Abgeschnitten (gebundene Ausgabe) / Sebastian Fitzek, Michael Tsokos Testbericht

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ab 9,99
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Summe aller Bewertungen
  • Handlung:  sehr spannend
  • Niveau:  sehr anspruchsvoll
  • Unterhaltungswert:  sehr hoch
  • Spannung:  sehr hoch
  • Humor:  durchschnittlich
  • Stil:  sehr ausschmückend

Erfahrungsbericht von LilithIbi

"Denn Hoffnung ist nichts anderes als eine Scherbe im Fuß."

Pro:

-

Kontra:

-

Empfehlung:

Ja

„Zwei gebrochene Rippen und einen Dammriss später waren die Qualen so unerträglich geworden, dass sich ihre Seele nahezu vollständig von ihrem Körper entkoppelt hatte. Im Augenblick stand ihr früheres Ich wie ein ausrangierter Waggon auf dem Abstellgleis ihres Bewusstseins. Nur ein kläglicher Rest von dem, was ihre Persönlichkeit ausmachte, saß weiterhin in dem Zug, der immer tiefer hineinraste in einen Tunnel aus Schmerzen. Ein Gummischwamm, so groß wie ein Golfball, steckte in ihrem Mund und drückte permanent auf die pochende Wunde im Zahnfleisch. Doch dieser Schmerz war eine willkommene Ablenkung. Ihr Vergewaltiger hatte eine neue Körperöffnung in ihrem Unterleib gefunden und schien sie zerreißen zu wollen.“
(Zitat, S. 76)

~ Leser, die bei eben jenen Zeilen bereits an ihre Grenzen geraten, sollten möglicherweise einen Bogen um jenen Thriller machen, den ich persönlich am gestrigen Tage nahezu unterbrechungslos von Anfang bis Ende durchgelesen habe. Bereits in diesem Kontext gestaltet sich das liebenswerte Schmankerl in Form eines Obduktionsberichtes betreffend des Buches selbst als absolut treffsicher, da hier von einem „Unbekannten Todeszeitpunkt, vermutlich in den späten Abendstunden nach stundenlanger vorausgegangener z. T. stumpfer Gewalt, z. T. scharfkantiger Einwirkung auf das Innenleben (heftiges Umblättern)“ die Sprache. Fast schon gruselig hier, dass von einer „noch nicht identifizierten Leser'''in'''“ die Rede ist ~ als ob das Autorenduo jenen Umstand hätte vorhersehen können.
Generell sei gesagt, dass es mich hin und wieder mit Skepsis erfüllt, wenn ich höre, dass zwei Schriftsteller sich zusammengetan haben um gemeinsam ein Buch zu schreiben: so oft dies glücken mag, so kommt es hin und wieder eben doch vor, dass man genau ablesen kann, welcher Part für welche Passage verantwortlich gewesen sein mag.

Im vorliegenden Fall jedoch tätigte ich für meinen Teil ad hoc eine Vorbestellung, als ich hörte, dass Sebastian Fitzek und Michael Tskokos einen gemeinsamen Thriller auf die Menschheit losgelassen haben. Zwar mag man inmitten von

==“Abgeschnitten“==
durchaus zutreffende Ahnungen anstellen, von wem die detaillierten Obduktionsmomente stammen mögen und wer eher für die Idee (wie bereits in „Der Seelenbrecher“) eine aufgrund eines Orkans vom Festland abgeschnittene Insel der Antreiber war ~ die tut der hochgradigen Spannung jedoch keinesfalls einen Abbruch.
Obschon die Story recht einfach zusammenfassbar klingt, tun sich inmitten „Abgeschnitten“ immerfort Finessen auf, die den Leser sich förmlich ans Buch werden krallen lassen.

