Das Experiment (DVD) Testbericht

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ab 6,11
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Erfahrungsbericht von jinky

Experiment mißglückt

Pro:

-

Kontra:

-

Empfehlung:

Nein

Zeit: August 1971

Ort: Stanford University

Sachverhalt: der junge Psychologie-Professor Paul Zimbardo startet ein auf zwei Wochen veranschlagtes Experiment. Aus unterirdischen Laborräumen wird ein provisorisches Gefängnis konstruiert. 24 Freiwillige, allesamt unauffällige Collegestudenten, denen man 15 Dollar Durchhalteprämie pro Tag in Aussicht stellt, werden dort interniert, die einen als Gefangenen, die anderen als Wärter. Die Zuordnung der Versuchspersonen zur einen oder anderen Gruppe erfolgt per Münzwurf.

Zielsetzung: Erforschung gruppendynamischer Prozesse und Identifikation mit sozialen Rollen unter ungleich verteilten Macht- und Streßbedingungen.

Ergebnis: Keines. Das Verhalten der einzelnen Versuchspersonen konnte nicht aus ihren vorher ermittelten individuellen Merkmalen abgeleitet werden. Im Übrigen wurde man erst nach Versuchsbeginn auf inhärente methodische Fehler gravierender Natur (wie das Fehlen einer Kontrollgruppe) aufmerksam. Inwieweit das zahlenmäßige Verhältnis zwischen Wärtern und Gefangenen (auf jeden Wärter kamen zwei Gefangene) eine für den Verlauf signifikante Rolle spielt, wurde gleichfalls nicht überprüft.

Wissenschaftlicher Wert: demzufolge fragwürdig

Ablauf: Wärter begannen zunehmend, die Gefangenen durch Willkürmaßnahmen zu verunsichern und durch selektive Bevorzugung bzw. Benachteiligung einzelner gegeneinander auszuspielen. Gewalt und Schikane griffen um sich. Die psychische und physische Gesundheit der Gefangenen wurde zunehmend prekär. Im Speichel beider (!) Gruppen ließen sich hohe Konzentrationen des Streßhormons Cortisol nachweisen. Beide Gruppen begannen zu vergessen, daß es sich um eine Simulation handelte. Die Versuchspersonen identifizierten sich mit ihrer Rolle. Gefangene antworteten auf die Frage nach ihrem Namen mit ihrer Nummer. Manche baten am Besuchstag ihre Angehörigen, ihnen einen Anwalt zu besorgen. Die Übernahme der künstlich zugeschriebenen Rollen erstreckte sich über die Versuchspersonen hinaus auf Angehörige (die tatsächlich einen Anwalt beauftragten, anstatt einfach mit dem Versuchsleiter zu sprechen) und schließlich sogar Wissenschaftler (die ernsthaft diskutierten, ob man es verantworten könne, einen „Gefangenen auf Bewährung freizulassen“, bis ein Forscher die Kollegen auf die Absurdität der Erörterung aufmerksam machte). Das Experiment wurde nach vier Tagen abgebrochen.

So weit die Vorgeschichte. Wie so oft, wurde aus dem Ereignis ein Buch, aus dem Buch ein Film: ein sehr erfolgreicher deutscher Film aus dem Jahr 2001, der sich mit zahlreichen Preisen und noch mehr Nominierungen schmücken kann. Nicht ganz so begeistert wie Kinogänger und Feuilletons war Professor Zimbardo, der nach wie vor in Stanford forscht und lehrt: auf ihn ging ein Platzregen wütender Mails, die meisten davon aus Deutschland, nieder, in denen man ihm Nazimethoden vorwarf oder ihn gar der Beihilfe zum Mord bezichtigte. Im Vorspann des Films hatte man darauf hingewiesen, das Experiment habe tatsächlich stattgefunden. Aus den vagen zusätzlichen Informationen ließen sich Roß und Reiter leicht ermitteln.

Genau darin liegt eins der Probleme dieses Films. Einerseits hält er sich punktgenau an die Fakten: Die Nummern. Die Kittel der Gefangenen. Die Feuerlöscher (die tatsächlich gegen Gefangene eingesetzt wurden). Der Aufrührer unter den Gefangenen, der schon vorher seine Story an eine Zeitung verkauft und darum ein Interesse daran hat, daß das Experiment nicht undramatisch vor sich hintröpfelt. Folglich betätigt er sich als agent provocateur. Andererseits aber spinnt der Film die Geschichte publikumswirksam weiter: Blut fließt schon ziemlich bald, später dann auch in Strömen. Das Experiment wird nicht abgebrochen, da dem zuständigen Professor seine wissenschaftliche Reputation wichtiger ist als das Gesundheit und Leben seiner Probanden. (Haben wir nicht schon immer gewußt, daß in jedem Wissenschaftler ein Monster steckt?) Der Versuch des Rebellen, einen Hilferuf nach Draußen zu schleusen, scheitert; der Wächter, der ihm half, wird von seinen Kollegen selbst zum Gefangenen degradiert. Ach ja, zuerst wird er ordentlich verprügelt, und dabei fließt natürlich Blut. Schließlich übernehmen die Wärter gewaltsam die Kontrolle auch über die Wissenschaftlercrew. (Es gibt haufenweise Technik im Labor, aber zu wenig Personal. Immerhin das entspricht bundesdeutschen Realitäten.) Frau Dr. Grimme, annehmbar verkörpert von Andrea Sawatzki, wird von einem Wärter beinahe vergewaltigt. Es gibt einen Toten. Fließt dabei Blut? Aber klar doch. Dann, endlich: ein Ausbruchsversuch. Jetzt verkommt die Geschichte zum reinen Actionspektakel: Verfolgungsjagden durch akademische Heizungskeller, Prügeleien, Kämpfe, weitere Tote, schließlich: Auftritt Racheengel mit Pistole. Und dabei fließt – na? Richtig. Blut. Finale: Eingreifen der Polizei, Verhaftung der Wärter, Zusammenfinden des Liebespaars.

