Einer flog über das Kuckucksnest (DVD) Testbericht

ab 8,39
Auf yopi.de gelistet seit 06/2010

5 Sterne
(6)
4 Sterne
(1)
3 Sterne
(0)
2 Sterne
(0)
1 Stern
(0)
0 Sterne
(0)

Erfahrungsbericht von atrachte

Was ist los mit Randall Patrick McMurphy?

Pro:

erstklassige Besetzung, Inszenierung, komisch, tragisch,

Kontra:

nichts,

Empfehlung:

Ja

Was „normal“ ist und was nicht entspringt meist einer subjektiven, aber immer an der jeweiligen Gesellschaft und ihren vorherrschenden Werten orientierten Wahrnehmung. Wer in einer deutschen Großstadt zum Beispiel mit einem Mundschutz durch die Straßen geht, würde von den meisten Menschen wohl schiefe Blicke ernten, während in einer japanischen Großstadt die gleiche Person in der Masse untergehen würde. „Normal“ sein heißt also – im Neudeutschen - „Mainstream“ sein, sich in eine lange Reihe einzuordnen und nicht aufzufallen. Die Frage was normal und was abnormal ist und wie eine Gesellschaft mit dieser Frage und den entsprechenden Menschen, bei denen sich eine solche Definition aufdrängt, verfährt, ist eines der Hauptthemen in Miloš Formans tragisch-komischen Filmklassiker „Einer flog übers Kuckucksnest“.

„What do you think you are, for Chrissake, crazy or somethin'? Well you're not! You're not! You're no crazier than the average asshole out walkin' around on the streets and that's it.“
- McMurphy -

„Was ist los mit Randall Patrick McMurphy?“ - diese Frage beschäftigt das Rechtssystem. Der aus der Armee unehrenhaft entlassene McMurphy (Jack Nicholson) ist nämlich immer wieder aufgefallen: durch Schlägereien, Alkoholexzesse und jüngst auch durch eine sexuelle Beziehung mit einer 15-Jährigen, die, wie der von allen nur R.P. genannte McMurphy sagt, aussehe wie Mitte 30, aber selbst angab sie wäre 18. Die Frage, ob und was mit McMurphy nicht stimmt, soll in einer psychiatrischen Anstalt geklärt werden, bevor weitere eventuelle Maßnahmen eingeläutet werden. Die Leitung entschließt sich McMurphy vorerst zur Beobachtung in eine Abteilung zu schicken, in der sowohl Patienten mit leichten als auch mit schweren psychischen Störungen stationiert sind. In dieser „herrscht“ das strenge Regiment von Oberschwester Ratched (Louise Fletcher), die keinerlei Störungen in dem routinierten Tagesablauf zu lässt. Schlafen, essen, Gruppensitzungen, Hofgang, ssen, schlafen. Springt doch einmal einer der insgesamt 18 Patienten aus der Reihe, wird er mit Medikamenten oder Elektroschocks ruhig gestellt.

McMurphy will sich dieser Routine nicht anpassen und lehnt sich gegen das System auf. Gleichzeitig versucht er seinen Mitpatienten zu zeigen, das sie nicht das sind, als was man sie etikettiert hat und hat damit auch Erfolg. Denn zum ersten mal blühen einige der Patienten wirklich auf und gewinnen ihr lange verlorenes Selbstvertrauen zurück, entschließen sich gar das System zu hinterfragen und sich, gemeinsam mit McMurphy, über die Regeln hinweg zu setzen. Doch in einem geschlossenen System, wie es eine Psychiatrie nun mal ist, wird diese Form des Individualismus nicht gern gesehen. Auch deshalb will McMurphy fliehen. Diesen Wunsch teilt er mit dem als taub-stumm verklärten Native American Chief Bromden (Will Sampson), der ebenfalls erst durch McMurphy wieder zu sich findet.

