Abschied von den Eltern Testbericht
Erfahrungsbericht von Divalein
Die Grausamen und der Künstler.
Pro:
Erzähldichte; präzise Formulierungen; tiefgehender Inhalt
Kontra:
anstrengende Sätze
Empfehlung:
Ja
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ABSCHIED VON DEN ELTERN
(Peter Weiss)
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"Die Grausamen und der Künstler."
Vor mir liegt ein schlichtes grünes Buch. Es ist ungebunden und bereits vergilbt.
Durch puren Zufall bekam ich es nach etwa zehn Jahren wieder in die Hände. Beim Entrümpeln fiel es mir auf.
- Warum fiel es mir auf?
Nun, da ich es damals im Leistungskurs Deutsch in der elften Stufe nie richtig gelesen hatte. Bis heute nagt der scharfe Zahn des schlechten Gewissens an mir und verurteilt mich für diesen Frevel.
- Und warum hatte ich es seinerzeit nur kurz angelesen?
Diese Frage kann ich mir heute nur noch damit beantworten, dass der erste Eindruck des Buches ein schrecklicher war. Man klappte es auf und sah nur Text. Text, Text, Text! Keine Absätze, keine Zwischenzeilen, nichts Unbeschriebenes.
Doch von vorne aufgerollt:
In den Jahren 1960 / 1961 schrieb der Autor und Künstler Peter Weiss (1916 - 1982) den Roman "Abschied von den Eltern". Es war weder sein erstes noch sein letztes Werk. Bereits 1951 hatte er "Das Duell" verfasst, 1965 kreierte er "Die Ermittlung" - wie noch so viele andere Texte mehr.
Schaut man in die Biografie des Autors, so fällt gleich auf, dass Weiss eine problematische Kindheit und Jugend hatte. Liest man dann "Abschied von den Eltern", erkennt man sogleich Parallelen und erfährt einen dezidierten Rückblick auf diese Zeit.
Losgelöst von Weiss' eigener Biografie zeugt das Buch aber auch von einem Missstand, der leider (früher wie heute) alltäglich ist, nämlich der elterlichen Unfähigkeit, dem eigenen Kind Liebe und Respekt entgegen zu bringen.
Hier im Buch sieht das wie folgt aus:
Zwar war die Äußerlichkeit der Familie durch finanzielle Sicherheit und dem forcierten Beisammenhalten aller einzelnen Angehörigen gewahrt, doch bröckelte es innerlich zutiefst - unter anderem deshalb, weil weder die Mutter noch der Vater zu bewerkstelligen wusste, die Kinder (aktiv) zu lieben. Vor allem der Protagonist hatte darunter zu leiden. Zwar ahnte er, dass beide Eltern im Verborgenen durchaus Gefühle für ihn hegten, doch mangelte es an der Ausführung und damit an Verständnis, Schutz, Geborgenheit und Wärme.
Ja, man kann sagen, das Familienleben im Buch ist kalt. Gespräche finden so gut wie gar keine statt. Die Mutter legt lieber Wert auf eine ausgiebige Züchtigung ihrer Kinder - und stachelt den Vater in regelmäßigen Abständen dazu auf, es ihr gleichzutun. Dieser kommt dem Wunsch seiner Frau auch so gut er kann nach, wenngleich es ihm beispielsweise sichtlich Probleme bereitet, seinen Sohn übers Knie zu legen.
Der Liebesentzug lässt aus dem Protagonisten keine (auf)rechte Persönlichkeit werden. In der Schule wird er gemobbt, vom Nachbarsjungen geknechtet, von anderen gemieden. Nur zu seiner jüngeren Schwester verbinden ihn (fast schon zu) zarte Bande. Doch diese werden jäh zerrissen, als sie an den Folgen eines Autounfalls stirbt. Nicht nur für das Leben des Jungen soll ihr Tod einen tiefen Einschnitt bedeuten. Mit dem Tod des Mädchens setzt sich ein sukzessiver Zerstörungsprozess in Gang.
