Erfahrungsbericht von wildheart
Nach der Wahl - einige Gedanken
Pro:
-
Kontra:
-
Empfehlung:
Ja
Glaubens beweist nicht, dass er gültig oder
auch nur sinnvoll ist, so wenig wie der
allgemeine Glaube an Hexen oder Gespenster
die Gültigkeit dieser Begriffe bewiesen hat.
Womit wir es im Falle der 'sozialen
Gerechtigkeit' zu tun haben, ist einfach
ein quasi-religiöser Aberglaube von der
Art, dass wir ihn respektvoll in Frieden
lassen sollten, solange er lediglich seine
Anhänger glücklich macht, den wir aber
bekämpfen müssen, wenn er zum Vorwand
wird, gegen andere Menschen Zwang
anzuwenden. Und der vorherrschende
Glaube an 'soziale Gerechtigkeit' ist
gegenwärtig wahrscheinlich die schwerste
Bedrohung der meisten anderen Werte
einer freien Zivilisation."
(Friedrich August von Hayek:
Recht, Gesetzgebung und Freiheit,
Bd. 2, Landsberg am Lech 1981, S. 98)
Was lehrt uns einer der Ziehväter des Wirtschaftsliberalismus? Freiheit ist vor allem Wirtschaftsfreiheit. Für Friedrich A. von Hayek, aber auch für den amerikanischen Ökonomen Milton Friedman ist der Mensch vor allem anderen freies Wirtschaftssubjekt, das mit anderen in Wettbewerb tritt. Für von Hayek war Robinson die Urform dieses freien Subjekts, ein Mensch, der sozusagen aus dem Nichts, d.h. bislang nicht menschlich Verformten, heraus produzierte. Eine ganze Welt von Robinson Crusoes - das ist die Idealvorstellung des Wirtschaftsliberalismus, dem man seit geraumer Zeit gerne das Attribut Neoliberalismus verleiht.
In einer solchen Welt der frei miteinander konkurrierenden Wirtschaftssubjekte ist Zwang jeglicher Art von Übel. Der Staat darf nur die berühmten "Rahmenbedingungen" setzen, die den freien Wirtschaftssubjekten gleiche Startchancen ermöglichen. Wie das anfangs Zitierte verdeutlicht, ist der Begriff "soziale Gerechtigkeit" für die Neoliberalen ein Fremdwort: es ist ihrer Vorstellung von einer Welt der Freien im wahrsten Sinn des Wortes fremd. Erst recht aber ist ihnen fremd, dass soziale Gerechtigkeit sich mit staatlichen Institutionen verknüpft. Darin sehen von Hayek und seine Epigonen nichts anderes als: Zwang.
POLARISIERUNG - MÖGLICHERWEISE EIN
POSITIVER EFFEKT
Das Ergebnis der Bundestagswahlen verdeutlicht vor allem eines: die Polarisierung der politischen Meinungen in der Bevölkerung zwischen einem Wirtschaftsliberalismus in Reinkultur, wie ihn die FDP vertritt, und einer auf soziale Gerechtigkeit als konstitutivem Bestandteil beharrenden Strömung, die sich vor allem in der Linkspartei formierte, teilweise aber auch in den Stimmen für die SPD zum Ausdruck kam (wenn man etwa das zu den Landtagswahlen völlig veränderte Ergebnis in Nordrhein-Westfalen betrachtet).
Zwischen diesen polarisierten Blöcken erhielten die traditionellen Volksparteien deutliche Dämpfer. Abseits aller gespielten und medial aufbereiteten Euphorie des "Wir sind alle Sieger" deuten die Ergebnisse für SPD und CDU/CSU auf ein tief gehendes Problem beider, seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland als integrative Kräfte wirkenden Volksparteien. Denn der integrative Konsens beider Parteien bestand bis vor einigen Jahren vor allem darin, zwischen Marktwirtschaft und sozialer Gerechtigkeit eine Politik des Interessenausgleichs zu bewerkstelligen, um ein Auseinanderdriften der Gesellschaft zu vermeiden. Dieser klassische sozialstaatliche Konsens ist nicht etwa deshalb in Gefahr, weil soziale Gerechtigkeit nicht mehr oder in wesentlich geringerem Maße bewerkstelligt werden könnte. Er ist in Gefahr, weil durch die globale wirtschaftliche Durchdringung nach dem Zerfall der realsozialistischen Länder Politik im Grunde immer weniger von staatlichen Organisationen und immer effektiver von wirtschaftlichen Gruppierungen gemacht wird. Insbesondere die Kapitalmärkte sowie die internationalen Börsen spielen hierbei eine zentrale Rolle.
