Der Junge, der Träume schenkte (Taschenbuch) / Luca Di Fulvio Testbericht

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ab 11,03
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Erfahrungsbericht von margy

der junge, der träume schenkte

Pro:

siehe bericht

Kontra:

siehe bericht

Empfehlung:

Ja

Zum Buch:

Originaltitel: La Gang dei Sogni, erschienen 2008 in Mailand, Verlag: Arnoldo Mondadori Editore
Das 784seitige Taschenbuch erschien im Bastei Lübbe Verlag in der 12. Auflage am 21. Februar 2012 in deutscher Sprache. Unter der ISBN 978-3404160617 kostet es 9,99 €. Aus dem Italienischen übersetzt von Petra Knoch. Die 1. Auflage erschien im August 2011.

Buchumschlag:

Ein kleiner vorwitziger Junge mit Hut schaut zwischen zwei Mauern hervor. Nur sein verschmitztes Gesicht ist zu sehen. In verschiedenen braunen Tönen ist der Deckel des Buches gestaltet.

Autor:

Luca Di Fulvio, geb. 1957, lebt und arbeitet in Rom. Sein vielseitiges Talent ermöglicht es ihm, mit derselben Leichtigkeit sowohl packende Thriller für Erwachsene als auch fröhliche Geschichten für Kinder zu schreiben (letztere veröffentlicht er unter Psyeudonym). Einer seiner vorherigen Thriller, L’Impagliatore, wurde unter dem Titel Occhi di cristallo für das italienische Kino verfilmt. Bevor Di Fulvio zum Schreiben kam, hat er in Rom Dramatik studiert, und sein Lehrmeister war kein Geringerer als Andrea Camilleri.

Klappentext:

New York, 1909. Aus einem der transatlantischen Frachter steigt eine junge Frau mit ihrem Sohn. Sie kommen aus dem tiefsten Süden Italiens mit dem Traum von einem besseren Leben in Amerika. Der Junge hat eine besondere Gabe, die ihm dabei hilft, sich in einer Welt aus Gewalt und Kriminalität zurechtzufinden, seinen eigenen Lebenstraum zu verwirklichen und seine große Liebe zu finden.


Handlungsort und -zeit:

USA / New York, 1890 - 1909.

Weitere Titel seiner Bücher:

Die Rache des Dionysos
Der Präparator
Inkubus

Leseprobe aus dem Prolog:

Aspromonte 1906 - 1907


Anfangs hatten beide beobachtet, wie sie heranwuchs. Die Mutter und der Gutsherr. Die eine mit der Sorge, der andere mit seiner trägen Wollust. Doch bevor sie zur Frau wurde, trug die Mutter dafür Sorge, dass der Gutsherr sie nicht mehr beachtete.
Als das Mädchen zwölf Jahre alt war, gewann die Mutter, wie sie es von den alten Frauen gelernt hatte, aus Mohnsamen einen Sirup. Diesen Sirup flößte sie dem Mädchen ein, und als es benommen vor ihr zu taumeln begann, nahm sie es auf ihren Rücken, überquerte die staubbedeckte Straße, die inmitten der Ländereien des Gutsherrn an ihrer Hütte vorbeiführte, und trug es bis zu einem Kiesbett, wo eine alte verdorrte Eiche stand. Sie brach einen dicken Ast ab, zerriss die Kleider des Mädchens und rammte ihm einen spitzen Stein in die Stirn. Diese Wunde, da war sie sicher, würde stark bluten. Dann legte sie ihre Tochter in verrenkter Haltung, als wäre sie beim Sturz vom Baum die Böschung hinabgerollt, auf dem Kies ab und ließ sie, bedeckt mit dem Ast, den sie abgebrochen hatte, dort liegen. Die Männer würden bald von der Feldarbeit heimkehren, deshalb hastete sie zurück in die Hütte. Dort bereitete sie aus Zwiebeln und Schweinespeck eine Suppe zu und trug danach erst einem ihrer Söhne auf, nach Cetta, ihrem Mädchen, zu suchen.
Sie behauptete, sie habe sie zum Spielen in Richtung der toten Eiche laufen sehen, schimpfte über ihre Tochter und beklagte sich bei ihrem Mann: Das Mädchen sei ein Fluch, sie schaffe es nicht, sie zu bändigen, es sei ein Irrwisch, trage jedoch den Kopf in den Wolken, man könne ihm nichts auftragen, da es schon auf halbem Weg schon wieder alles vergessen habe, zudem sei es ihr nicht die geringste Hilfe im Haushalt. Ihr Mann wies sie zurecht und verbot ihr den Mund, bevor er schließlich zum Rauchen nach draußen ging. Während der Sohn sich über die Straße zur toten Eiche und zum Kiesbett aufmachte, kehrte sie zurück in die Küche, um die Zwiebel-Speck-Suppe im Kessel umzurühren und wartete. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.