War es zuvor schon schwierig für den Jungen, ist es jetzt hochproblematisch. Er weiß sich kaum zurecht zu finden. Seine aufkeimende Sexualität wird von der Mutter konsequent unterdrückt und schlechtgeredet, was dazu führt, dass er sich in masochistische Phantasien flüchtet und zu malen beginnt. Seine Bilder sind düster, sie dienen ihm als Ventil für all den Leidensdruck.
Das Malen wird zu seiner einzigen Passion. Kein Wunder: Alles andere wird ihm untersagt. Und seinen Eltern wäre es lieber, wenn er auch die Kunst wieder aufgeben würde und sich stattdessen dem wahren Leben widmen würde. Und das bedeutet für sie: Arbeit.
Widerwillig, aber nicht imstande, dem Druck der Eltern standzuhalten, fügt er sich in sein Schicksal und geht stets dorthin, wo sein Vater ihn gerade haben will, letzten Endes sogar nach Prag. Nach einem kurzen, unerwarteten Kunststudium dort folgt er ihnen ein weiteres Mal, in den hohen Norden. Und fast sieht es so aus, als würde er sich auch dort abermals in sein von den Eltern auferlegtes Schicksal fügen. Tatsächlich verbringt er dort mehrere Jahre im väterlichen Betrieb, doch schafft er es anschließend doch noch: "Abschied von den Eltern" zu nehmen.
Und ich habe es nun auch noch geschafft. Den Abschied mitzuerleben. Aber vor allem auch all das Leid, das diesem vorausging. Es ist geradezu bedauerlich, dass ich es in meiner Schulzeit nicht vollbracht habe, in diese beachtliche Lektüre von Weiss einzudringen. Wahrscheinlich muss ich das meiner damaligen Generalignoranz gegenüber all den von Autoritätshand auferlegten Werken zuschreiben.
Na ja, und vielleicht einem Quentchen Faulheit, denn Fakt ist:
"Abschied von den Eltern" erschlägt den Leser zunächst einmal. Zwar beinhaltet das Buch insgesamt nur 146 Seiten, doch haben es diese wirklich in sich, da sie - wie bereits erwähnt - keinerlei Absätze aufweisen. Der Text ist fließend.
Selbst inhaltlich ist keine echte Strukturierung vorhanden. Peter Weiss beginnt in der Gegenwart und wechselt in die Vergangenheit. Dort bleibt er dann auch größtenteils - aber eben nicht immer. Es ist nicht ganz einfach, dem Gedankengang des Autors flüssig zu folgen. Zumindest aber benötigt man mindestens fünf Seiten Einlesezeit und allzeit eine gute Konzentration.
Dann, im weiteren Verlauf des Erzählens, wenn Weiss die Kindheit näher ausleuchtet, gilt es wiederum aufzupassen, denn hier vermengt er dann die Realität mit der Fiktion. Der Schilderung des tatsächlich Geschehenen folgen Gedankenspiele; manchmal setzt er auch Zeitraffer ein - und verliert dort nur in kurzen Andeutungen, so dass man als Leser hin und wieder ein wenig rätselt, was er konkret damit gemeint haben könnte.
Anstrengend sind weiterhin die extrem langen Sätze, derer Weiss sich bedient. Zwar nutzt er diese stets in sehr geordnetem Wortsatzbau, doch nichtsdestotrotz ist es eine Herausforderung, einen halbseitigen Satz - der womöglich noch Vermengungen von Realität und Fiktion enthält - in den späten Nachtstunden zu lesen.
Aber auch wenn man lange Sätze eher nicht mag, so muss man dem Autor doch lassen: Er formuliert sehr präzise und anschaulich. Seine Worte vermögen es, dass der Leser grafisch nachempfindet, also dass er sich das Haus, in dem der Protagonist damals gewohnt hat, genau vorstellen kann; selbiges gilt für das Erscheinungsbild von Mutter und Vater, etc. Kurz vor Ende des Buches werden mir allerdings seine Landschaftsbeschreibungen ein wenig zu ausschweifend und das Mindestmaß an Handlung etwas karg.