DIE KRISE DER VOLKSPARTEIEN: EINE CHANCE?
In dieser Situation stehen die klassischen Volksparteien, die sich traditionell entweder auf die Arbeiterschaft, die unteren und mittleren Angestellten und Beamten (SPD) bzw. im Fall der CDU/CSU auf den "Mittelstand", seit einigen Jahren auch auf die sog. "neuen Mittelklassen" gestützt haben, vor einem zentralen Problem: Wie sollen sie die immer klarer und im Sinne neoliberaler Konzepte formulierten Anforderungen der globalisierten Wirtschaft sowie deren weitgehend eigenständigen Operationen mit ihrer Tradition, d.h. eben auch ihren klassischen, wenn auch veränderten Wählerschichten in Einklang bringen? Bei dieser Bundestagswahl sind die Versuche der beiden großen Volksparteien in dieser Hinsicht gescheitert. Im nachhinein ist es wenig überraschend, dass nicht nur der SPD aufgrund ihrer Politik der vergangenen sieben Jahre, sondern auch der CDU/CSU aufgrund ihres Wahlprogramms deutliche Zweifel entgegengebracht wurden. Beide Parteien stehen vor allem - ganz unabhängig von der Frage einer Regierungsbildung - vor dem Problem einer Neuformulierung ihrer Programmatik. In welche Richtung werden sie sich entwickeln: hin zum Wirtschaftsliberalismus einer leicht erstarkten FDP oder hin zu neu definierten Konzepten sozialer Gerechtigkeit innerhalb einer globalisierten Welt?
Lafontaine, Gysi und Bisky haben im Wahlkampf formuliert, welche Herausforderungen sie angenommen haben. Dahinter stehen tatsächliche Bedürfnisse, Ängste, aber auch ein Stückweit Widerstand gegen eine von wirtschaftlichen Interessen immer weiter überformte Gesellschaft. Wenn auch der Blick auf Nachbarstaaten sicherlich nicht ausreicht, um ein politisches, neu formuliertes Konzept sozialer Gerechtigkeit und in gewissem Sinn sozialer Markwirtschaft zu formulieren, zeigt dieser Blick doch, wie weit in Deutschland Sozialpolitik regelrecht verkommen ist und wie weit die politischen Kräfte, die sich politisch alle in "der Mitte" positioniert haben (was immer "die Mitte" auch sein soll), einer aggressiv operierenden Wirtschaft entgegengekommen sind.
"Es ist genauso unsinnig, jemanden für
die Einkommensverteilung verantwortlich
zu machen wie jemanden für den
Gesundheitszustand der Leute oder
für ihre Dummheit oder den Mangel
an Schönheit verantwortlich zu machen.
Wir verdanken unseren Reichtum einem
Preissystem, das den Menschen sagt,
was sie tun sollen. Und diese Preise
sind die Quelle der Einkommen. Preise
aber, die den Menschen sagen, was sie
tun sollen, können nicht mit
irgendwelchen Verdiensten zusammenhängen.
Sie müssen unterschiedlich sein.
Wir haben entdeckt (nicht erfunden!),
dass die beste Methode zur Erledigung
unserer Angelegenheiten die Teilnahme
an einem Spiel ist, das teilweise aus Glück,
teilweise aus Geschicklichkeit besteht.
Wenn wir aber das Spiel akzeptiert haben,
weil es effizient ist, können wir hinterher
nicht sagen, seine Ergebnisse seien ungerecht.
Solange niemand betrügt, gibt es in
diesem Spiel nichts Ungerechtes. Auch
dann nicht, wenn man in diesem Spiel verliert."