Schreibstil:

hochinteressant, spannend, lebendig, indirekte wörtliche Rede, entsetzliche und bedrückende Atmosphäre vermittelnd, einfühlend

Meinung:

Bereits im Prolog schickt uns der italienische Autor auf eine entsetzliche Reise, die Bedrückung vermittelt. Eine Mutter, überfordert mit ihrer Arbeit, ist in der Lage, ihr eigenes Kind zu verletzen und es irgendwo abzulegen. Heuchlerisch jammert sie zu Hause herum, trägt keine Verantwortung und dröhnt ihr Mädchen mit Opium, einem Rauschmittel voll. Die Wirkung des Mohns wird bekannt gewesen sein, sonst hätte die Mutter ihr Kind nicht damit versorgt. Anstatt sich dann aber der Vater um das Verschwinden seines Mädchens kümmert, geht er nach draußen und raucht. Die ganze Verantwortung liegt auf dem Sohn, der auf die Suche nach seiner Schwester geschickt wird. Einfach nur grausam.
Der Bruder findet seine Schwester schwer verletzt und bringt sie nach Hause. Der Vater ist entsetzt und das Spiel der Mutter an ihrer Tochter geht weiter. Es scheint kein Ende nehmen zu wollen. Die Mutter bindet ihr einen Strick um die Schulter bis zur Hüfte für einen Monat, so wie sie sagt, damit das Mädchen später verkrüppelt herumläuft. Sie hasst es, dass der Gutsherr an ihrem Mädchen Gefallen gefunden hat.
Ist hier Neid im Spiel?
Was tut die Mutter ihrem Kind an?
Was denkt sie sich dabei, ihr eigenes Kind, ihr eigenes Fleisch und Blut derart widerwärtig zu behandeln?
Nach dieser Tortur durch die eigene Mutter blieb das Mädchen verkrüppelt - ein Leben lang.
Die Mutter hatte einmal ein Verhältnis mit dem Gutsherrn und so hatte das Mädchen einen Halbbruder. Konnte die Frau das Älterwerden nicht akzeptieren? Sah sie keine Möglichkeiten, sich trotz ihres Alters noch ein wenig herauszuputzen, um attraktiv zu wirken? Was fiel ihr ein, das mit ihrer Tochter zu machen?
Als nun das Mädchen älter wurde, sah sie ganz genau die Schönheit der anderen und dachte an ihr eigenes Dasein, ihr Leben als Krüppel. Nichts war mehr so, wie es einmal war. Sie würde das Leben - Dank ihrer Mutter - nicht führen können wie jeder andere Mensch, der nicht verkrüppelt herumlaufen musste.
Sie hörte und sah, wie der Gutsherr mit einem seiner Arbeiter umging, der auch ein Krüppel war. Das Mädchen hörte hin und sah auf der einen Seite die Schönheit, auf der anderen das Leid des Lebens und die Schmach, die Pein, die ein Mensch einem anderen antun kann.
Es tauchen Parallelen auf, die gleich sind. Es gibt Cetta, die verkrüppelt ist und ein Bein nach sich zieht und auf dem Gut des Gutsherrn den verkrüppelten Arbeiter. Beide sind sie sehr detailliert in ihrer Behinderung beschrieben. Einen Unterschied zu den beiden Figuren gibt es: Cetta, das Mädchen, hat die Behinderung nicht wegen eines Unfalles, eines Sturzes oder ähnliches, sondern ihre eigene Mutter fügte ihr das Leid zu. Sie ist gerade 13 Jahre alt, als sie das Bein hinter sich herziehen muss und dadurch wie ein Krüppel durch die Gegend hinkt.
Der Krüppel des Gutsherrn fällt über sie her und vergewaltigt sie, so dass das Mädchen mit 14 Jahrens schwanger wird.
"Du wirst keinen Bastard in dir tragen!" waren die Worte der Mutter an sie, die mit ihrer brutalen Vorgehensweise verhindern wollte, dass Cetta vom Gutsherren schwanger wurde.
Sie bringt einen Jungen zur Welt.