Der Film beginnt als eine Art Dokumentation, schwenkt aber rasch ins Reich der Fiktion. Dummerweise macht er nicht klar, wo das eine aufhört und das andere beginnt. Leidtragender dieser Unsauberkeit war Professor Zimbardo, der heute seinen damaligen Versuch zwar selbst durchaus kritisch sieht, es aber ganz gewiß nicht verdient hat, sich auf einer Stufe mit Josef Mengele wiederzufinden. Er stoppte das Experiment, bevor jemand körperliche Verletzungen davontrug. Es gab keine Vergewaltigung und erst recht keine Leiche. Es lag jederzeit in der Macht der Wissenschaftler, den Abbruch einzuleiten, und genau das taten sie auch. Die Teilnehmer wurden anschließend psychologisch betreut („debriefing“). Es war ein höchst fragwürdiges Experiment, gewiß, aber als sich das herausstellte, wurde alles getan, den Schaden zu begrenzen, und das scheint im Rahmen des Möglichen auch ganz ordentlich funktioniert zu haben.

Also: eine Dokumentation ist dieser Film nicht, auch nicht im weitesten Sinne. Ist er dann wenigstens als Fiktion überzeugend? Leider auch nicht. Zunächst einmal ärgert man sich über das hohe Klischeeaufkommen. Der Held Tarek Fahd (ein arabischstämmiger Taxifahrer, gespielt vom derzeit permanent überschätzten Moritz Bleibtreu) hat nach einer selbstverständlich schweren Kindheit Philosophie, Politik und Architektur studiert, ist von Beruf Journalist und fährt ebenso selbstverständlich nur deshalb Taxi, weil er sich – unbeugsamer Individualist, der er ist – irgendwann mit irgendeinem Vorgesetzten angelegt hat und deshalb nur der good guy sein kann. Er nimmt, mit allerlei 007-Gimmicks wie einer kameraversehenen Brille ausgestattet, am Experiment teil, weil er sich ein berufliches Comeback davon verspricht. (Gelegentlich sieht der Zuschauer durch Tareks Brille: die Kameraführung ist dort sehr überzeugend und eines der wenigen Highlights in diesem Streifen.) Ob das dann auch klappt, wird dem Zuschauer nicht mehr mitgeteilt. Übrigens werden die Bilder, die besagte Kamera liefert, per Sender nach draußen übertragen. Warum sich diese dann aber keiner ansieht, wenn das Ganze doch eine so wahnsinnig tolle Story zu werden verspricht, ist eine Frage, die sich der Verfasser des Drehbuchs offenbar nicht gestellt hat.

Damit nicht genug, wird Tarek auch noch eine Affäre mit einer gewissen Dora angedichtet, die zwar im Showdown noch zum Zuge kommt (siehe unter dem Stichwort „Racheengel“), aber offenbar nur, weil der Drehbuchschreiber sonst nichts Rechtes mit ihr anzufangen wußte. Die Liebesgeschichte zwischen besagtem Tarek und Dora dümpelt völlig konfus und für die Handlung des Films gänzlich unfunktional vor sich hin – weder wird klar, was er an ihr, noch, was sie an ihm findet. Wieso sie nach einer gemeinsamen Nacht gleich bei ihm einzieht, oder was es mit ihrem jüngst verstorbenen Vater auf sich hat, oder warum sie andauernd in Erbschaftssachen mit einem gewissen Dennis, den man nie zu Gesicht bekommt, telephoniert: man erfährt es nie, aber eigentlich will man es auch gar nicht wissen: so wenig neugierig macht uns der Film auf die Geschichte seiner Protagonisten.

