Abgründe (gebundene Ausgabe) / Josef Wilfling Testbericht

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ab 10,74
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Summe aller Bewertungen
  • Niveau:  anspruchsvoll
  • Unterhaltungswert:  hoch
  • Spannung:  gering
  • Humor:  wenig humorvoll
  • Stil:  ausschmückend

Erfahrungsbericht von LilithIbi

"Alle haben etwas kommen sehen, aber keiner hat es verhindert."

4
  • Niveau:  anspruchsvoll
  • Unterhaltungswert:  durchschnittlich
  • Spannung:  hoch
  • Humor:  wenig humorvoll
  • Stil:  ausschmückend
  • Zielgruppe:  Männer

Pro:

-

Kontra:

-

Empfehlung:

Ja

„Die Natur hat es nun einmal so eingerichtet, dass Männer körperlich stärker und damit im Vorteil sind. Sie müssen nicht warten, bis sich eine Gegnerin abgewandt hat. Fast immer greifen Männer frontal an und gehen von Angesicht zu Angesicht auf Frauen los. Wenn sie dann auch noch betrunken war und angeblich im Affekt handelten, kommen sie meist mit einer Verurteilung wegen Totschlags davon. Frauen dagegen, sollten sie erst dann zugestochen haben, als ihnen der Überlegene den Rücken zugewandt hatte, erfüllen unter Umständen das Mordmerkmal der Heimtücke, weil sie die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers ausgenutzt haben. Und wenn ein Mordmerkmal erfüllt ist, droht lebenslange Freiheitsstrafe. Ungerecht?“
_(Zitat, S. 81)_

Harbort, von Schirach und Tsokos ~ eigentlich dachte ich, mein gar nicht mal so spezielles Interessengebiet Dank dieser Autoren (und allesamt kriminalistischer Mitarbeiter) abgedeckt zu wissen. Während einer Zugumsteigswartezeit fiel mit inmitten der Bahnhofsbuchhandlung jedoch ein weiterer Name ins Auge: Josef Wilfling, ehemaliger Mordermittler in München, der unter anderem dazu beitrug, den Moshammer-Mord aufzuklären, schrieb ein paar seiner miterlebten Fälle auf und veröffentlichte 2010 das 320 Seiten umfassende Buch

===“Abgründe ~ Wenn aus Menschen Mörder werden“=== welches der willige Kaufinteressierte für 8,99€ erwerben kann.

Bereits das gefasste Vorwort gestaltet sich einleuchtend und nicht minder sympathisch, offenbart dann und wann einen anderen Blickwinkel als sonstige Vergleichswerke, indem er kurz aber prägnant den Bezug zwischen Mordmotiven und den 7 Todsünden herstellt. Hervorzuheben ebenfalls der Aspekt, dass Josef Wilfling bewusst darauf verzichtete, sich mit der Frage zu beschäftigen, „warum“ jemand zum Mörder wurde ~ schlicht und ergreifend aus dem Grunde heraus, dass er bezüglich dieses psychologischen Sachgebiets seine Kompetenzen überschritten sieht. Und ja, solcherlei Zugeständnis leuchtet zwar ein, ist jedoch keinesfalls selbstverständlich.

Bereits an dieser Stelle war ich persönlich regelrecht in die Lektüre versunken; der generell angenehme Schreibstil, der den Leser direkt für sich einnimmt, ist lockerer Natur und bringt diesen vereinzelt zum Schmunzeln, ohne die angemessene Ernsthaftigkeit jemals aus den Augen zu verlieren. Ansatzweise mag der Schreibstil recht malerisch erscheinen, schafft es dennoch im gleichen Kontext, als spitzfindig zu gelten:

„Mit anderen Worten: Monika S. War zwar strohdumm, aber gefährlich raffiniert, absolut narzisstisch, gefühlskalt und gelegentlich scharf wie Nachbars Lumpi, wie man so schön sagt im Volksmund.“
_(Zitat, S. 26)_

Wer nun schlussfolgert, „Abgründe“ würde zur Trivialität neigen, der irrt ~ durch ein wenig schwarzen Humor jedoch entlasten die dargebotenen authentischen Mordfälle den Leser; die Atmosphäre wird hin und wieder aufgelockert und erleichtern somit den Leseprozess. Natürlich gehen die geschilderten Tatvorgänge, Motive und Umstände durchaus unter die Haut, verstören oder schockieren gar ~ verharmlost wird hier nichts; doch wenn ein Autor weiß, an welcher Stelle ein wenig „Druckablass“ filigran platziert werden könnte...dann ist das meiner Meinung nach viel wert.

