Der Pianist (VHS) Testbericht

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ab 12,27
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Erfahrungsbericht von andy77

Kalter Angstschweiß vs. kalte Wut...

Pro:

-

Kontra:

-

Empfehlung:

Ja

Warschau 1939: Mit dem Einmarsch der Deutschen in Polen beginnt auch für den gefeierten polnisch-jüdischen Pianisten Wladyslaw Szpilman (Adrien Brody) die Zeit des Leids. Nachdem er der Todesfalle des Warschauer Ghettos nur mit viel Glück und dank der Hilfe des polnischen Untergrunds entkommen konnte, geistert er allein und voller Angst durch die entvölkerte Metropole. Schließlich rettet ihm ausgerechnet ein deutscher NS-Offizier (Thomas Kretschmann) das Leben. Basierend auf der Bestseller-Autobiographie \"Das wunderbare Überleben\" des im Jahr 2000 verstorbenen Konzertpianisten und Komponisten Wladyslaw Szpilman, erzählt \"Der Pianist\" eine ergreifende, wahre Geschichte aus dem dunkelsten Kapitel deutscher Vergangenheit. Roman Polanski, der mit einer deutsch-polnischen Crew in Warschau und Berlin drehte, verarbeitet hier aber auch eine frühe Episode seiner eigenen Lebensgeschichte: Er selbst entging als Kind nur knapp dem Konzentrationslager, seine Mutter starb in Auschwitz. \"Der Pianist\" wurde mit der Goldenen Palme als Bester Film der diesjährigen Filmfestspiele von Cannes ausgezeichnet.

1945 schrieb Wladyslaw Szpilman sein Roman \"Das wunderbare Überleben\". Ein Buch, das zwar als Roman angelegt war, aber vielmehr die Bezeichnung \"Protokoll der Ereignisse zwischen 1939 und 1945\" verdient hätte. Denn dieses Werk ist keine Literatur, keine Verarbeitung der Geschehnisse, es ist ein Buch voller Erinnerungen, die noch unter dem Schock des Erlebten stehen und daher frei von Emotionen sind.

Genau an diesem Punkt setzt Roman Polanskis neuester Streifen an. Er erschuf einen Film, der in dieser Art schon 1945/46 entstehen hätte können. Polanski beschrieb die Vorlage als ein, \"unglaubliches, manchmal sogar zur kaltschnäuzig wirkenden Objektivität\" neigendes Buch. Dem wollte Polanski, dessen eigene Biographie, der Szpilmans ähnelt, in Handlung und Stil treu bleiben. Und man muss feststellen, dass ihm dies nahtlos geglückt ist.

\"Der Pianist\" ist ein Film geworden, der von dieser Direktheit des Erlebten lebt. Ein Film der dem Zuschauer die Grausamkeiten, die in der Umgebung der Hauptfigur stattfinden, vorhält, und zwar ständig. Eine Ghettoodyssee ohnegleichen, die uns von der ersten Minute an trifft, als wären wir Teil dessen was auf der Leinwand geschieht. Als würden auch wir von Situation zu Situation weiterhasten, ohne auch nur die geringste Möglichkeit zu erhalten, über das Geschehene nachzudenken, es zu reflektieren und endlich in Wut umschlagen zu lassen. Eine Wut, die dem ersten Schock folgen müsste, der man sich aber nicht hingeben kann, denn hinter jeder Ecke lauert sie wieder, diese Angst entdeckt zu werden. Polanski erlaubt es dem Zuschauer nicht sich emotional an dem Film zu beteiligen. Erst als der Abspann schon läuft und Chopin ein letztes Mal erklingt, dürfen wir uns unseren Gefühlen hingeben, die dominiert sind von Mitgefühl, Schmerz und Trauer. Er will verhindern sich hinter Erklärungsversuchen zu verstecken und vom Thema abzulenken. Wir sollen damit konfrontiert werden, nicht darüber nachdenken, wir sollen mit unseren eigenen Körpern spüren, was es bedeutet Überlebensängsten ausgesetzt zu sein. Dies schafft er nicht durch besondere künstlerische Umsetzung, also durch eine nachträgliche Verfremdung des Geschehenen, wie so viele Filme vor ihm, es gelingt ihm durch die Distanz, die der Film allen Erklärungsmustern gegenüber hält.
Gerade dadurch schafft es Polanski in \"Der Pianist\" sich endlich wieder einmal dem eigentlichen Thema zu nähern und nicht dessen filmische Umsetzung.

Zentrum dieses einzigartigen Meisterwerkes ist der Hauptdarsteller Adrien Brody, der als schüchterner jüdischer Radiopianist durch die Zeit stolpert. Er tut dies ohne mimische Kraftakte und mit einer symphatischen Hilflosigkeit, die einem aber zeitweilig so irritiert, dass man ihn aufrütteln möchte, damit er doch endlich begreift, welche Stunde es geschlagen hat. Doch Szpilman taumelt weiter voller eigener Passivität und vom Glück verfolgt durch das Warschauer Ghetto. Dabei erkennt man nicht nur in seinem, auch in den Gesichtern seiner Zeitgenossen, die Angst, die Scham und den immer kleiner werdenden Überlebenswillen, die sie alle die unvorstellbaren Leiden ertragen ließ.

Die stärksten Momente hat der Film in den Szenen, in denen Szpilman, während er sich selbst versteckt, erlebt, wie anderen Leid angetan wird, oder die Gequälten aufstehen und sich zu wehren beginnen. Er erlebt den Aufstand im Warschauer Ghetto aus einer Wohnung, direkt an der Ghettomauer mit und man sieht von ihnen nur die Gewehrläufe aus den zerstörten Häusern ragen. Oder als Warschau kurz vor der Befreiung steht und Szpilman erlebt, wie Partisanen das Gestapo-Hauptquartier zu stürmen versuchen. Alles Dinge, die man in Geschichtsbüchern nachlesen kann, und die durch diesen Film ein Bild, wenn auch eine ungewöhnliche Perspektive erhalten.

\"Der Pianist\" ist zweifelsohne der außergewöhnlichste, weil konventionellste Film über dieses sensible Thema und wenn ich auch bisher immer der Meinung war, dass man den Holocaust nicht verfilmen kann, so musste ich mich hier eines besseren belehren lassen. Ein einzigartiges, anstrengendes Meisterwerk, bei dem sich der Zuschauer beim erklingen von Chopins Nocture in cis-moll glücklich schätzen kann sich auf der richtigen Seite der Leinwand zu befinden.

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