Holzschnittartig angelegt sind auch die anderen Figuren: der Gefangene Schütte, der im realen Leben einen Kiosk betreibt und von einem gelben Ferrari träumt – das geborene Omega-Tier, denkt man sich, und voilà, eine gute Stunde später weilt er nicht mehr unter den Lebenden; der Wärter Eckert, im Hauptberuf Elvis-Imitator, der auf die Frage nach seiner Motivation, an diesem Experiment teilzunehmen, mit „Fun haben“ antwortet: man weiß sofort, sollte es in diesem Film zu einer Vergewaltigung kommen, wird er der Täter sein, und genau so ist es dann auch; der Wärter Berus, der sich von einem stillen Wasser zu einem gepflegten Sadisten mausert (Zuschauer, merke auf: die Verdruckten sind die Schlimmsten! Vor allem, wenn man sie auf ihren Körpergeruch aufmerksam macht!); der Gefangene Steinhoff, ein eingeschleuster Leutnant der Luftwaffe, der den Versuch von Anfang an als Ernstfall betrachtet und eine Taktik des Ja-nicht-Auffallens verfolgt, bis die ganze Sache auch ihm zu bunt wird: dann kommt seine Einzelkämpferausbildung voll zum Einsatz, und Tarek kann ihn am Schluß nur mit Mühe zurückhalten, Wärter Berus mit eigenen Händen zu erdrosseln – klar, Militärs sind autoritätshörig, aber wehe, wenn sie losgelassen! Das ist alles in ärgerlicher Weise absehbar.

Auch über die Zielsetzung des Experiments selbst erfährt man so gut wie nichts. Erstaunt liest man auf der entsprechenden Internetseite, wie der Darsteller des Versuchsleiters Professor Thon (Edgar Selge) seine Rolle aufgefaßt hat: „Thon ist Aggressionsforscher. Er gehört zu den Darwinisten und will beweisen, daß Menschen genetische Programme exekutieren, keine kulturellen Imperative. Solche Forscher haben in unserer Gesellschaft einen schweren Stand, weil sie beweisen, daß die Decke der sozialen Ideale ziemlich dünn ist.“ Nichts davon geht aus dem Film hervor – was andererseits auch nicht allzu bedauerlich ist, denn solch dümmlicher Primitivdarwinismus sollte wirklich keine mediale Verbreitung finden.

Was für ein Potential hätte dieser Stoff geboten! Man hätte zeigen können, wie – und eben nicht nur daß – aus ganz normalen Menschen Folterknechte werden können. Dazu hätte man aber Individuen, nicht Typen auf die Leinwand bringen müssen. Man hätte ihnen Motive geben können, sich – zum Beispiel als leitender Angestellter! – für nachgerade lächerliche 4000 Mark sämtliche Bürgerrechte abkaufen und zwei Wochen lang einsperren zu lassen. (15 Dollar pro Tag im Jahre 1971 für einen Collegestudenten sind da sicherlich ein anderes Kaliber.) Die Figuren des Films haben allenfalls Eigenschaften, aber keine Biographie dahinter. Das reale Experiment konnte diese Frage nach dem Wie nicht beantworten; wo die Forschung nicht weiterkommt, schlägt die Stunde der Imagination. Gehört wurde sie nicht. Wichtiger war offenbar, dem Zuschauer die Botschaft einzuhämmern: wiege Dich nicht in Sicherheit, auch in Dir steckt ein Westentaschen-Eichmann! Nun denn. Neu ist das ja nun gerade nicht. Brauchen wir wirklich diesen Film, um einzusehen, daß man sich vor Selbstgerechtigkeit hüten sollte?

Auch das Umkippen der Simulation in Realität hätte einiges an künstlerischem Gestaltungsspielraum geboten: Friedrich Dürrenmatt hat in „Die Panne“ gezeigt, wie man außer den Gestalten auch den Zuschauer (oder Leser) bis zum Schluß im Unklaren läßt, auf welche Seite sich die Waage neigen wird, und wie man es schafft, die labile Balance zwischen Spiel und Ernst bis an die Grenze des Unerträglichen aufrechtzuerhalten. Um zu sehen, wie schleichende moralische Korruption funktoniert, kann man seinen „Besuch der alten Dame“ lesen. „Zug des Lebens“ führt vor, wie Menschen ihnen zudiktierte Rollen peu à peu verinnerlichen. Mario Giordano aber hat nicht einmal den Versuch unternommen, hier irgendetwas in der Schwebe zu halten, und für allmähliche Entwicklungen fehlte es ihm auch an Geduld. So werden mögliche Spannungsmomente gleich dutzendweise verschenkt. Für einen dokumentarischen Film wäre das allenfalls akzeptabel, aber man wollte ja partout höher hinaus. Und so vereint der Film die Schwachpunkte von beidem: als Fiktion zu platt, als Dokumentation zu wenig faktentreu. Wer keine Lust hat zu recherchieren, muß sich dafür etwas einfallen lassen. Wer keines von beidem tut, verheizt Stoff und Schauspieler und macht einen schlechten Film. So einfach ist das.

14 Bewertungen, 1 Kommentar

  • bmwumska

    21.04.2006, 03:18 Uhr von bmwumska
    Bewertung: sehr hilfreich

    würde mich über gegenlesungen freuen^^