Individualisten – egal ob es sich bei dem vorherrschenden System um eine Diktatur, Demokratie oder Monarchie handelt – werden von der herrschenden Minderheit nie gerne gesehen. Denn sie lehnen sich auf, stellen Fragen und stellen Autoritäten in Frage. Ein System, das Individualisten fürchtet, unterdrückt sie, auch indem es die breite Masse instrumentalisiert und ihnen weiß macht, das alles Individuelle, alles abseits der Norm, schlecht sei und auszugrenzen gilt. Diese unbequeme Wahrheit hat Ken Kesey, der die literarische Vorlage für Formans „Einer Flog übers Kuckucksnest“ lieferte, verstanden und schuf ein bedrückend düsteres Drama, welches die These, das herrschende Minderheiten individuelle Minderheiten unterdrücken (müssen um zu bestehen), in Form des Mikrokosmos Psychiatrie untermauert. Ob Patienten Geistig krank sind oder einfach nur „anders“ , interessiert hier niemanden wirklich. Jegliche Selbständigkeit, jegliches eigenen handeln und denken wird systematisch mit Medikamenten, Gewalt und Unterdrückung gebrochen, bis die Patienten gebrochen sind. Dieser Zustand wird schließlich aufrechterhalten durch weitere Erniedrigungen und Aufstachelung der Patienten gegeneinander. Regisseur Miloš Forman bleibt bei der Grundstruktur der Vorlage treu, wandelt sie aber in einer für den Zuschauer leichter zugängliche Form ab.

Bei ihm ist „Einer flog über das Kuckucksnest“ oftmals mehr Komödie als Drama. Ein Umstand, der nicht immer auf Gegenliebe stößt zumal man den Film oftmals auch als etwas zu Oberflächlich im Umgang mit psychischen Störungen interpretiert, nicht zuletzt auch da es viele Momenten gibt in denen man über die kleineren oder größeren Macken der Patienten lacht. Doch es war bei weitem nicht Formans Absicht sich über die Menschen lustig zu machen. Vielmehr dient seine Komik als Befreiung von ungerechtfertigten Zwängen, deren Entledigung der Regisseur möglich macht. Gleichzeitig dient die Komik dem Film als dramaturgisches Mittel, denn gerade zum Schluss folgen Komik und Tragik in solch kurzen Abständen, das man die Ernsthaftigkeit der Situation und die eigentliche Intention des Filmes und des Buches erst recht begreift.

„Rules? PISS ON YOUR FUCKING RULES!“
- Charley Cheswick -

Eine immer wieder leidige Frage, die sich nicht nur bei „Einer flog über das Kuckucksnest“ aufdrängt, sondern bei literarischen Verfilmungen im allgemeinen, ist natürlich der Vergleich zwischen beiden Werken, welcher aber wie immer vollkommener Unsinn ist, da man zwei vollkommen verschiedene Medien, wie es Buch und Film nun mal sind, schlichtweg nicht miteinander vergleichen kann. Daher muss man das Buch eigenständig bewerten, ebenso wie den Film. Daher: Buch ist Buch, Film ist Film. Und doch ergänzen sich beide Werke ungemein gut und, für den Fall das man beide „Versionen“ kennt, eröffnen beide auch neue, unterschiedliche Sichtweisen, unabhängig voneinander.