Darüber hinaus besticht “Abgründe“ durch einige Details, die informativ, wissenswert und grotesk zugleich sind: Die gesetzliche sog. „Frist bis zum Ablauf des darauffolgenden Tages“ involviert eben auch nachfolgendes:

„Dummerweise kommt es vor, dass Straftäter fünf Minuten vor Mitternacht festgenommen werden. Das bedeutet, dass der erste Tag bereits nach fünf Minuten abgelaufen ist und damit für uns verloren ist. Bleibt uns also nur noch der darauffolgende Tag, um unsere Beweise zu sammeln und alle Vernehmungen durchzuführen.“
_(Zitat, S. 42)_

An den Umstand, dass Josef Wilfling mit Vorliebe „abgehakte“ Sätze benutzt, quasi so schreibt, wie er wohl auch spricht, gewöhnt man sich nicht nur schnell, sondern fühlt sich durch eben jenes gleichermaßen nahezu integriert und alles andere als überfordert. Erwähnenswert ebenfalls, dass das Buch beinahe ausnahmslos auf umfangreiche Fachbegriffe oder gar Statistiken verzichtet ~ anspruchsvoll wird die Lektüre somit vorbildlicherweise durch den eigentlichen Inhalt; statt mittels berufsspezifischer Umschreibungen wortakrobatisch zu brillieren zu versuchen. Noch genauer gesagt: ich persönlich hätte fast meinen Ausstiegsort verpasst, eben weil ich inmitten der Zugfahrt so derartig vom Inhalt gefesselt war.

Nichtsdestotrotz stellt sich das Kapitel _“Töten Frauen anders als Männer?“_, in denen gleich mehrere Fallbeispiele kurz angerissen und miteinander verglichen werden, als eines der analysierendsten dar. Hier finden sich tatsächlich ein paar Zahlen und Fakten; die den Leser allerdings keineswegs zu erschlagen drohen. Josef Wilfling scheint genau zu wissen, wann es „genug“ ist; nimmt grundsätzlich Rücksicht auf den potentiell zartbesaiteten Leser und verzichtet auf allzu detaillierte Tatort- bzw. Leichenbeschreibungen.

Seine Ausführungen beschränken sich nicht auf die reine puristische Wiedergabe diverser Abläufe, vielmehr stellt er manches durchaus in Frage, liefert Denkanstöße und vergleicht nicht zuletzt den Aspekt der „Kindstötung früher“ (in Kriegszeiten oft, um dem eigenen Nachwuchs vor dem wahrscheinlichen Hungertod zu bewahren) mit den damit verbundenen Beweggründen von heute (oftmals eher als „Selbstrettung“ zu verstehen). Jene Fallbeispiele bestechen vor allem mit der jeweils abschließenden Frage „eine Mörderin?“, die den Leser durchaus vor eine harte Knobelaufgabe stellen. Dadurch, dass Josef Wilfling derartig „nebenbei“ versucht, etwaiges Schwarz-Weiß-Denken zu torpedieren, begeistert mich das Buch zusätzlich.

Der ein oder andere Leser mag es vielleicht bedauern, dass der Verfasser nicht offenbart, welches Gift nur sehr schwer im Körper nachweisbar ist ~ doch die begründenden Worte, dass er

„...ja schließlich keine Empfehlung aussprechen möchte. Noch dazu, wo es erschreckend einfach ist, wenn man es weiß. Für die Opfer ist es übrigens ein grausamer, qualvoller Tod, sodass man möglicherweise nicht nur heimtückisch handelt, sondern auch das Mordmerkmal der Grausamkeit erfüllt.“
_(Zitat, S. 79)_

sind meines Erachtens nach durchaus einleuchtend und bezeichnend für einen Mann, der seine Erfahrungen und nicht zuletzt Buchseiten mit bestem Wissen und Gewissen zusammengetragen hat.

'''Die Mordfälle selbst''' sind hin und wieder durchaus harter Tobak; zumal man jeweils weiß, dass diese Fälle sich wahrhaftig zugetragen haben. Insbesondere das Kapitel _„Mordlust“_; in dem der Name durchaus Programm und Motiv zugleich ist, beängstigt nicht minderer Natur, während _„Perversitäten“_ quasi FSK18-Zeug thematisiert.
Sadomaso, Kannibalismus, Sodomie ~ all diese Varianten der „anderen“ Sexualität finden hier ihren Platz; während männliche wie auch weibliche Leser vermutlich über die ein oder andere Stelle stolpern, in der sie wie ferngesteuert unbewusst die Beine zusammenpressen. Gelangt der Leser schließlich an die Passage, in der „ein Kind zu Tode gekommen sein soll, weil man es möglicherweise mit Kaffee klistiert hatte“ _(vgl. S 151)_, fällt einem womöglich noch weniger ein als zu dem Umstand, dass ein Hühnervergewaltiger straffrei ausging, eben weil Sodomie seit 1969 nicht mehr strafbar ist. _(vgl. S. 150)_.