Ausschmückende Redundanz findet man bei Weiss hingegen nicht, keine unnützen, überladenen Adjektive und auch keine pathetischen Abschnitte des Lamentierens (wobei ich dem Protagonisten dies in Maßen durchaus zugestanden hätte).
Obwohl das Äußere des Buches absolut nüchtern ist, sowohl die Umschlaggestaltung als auch die (nicht vorhandene) Textstrukturierung, gelingt es Weiss, eine einnehmende Geschichte zu schreiben. Bereits auf den ersten Seiten steht der Leser wie ein geheimer Besucher mit im Kinderzimmer und blickt mit atemstockenden Entsetzen auf die lieblose Szene. Und so zieht es sich fort, bis zum Schluss. Dabei verblüfft es immer wieder, wie exakt Weiss seine Gedanken und Gefühle schildert, was für ein scharfes Bild er damit erzeugt - obwohl er ansonsten doch recht lose und unstrukturiert die Erwachsenwerdung erzählt.
Rein inhaltlich hat mich das Buch tief getroffen, zeigt es doch, wie stark die Ausbildung eines gesunden Charakters von der Kindheit abhängen kann. Der Protagonist, ohne rechte Vorstellung, wie es ist geliebt zu werden, sucht lange nach seiner Identität. Es ist auch zum Ende des Buches noch nicht ganz klar, ob er sie tatsächlich gefunden hat. Erschreckend ist, dass er sich anscheinend lieber vom Vater schlagen und von der Mutter schickanieren lässt, als überhaupt keine Resonanz von ihnen zu erhalten.
Mich persönlich haben Weiss' Schilderungen von so manchen körperlich-intimen Szenen gleichwohl beeindruckt als auch angeekelt. So frage ich mich beispielsweise, woher sich eine Mutter das Recht nimmt, ihrem Sohn vorzuschreiben, dass er nachts die Hände über der Decke halten solle, um dann einige Zeit später selbst zwecks Hygienewaschung schmerzvoll an seinem Glied herumzureißen.
Doch will ich dies in Frage stellen, muss ich fast sämtliche elterlichen Maßnahmen hinterfragen, und käme dann wohl eh nur zu der Antwort, dass diese beiden Menschen selbst nur Marionetten ihres eigenen Lebenstrottes sind; sie kleben fest in einer Matrix aus Fassaden und Existenzsicherungszwang, und mussten dafür wohl ihre eigenen Träume vergessen.
Ich kann das Buch als denkwürdige, etwas schmerzhafte Lektüre nur empfehlen. Sie spiegelt reale Tragödien, aber auch existentielle Träume, wieder und hinterfragt so manche scheinbar festgesetzte Gegegenheit des menschlichen Lebens.
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(c) Eminencia / Divalein, 2009
108 Bewertungen, 36 Kommentare
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30.06.2009, 07:44 Uhr von angela1968
Bewertung: sehr hilfreichauch hier ein sh von mir
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30.06.2009, 00:11 Uhr von bambie34
Bewertung: sehr hilfreichNoch einen schönen Abend, Gruß Tanja
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29.06.2009, 22:13 Uhr von krullinchen
Bewertung: sehr hilfreichViele Grüße, Bine.
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28.06.2009, 23:04 Uhr von werder
Bewertung: sehr hilfreichToll berichtet! LG aus Hannover!
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28.06.2009, 17:08 Uhr von Elfenfrau
Bewertung: besonders wertvollSehr gut beschrieben. Lg Elfi
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24.04.2009, 02:14 Uhr von Lale
Bewertung: besonders wertvollSehr interessant berichtet... Allerbeste Grüße, die Lale.