Formans Verfilmung glänzt natürlich nicht zuletzt wegen seiner superben Besetzung. Jack Nicholson („Chinatown“, „The Shining“) festigte mit der Rolle des R. P. McMurphy seinen Ruf als grandioser Charakterdarsteller und erhielt vollkommen zurecht seinen ersten Oscar. Im Hinblick auf Nicholsons eigene Persönlichkeit verwundert das nicht wirklich, ist die Rolle des aufmüpfigen Individualisten doch gerade zu für ihn geschrieben worden. Anders, als in späteren Filmen, neigt sein Spiel in „Einer flog über das Kuckucksnest“ noch nicht so sehr zur Überzeichnung, ist stellenweise gar geradezu sanftmütig und bedacht auf stimmige Nuancen. Und doch bricht der Nicholson, wie man ihn kennt, bereits in dieser frühen Rolle immer wieder durch und nimmt so ziemlich jede Szene ein. Und doch, können ihm all seine Kollegen das Wasser halten, allen voran natürlich Louise Fletcher („Exorzist 2“, „Der Feuerteufel“) als kompromisslose und unmenschlich herrschende Schwester Ratched, für deren Verkörperung sie ebenfalls einen Oscar erhielt. Und auch die Nebenrollen sind mit Namen wie Brad Dourif („Mississippi Burning“, „Jungle Fever“), Christopher Lloyd („Zurück in die Zukunft“, „Die Addams Family“) und Danny DeVito („Twins“, „L.A. Confidential“) erstklassig besetzt.

Und dann ist da natürlich auch noch Will Sampson („Der Texaner“, „Buffalo Bill und die Indianer“) als Chief Bromden, welcher im Buch, um doch noch einmal auf die literarische Vorlage zurückzukommen, eigentlich die Hauptperson ist. Und in gewisser Weise ist er dies auch in der Verfilmung, denn ausgerechnet der als taub-stumme Indianer abgestempelte Patient ist es, der durch McMurphy am meisten wieder zu sich findet. Das der Nachfahre der vertriebenen „echten“ Amerikaner ausgerechnet wieder durch einen Weißen, also einen Nachfahren jener, die die Natives ihrer Heimat beraubt haben, zu seiner Sprache und seinem Gehör findet bekommt bei einer entsprechenden Deutung des Endes hinzu noch eine ganz andere Kehrseite auferlegt, die das Werk in einem zusätzlich anderen Licht erscheinen lässt.

„Einer flog übers Kuckucksnest“ gilt zurecht als einer der wichtigsten Vertreter der leider viel zu kurzen New-Hollywood Ära. Formans Kritik an das unmenschliche System in psychiatrischen Einrichtungen funktioniert trotz, oder vielleicht auch gerade wegen, dem insgesamt doch sehr ausgewogenen Gleichgewicht zwischen herzhafter Komik und bedrückender Tragik. Ein Zusammenspiel das in dieser Form nur selten wieder erreicht wurde.

Daten zum Film:
Originaltitel: One Flew Over the Cuckoo's Nest (USA, 1975)
Laufzeit: ca. 134 Minuten
FSK: Ab 16 Jahren
Regie: Miloš Forman
Darsteller: Jack Nicholson (R.P. McMurphy), Louise Fletcher (Nurse Ratched), Danny DeVito (Martini), Christopher Lloyd (Taber), Will Sampson (Chief Bromden), Brad Dourif (Billy Bibbit), Sydney Lassick (Charley Cheswick)...

10/10

34 Bewertungen, 6 Kommentare

  • XXLALF

    09.07.2010, 10:13 Uhr von XXLALF
    Bewertung: sehr hilfreich

    und ein wunderschönes wochenende

  • mima007

    24.06.2010, 15:22 Uhr von mima007
    Bewertung: sehr hilfreich

    Viele Gruesse, mima007

  • alexbsc15

    24.06.2010, 15:05 Uhr von alexbsc15
    Bewertung: sehr hilfreich

    Super:) Freue mich über Gegenlesen

  • topfmops

    23.06.2010, 17:55 Uhr von topfmops
    Bewertung: sehr hilfreich

    Kein - wie auch immer gearteter - Vergleich zum Buch.

  • ChrisS91

    23.06.2010, 16:27 Uhr von ChrisS91
    Bewertung: sehr hilfreich

    Sehr hilfreicher Bericht!

  • senora

    23.06.2010, 13:41 Uhr von senora
    Bewertung: sehr hilfreich

    Hurra, der Sommer ist da. Nun muss Schland nur noch gewinnen. LG