Um danach die Seereise nach Amerika antreten zu können mit ihrem kleinen Sohn, lässt sie sich auf die Nähe des Kapitäns ein, denn Geld für die Reise mit dem Schiff besitzt sie naicht.
Was können wir Leser daraus erkennen?
Die Leiden und die Qualen aus der Kindheit setzen sich im Erwachsenenalter fort, wenn man nicht in der Lage ist, das Wort "Nein" einzusetzen und damit den Kampf für sich selbst und das eigene Wohl aufzunehmen. Verdeckt und überlagert durch das entstandene Elend aus der Kindheit ist mancher Mensch aus Angst nicht in der Lage, weiß einfach nicht, mit Situationen umzugehen und sieht in allem ein Problem. Cetta will dem Elend ihrer Kindheit und ihrer Eltern entfliehen und stürzt sich unbewusst ins nächste.
Das zieht auch Parallelen in die heutige Zeit. Solche Menschen, die zum Opfer werden und sich nicht zu helfen wissen, sind letztendlich auch die, die in der heutigen Zeit in der Psychiatrie landen. In der Zeit des beginnenden 20. Jahrhunderts, in der die Geschichte spielt, waren das alles noch Irrenhäuser, so wie die Menschen es ausdrückten und die Methoden andere als heute.
Sehr lebendig und bildhaft schreibt der italienische Autor die Geschichte dieses Mädchens und des Jungen, den sie zur Welt brachte. Er lässt sich auf die Befindlichkeiten und die Gefühle ein, schaut auf die Brutalität und das Nichthandeln der Eltern, auf den Einsatz des Sohnes, auf die Macht- und Hilflosigkeit des Mädchens und das weitere Leben des kleinen Natale.
Er lässt bei dem Leser Erstaunen zurück, gleichzeitig Entsetzen, Qual, Grausamkeit, die unweigerlich beim Lesen der Handlung entstehen.
In klaren und deutlichen Worten hinterlässt er einen Eindruck der Menschen, die gewaltsam vorgehen, Menschen, die sich Dingen ausgeliefert sehen und alles mit sich machen lassen und zeigt die Macht der Menschen, die diese Macht und Herrschaft nicht ausüben dürften, weil sie zum Schutz und zum Wohl des Kindes verpflichtet sind.
Der Schriftsteller setzt sich mit der Angst und der Verzweiflung des Mädchens als heranwachsende junge Frau auseinander und zeigt uns Lesern ein Drama, das kaum zu fassen ist.
Die Gewaltbereitschaft der Menschen unter sich findet einfach kein Ende. Auch eine Vergewaltigung, das Treiben der Mutter an ihrem Kind sind eine Form von Gewalt, wenn auch in verschiedenen Formen. Was in den Kindern oder Erwachsenen hinterlassen wird, das stellt uns der Autor genau vor das Auge.
In aller Offenheit setzt sich der Italiener damit auseinander und setzt uns in eine Welt, einmal Italien und auch Amerika, die wir als eine Reise, eine Tour, eine Tortur, erleben. Es ist eine Odyssee des Grauens und des Entsetzens, eine Welt der Kriminalität, das der Junge mit seinem Lachen unterbricht und wieder Hoffnung schenkt.
Wahnsinnig gut!

32 Bewertungen, 4 Kommentare

  • Sabse0802

    12.12.2012, 14:48 Uhr von Sabse0802
    Bewertung: besonders wertvoll

    Lese das Buch auch gerade, es hat mich förmlich gefesselt. :)

  • Miraculix1967

    27.03.2012, 22:32 Uhr von Miraculix1967
    Bewertung: sehr hilfreich

    Schönen Dienstagabend und liebe Frühlingsgrüße aus dem gallischen Dorf Miraculix1967

  • michelle975

    27.03.2012, 10:46 Uhr von michelle975
    Bewertung: besonders wertvoll

    bw und viele Grüße...

  • katjafranke

    27.03.2012, 09:54 Uhr von katjafranke
    Bewertung: sehr hilfreich

    Katja schickt dir liebe Grüße