Ob der Aspekt der Sachbeschädigung erfüllt wird, sollte doch mal ein Tier zu Tode kommen oder „nur unbrauchbar für den Besitzer“ werden, steht wohlweislich auf einem anderen Blatt.

===Summa summarum=== habe ich auch bei diesem Buch bewusst darauf verzichtet, jedes einzelne Kapitel inhaltlich aufzudröseln bzw. die jeweiligen Fälle näher vorzustellen. Meiner Erfahrung nach „wirkt“ das Buch intensiver und bleibt nicht zuletzt spannender und überraschender, wenn man vorab möglichst wenig über die einzelnen Taten weiß. Wer „Abgründe“ liest, der rätselt automatisch mit, sucht eigene Erklärungen, Schlussfolgerungen und Motive ~ um sich wieder und wieder von der einfachen und verstörenden „Auflösung“ aufwühlen zu lassen.

„Abgründe“ beinhaltet mehrere unfassbare Geschichten, die sich so oder so ähnlich (Datenschutz....) tatsächlich zugetragen haben. Eine jede Wiedergabe hat ihren eigenen Reiz, allesamt gehen mehr oder minder unter die Haut und verursachen stellenweise eine langanhaltende Gänsehaut. Der rundere Blick „hinter die Kulissen“ bleibt hier genauso wenig aus wie bei den eingangs genannten Vergleichsautoren, wenngleich sich der Schreibstil naturgemäß voneinander abhebt.

In diesem Zusammenhang komme ich nicht umhin zu erwähnen, dass der Verfasser fast schon zu oft das Wort „Ekel“ benutzt; wenngleich dieses durchaus offenbart, dass dieser sich scheinbar kaum in die jeweiligen Täter hineinfühlen konnte. Was natürlich im Grunde genommen nichts schlechtes ist. Ungeschickt wird der Sprachgebrauch erst an den Stellen, in der Wilfling mehrfach auf die Beschreibung „den ersten und einzigen farbigen Kriminalbeamten“ zurückgreift ~ auf S. 278 sogar auf einer einzigen Seite. _(vgl. Foto)_.

Meiner Ansicht nach ebenfalls ungeschickter Natur der allerletzte Satz des Buches; eben weil der vorletzte für meinen Geschmack die absolute Kawumm-Wirkung erzielt hätte, die sodann ein wenig ausgebremst oder gar vernichtet wird.

~ Jene sprachlichen Mankos steht natürlich zweifelsfrei die Tatsache entgegen, dass „Abgründe“ nicht als profane Unterhaltungsliteratur verstanden werden will, weswegen ich jene Patzer lediglich erwähnt haben wollte ~ nicht mehr, und nicht minder.
Besonders hervorzuheben abschließend also vor allem, dass der Rechtsmediziner Seite um Seite die Seele des Lesers zu berühren vermag; wenngleich sich konsequenterweise ebenfalls eine Art Ohnmachtsgefühl ausbreitet.

Ergo des Ergos: Für mich persönlich somit eine absolut lesenswerte Lektüre, die nicht effekthaschend zu unterhalten versucht, sondern eindeutig hinter die Kulissen zu blicken versteht und Wert auf authentische Darlegungen legt.
Volle Punktzahl, eindeutige Empfehlung.

28 Bewertungen, 7 Kommentare

  • papaonline

    06.05.2011, 13:03 Uhr von papaonline
    Bewertung: sehr hilfreich

    sehr hilfreich berichtet, lg dirk

  • kleiner_engel

    03.05.2011, 19:10 Uhr von kleiner_engel
    Bewertung: sehr hilfreich

    Liebe Grüße !!______

  • katjafranke

    03.05.2011, 19:02 Uhr von katjafranke
    Bewertung: sehr hilfreich

    Liebe Grüße von der Katja

  • sigrid9979

    03.05.2011, 15:47 Uhr von sigrid9979
    Bewertung: sehr hilfreich

    Wünsche Dir eine sonnige Woche ....

  • lin1204

    03.05.2011, 14:44 Uhr von lin1204
    Bewertung: sehr hilfreich

    schöner Bericht, liebe Grüße

  • yeppton

    03.05.2011, 12:48 Uhr von yeppton
    Bewertung: sehr hilfreich

    sehr schoen geholfen, Mfg Markus

  • Lale

    03.05.2011, 12:25 Uhr von Lale
    Bewertung: sehr hilfreich

    Allerbesten Gruß *~*