrick Süskinds Leben wenig bekannt. Er lebt zurückgezogen in München, Paris und Montolieu (Südfrankreich), meidet öffentliche Auftritte und entzieht sich dem Medienrummels des Literaturbetriebs.
Heute lebt Süskind zurückgezogen vorwiegend am Starnberger See.

Das Buch
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Titel: Die Taube
Autor: Patrik Süskind
ISBN: 3-257-21846-X
Seiten: 100 Seiten
Erscheinungsdatum: als Diogenes Taschenbuch, 1990
Erstausgabe: 1987 im Diogenes Verlag
Preis: 5,90 EURO

Fazit
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Das Buch ist deshalb gute Literatur weil es mich emotional berührt hat. Es ist deshalb gute Literatur weil ich mich nicht durch den Text durchquälen musste, die Novelle lässt sich flüssig lesen und ist durchaus spannend. Es ist deshalb gute Literatur weil es sich auf sehr vielen Ebenen interpretieren und damit verstehen lässt. Bei mir ist der Eindruck einer hervorragenden Psychostudie hängen geblieben die eine Krankheit der Seele besser beschreibt als jedes Lehrbuch.

© by Araxas / 18.07.03

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