(Fr. A. Hayek, Interviewfilm "Inside the
Hayek-Equation", World Research Inc.,
San Diego, Cal. 1979, frei übersetzt von
Roland Baader)
Das wirtschaftsliberale Menschenbild betrachtet die Gesellschaft, die Folgen der Arbeitsteilung (v.a. Armut und Reichtum) usw. nicht aus einer konkreten Sicht auf das, was vor sich geht, sondern axiomatisch, wie das obige Zitat von Hayeks verdeutlicht. Diesen Ausführungen ließe sich direkt entgegenhalten, was Karl Marx zu der "besonderen Ware Arbeitskraft" geschrieben hat: Sie ist die einzige "Ware" mit der Fähigkeit, mehr zu produzieren, als sie selbst zu ihrer Reproduktion benötigt. Da der Wirtschaftsliberalismus jedoch die soziale Spaltung der Marktgesellschaft nicht zur Kenntnis nimmt bzw. nehmen will und darüber hinaus (wa damit korrespondiert) alle Menschen als "gleiche" Wirtschaftssubjekte betrachtet, sind die Ergebnisses des von von Hayek als "Spiel" titulierten Wettbewerbs mehr oder weniger natürliche Folgen der Praxis dieser Gesellschaft. Genau hier liegt auch der Grund dafür, dass der Wirtschaftsliberalismus ein ganz bestimmtes Verständnis von "Eigenverantwortung" produziert, dass eben nur funktionieren könnte, wenn alle "Wirtschaftssubjekte" wirklich gleich wären. Ob eine bekannte niedersächsische Ministerin mit sieben Kindern vor dem Problem steht, Arbeit und Familie unter einen Hut zu bringen, oder ob eine Familie, in der die Eltern beide arbeiten müssen, um zwei oder drei Kinder zu ernähren, vor dem Problem stehen, alles unter Dach und Fach zu bringen, ist eben nicht vergleichbar.
Die Reformulierung eines politischen Konzepts sozialer Gerechtigkeit hätte zu begründen, dass Sozialstaatlichkeit nicht (jedenfalls nicht primär und ursächlich) eine bürokratische Frage, sondern eine des Gemeinwohls ist. Sozialität und Gemeinwohl sind nicht originär Ausdruck von "Anspruchsmentalität". Das Wohl der Allgemeinheit ist Aufgabe aller ihrer Mitglieder, die dann aber auch entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit - die in der Markwirtschaft eben nun einmal vor allem über Geld vermittelt ist - dazu beitragen müssen. Der Staat bzw. seine dementsprechenden Organisationen sind insofern nur Mittler. In der neoliberalen Ideologie jedoch verkommt der Staat als "Wohlfahrtsstaat" zur ungewollten bürokratischen Maschine. Dieses Trugbild ermöglicht von Hayek und seinen Epigonen zu fordern, der Staat solle sich auf seine dem Markt dienende Funktion beschränken und die "Wirtschaftssubjekte" sollten sich in "Eigenverantwortung" üben. Ein derart praktiziertes Modell eines zur Wirklichkeit gewordenen Wirtschaftsliberalismus wäre allerdings eine Gesellschaft der Kälte.
DIE PROBLEME LIEGEN WOANDERS ...
(National-)Staatliche Politik ist heutzutage machtloser denn je. Der freie Kapitalverkehr und die Börsen der Welt sind in der Lage, sozusagen in Sekundenschnelle ganze Regionen zugrunde zu richten. Politik hätte die Aufgabe, hier Kontrollmechanismen zu formulieren und zu praktizieren. Einer Entmystifizierung der sog. Globalisierung - die ja nichts wirklich Neues darstellt, sondern wirkt, seit es Marktwirtschaft gibt - würde es auch dienlich sein zu verdeutlichen, dass wirtschaftliche Prozesse keine "Sachzwänge" oder gar Mechanismen sind, die Naturgesetzen gleichkommen - und im Sinne dieser Verdeutlichung zu handeln. Hier allerdings ist nicht nur der politische Wille gefragt. Die Bundestagswahlen haben seit langem erstmals präzisiert, dass das Gefühl der Unbehaglichkeit in dieser Welt, das immer mehr Menschen äußern, nun in politischen Konzeptionen Eingang finden soll, um die Rahmenbedingungen einer sozial gerechten Wirtschaftsordnung zu setzen. Das ist, wenn man so will, der Auftrag de Wähler.