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12.04.2009, 23:41 Uhr von ronald65
Bewertung: sehr hilfreichlg
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06.04.2009, 13:51 Uhr von kilimandciao
Bewertung: besonders wertvollschön geschrieben, dakann man mal ein Bh springen lassen!:-),
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05.04.2009, 16:10 Uhr von frankensteins
Bewertung: sehr hilfreichsh lg..................................werner
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03.04.2009, 15:45 Uhr von Stjosef1955
Bewertung: sehr hilfreichtoll geschrieben...lg Sigrid
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02.04.2009, 23:58 Uhr von Beachtime01
Bewertung: sehr hilfreichSehr guter Bericht! Liebe Grüße Beachtime01
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28.03.2009, 19:42 Uhr von panico
Bewertung: besonders wertvollAllerliebste Grüße von panico:-)
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26.03.2009, 22:16 Uhr von Puenktchen3844
Bewertung: sehr hilfreichEin guter Bericht. LG
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25.03.2009, 13:20 Uhr von Michaela2015
Bewertung: sehr hilfreichliebe grüssle michi
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25.03.2009, 11:42 Uhr von tk7722
Bewertung: sehr hilfreichEin sehr interessanter Bericht, liebe Grüße
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25.03.2009, 00:11 Uhr von MasterSirTobi
Bewertung: sehr hilfreichBerichte schreiben ist dir wohl in die Wiege gelegt LG und Sh
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24.03.2009, 22:29 Uhr von misscindy
Bewertung: besonders wertvollEin sehr schöner Bericht, lg Sylvia
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24.03.2009, 22:26 Uhr von Volker111
Bewertung: besonders wertvollGleicher Kommentar wie auf Ciao *gg*
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22.03.2009, 17:02 Uhr von ChAosNETTE
Bewertung: besonders wertvollGanz ganz toll geschrieben!
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22.03.2009, 14:48 Uhr von giselamaria
Bewertung: besonders wertvollwow, welch toller Bericht!!! Inhalt ist nach wie vor relevant, und gerade sogar heute noch mehr, denke ich mal. Wenn wir einige aktuelle Tragödien betrachten, die grade passiert sind, sind die Ursprünge sicher u.a. in der Eltern-Kind-Beziehung zu suchen>.G
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21.03.2009, 23:34 Uhr von ingoa09
Bewertung: sehr hilfreichSehr gut berichtet! Liebe Grüße, Ingo
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20.03.2009, 23:26 Uhr von manu63
Bewertung: besonders wertvollviele Grüße von Manuela
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20.03.2009, 18:58 Uhr von Miraculix1967
Bewertung: sehr hilfreichSchönes Frühlings-Wochenende, SH und LG Miraculix1967
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20.03.2009, 18:42 Uhr von sandraberg
Bewertung: besonders wertvollWOW- toller bericht. auch von mir ein ganz klares BW dafür - gar keine frage *zwinker* glg sandra
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20.03.2009, 17:57 Uhr von rainbow90
Bewertung: sehr hilfreichEin aufschlussreicher Bericht. LG
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20.03.2009, 13:56 Uhr von Mondlicht1957
Bewertung: sehr hilfreichSehr hilfreich und schönes Wochenende
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20.03.2009, 13:50 Uhr von paula2
Bewertung: besonders wertvollliebe Grüße
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20.03.2009, 13:26 Uhr von Baby1
Bewertung: sehr hilfreich.•:*¨ ¨*:•. Liebe Grüße Anita .•:*¨ ¨*:•.
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20.03.2009, 12:46 Uhr von morla
Bewertung: sehr hilfreichein wunderschönes wochenende wünsch ich dir lg. petra
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20.03.2009, 12:40 Uhr von anonym
Bewertung: sehr hilfreichSH ------ Liebe Grüße
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20.03.2009, 12:39 Uhr von novia
Bewertung: sehr hilfreichwäre nichts für mich...lg
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20.03.2009, 12:31 Uhr von campino
Bewertung: besonders wertvollBW - liebe Grüße, Andrea ------------------------------
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20.03.2009, 12:15 Uhr von schnolgi
Bewertung: besonders wertvollSehr Schöner Bericht! Lg Schnolgi
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20.03.2009, 12:14 Uhr von sigrid9979
Bewertung: sehr hilfreichEin super Bericht Lg Sigi
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20.03.2009, 12:14 Uhr von droehn
Bewertung: besonders wertvollToller Bericht, lg droehn
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20.03.2009, 12:03 Uhr von minasteini
Bewertung: besonders wertvollEin schönes Wochenende wünsche ich. LG Marina
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