LITERATUREMPFEHLUNGEN
Herbert Schui, Stephanie Blankenburg: Neoliberalismus: Theorie - Gegner - Praxis, Hamburg 2002. Die Autoren sind dezidierte (linke) Kritiker des Wirtschaftsliberalismus.
Gerhard Willke: Neoliberalismus, Frankfurt am Main 2003. Willke ist Professor für Wirtschaftspolitik und "gemäßigter" Anhänger des Wirtschaftsliberalismus. Er befasst sich in seinem Buch sowohl mit den Grundlagen des Neoliberalismus, als auch kritisch mit seinen Kritikern.
© Ulrich Behrens 2005
71 Bewertungen, 15 Kommentare
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01.01.2010, 10:25 Uhr von XXLALF
Bewertung: besonders wertvollJeder wünscht sich langes Leben, seine Kisten voller Geld, Wiesen, Wälder, Äcker, Reben - Klugheit, Schönheit, Ruhm der Welt, doch wenn alles würde wahr, was man wünscht zum neuen Jahr, dann erst wär’ es um die Welt, glaubt es, jämmerlich bestellt. (Heinrich Zschokke) und lg
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05.01.2009, 20:37 Uhr von Mondlicht1957
Bewertung: sehr hilfreich::::Liebe Grüsse aus Berlin::::
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27.07.2007, 21:18 Uhr von Baby1
Bewertung: sehr hilfreichLG Anita
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30.09.2006, 23:44 Uhr von anonym
Bewertung: sehr hilfreichLieben Gruß :-)) Marianne
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30.06.2006, 02:33 Uhr von IQIQIQ
Bewertung: sehr hilfreichAus dem Kopf zitiert nach Terry Pratchett: Demokratie ist das System das sicherstellt, dass das Volk keine bessere Regierung bekommt, als es verdient.
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19.05.2006, 00:18 Uhr von Estha
Bewertung: sehr hilfreichklasse geschrieben ;o) ... lg susi -->--->---@
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22.04.2006, 18:35 Uhr von Fluetie
Bewertung: sehr hilfreichLG Dirk
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20.10.2005, 10:24 Uhr von willibald-1
Bewertung: sehr hilfreichPuh - da hast Du aber gründlich gearbeitet! Muß ich erst mal drüber nachdenken...
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09.10.2005, 16:10 Uhr von Tweety30
Bewertung: sehr hilfreichSH. Liebe Grüße, Tweety30!
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08.10.2005, 12:23 Uhr von morla
Bewertung: sehr hilfreichsehr hilfreich
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05.10.2005, 21:22 Uhr von Fernsteuerung
Bewertung: sehr hilfreichKann zur Wahl nur schreiben: Schwere Geburt.
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04.10.2005, 19:50 Uhr von Alusru
Bewertung: sehr hilfreichJa da könnten wir jetzt stundenlange Debatten führen und wer weiß ob wir uns dann noch mögen würden.Vielleicht würden wir uns die Haare raufen, oder aber ein Friedenspfeiffchen rauchen, lieben Gruß Uschi.
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04.10.2005, 12:32 Uhr von anonym
Bewertung: sehr hilfreichirgendwie alles ein kasperltheater... liebe grüße
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03.10.2005, 19:28 Uhr von trampastheo
Bewertung: sehr hilfreich2 Wochen vorbei und immer noch nichts in Sicht mit einer Regierung. Bye, Theo
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27.09.2005, 01:29 Uhr von mami_online
Bewertung: sehr hilfreichich kann aus den Wahlen nur erkennen.... Die Menschheit ist sich nicht sicher, eigentlich will sie keinen der beiden "Hauptparteien" haben, sonst wäre das Ergebnis nicht so knapp. Wer möchte Schröder zum Kanzler, wer möchte Me
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