Fakt ist: der Schwerpunkt liegt eindeutig auf Rechtsmediziner Paul Herzfeld, der inmitten einer Leiche die Telefonnummer seiner entführten Tochter Hannah findet. Dies stellt lediglich den Auftakt zu einer wahnwitzigen Schnitzeljagd der, die aufgrund des Sturms Paul jedoch nicht selbst durchführen kann. Vielmehr ist es die ihm bis dato unbekannte und vollends „branchenfremde“ Linda, die auf Helgoland zufällig die zweite Leiche findet, in die ein weiterer Hinweis drapiert wurde ~ die einzige Chance, die Paul bleibt, um seine Tochter möglichst unversehrt bergen zu können, liegt darin, Linda via Telefon Anweisungen zu geben, wie sie die Leiche obduzieren muss....
Die Umsetzung

gestaltet sich meines Erachtens nach – man kann es nicht anders sagen – als absolut brillant. Nicht genug damit, dass Paul Herzfeld um seine Tochter bangt; obendrein flüchtete Linda selbst sich auf Helgoland, um ihrem gewalttätigen Exfreund zu entkommen. Bei jenem handelt es sich um die Art Stalker, die man durchaus fürchten sollte, vermengte Eric beispielsweise aus purer Eifersucht Lindas Nachtcreme mit Säure. Trotzdessen Lindas Bruder Clemens diese versucht, am Telefon zu beschwichtigen, dass er sich um Danny „gekümmert“ hätte, nimmt in Linda die Panik, dass Danny sich in ihrer mittelbaren Nähe befindet, drastisch zu.
Weiterhin versorgten Fitzek und Tsokos den Leser mit dem Einblick dessen, was auf Seiten des Entführers vor sich geht, welche „Versprechen“ er der jungen Frau macht, die ihm restlos ausgeliefert ist.

Und als wäre damit noch nicht genug, vollbrachte „Abgeschnitten“ es, mir bereits in dem ersten Kapitel überhaupt den Boden unter den Füßen wegzureißen; während einem jeden einerseits die Logik von Zeilen wie

„...und trotzdem glaubten alle, Gefahren würden vor allem in der Finsternis lauern. Das war genauso schwachsinnig wie diese ewigen Warnungen vor Fremden. Die meisten Sexualstraftäter waren Verwandte oder Bekannte, oft sogar die eigenen Eltern. Aber es warnte einen natürlich niemand davor, zu Mama und Papa ins Auge zu steigen.“
(Zitat, S. 8)

an für sich bewusst sein dürfte, andererseits eben jener Wahrheitsgehalt allzu gerne verdrängt wird. Was bereits an dieser Stelle überladen erscheinen könnte, fällt im Buch selbst keinesfalls in dieser Art und Weise auf. Vielmehr kreierten Fitzek & Tsokos einen Thriller, dessen Titel nicht nur zutreffend-doppeldeutig interpretierbar ist, sondern der ebenfalls in jedem seiner Handlungsstränge die Nerven des Lesers zu strapazieren versteht.
Der Begriff „Hochspannung“ ist fast schon zu milde formuliert, vergaß zumindest ich für meinen Teil gleich mehrere Tassen eines aufgebrühten Heißgetränks, welches ich sodann ähnlich kalt herunterwürgte, wie es die Protagonistin des Buches mit ihren aufkeimenden Gefühlen aka Brechreiz zu tun verstand.

Zarte Gemüter auf der Leserfront müssen sich durchaus auf Schilderungen einstellen, die über das, was man sich unter dem Wort „Totenruhe“ vorstellen mag, schonungslos hinausgehen. Dadurch, dass Paul Herzfeld Linda telefonisch Anweisungen gibt, gestalten sich die Ausführungen über die vorzunehmenden Untersuchungen wie auch Schnitte an den Toten selbstredend detailliert, was für den Leser durchaus den „mittendrin statt nur dabei“ Effekt nach sich zieht.

Obschon mich für meinen Teil der nach rund 150 Seiten drapierte Rückblick gen „Vier Jahre zuvor“ anfänglich irritierte und fragmentarisch missmutig stimmte, stellte sich diesbezüglich jedoch rasch heraus, dass die Tiefgründigkeit des Gesamtwerkes auf dieser Art und Weise lediglich noch raffinierterer, bestechlicher und runder gestaltet wurde. Erfreulicherweise bleibt es dann auch bei eben diesem einzelnen Ausflug in die Vergangenheit, während nichtsdestotrotz hier und dort der männliche Protagonist sich zwangsläufig an etwas, das einmal gewesen ist, zurückerinnern muss.
Es mag manch einen stutzig stimmen, dass der Täter sowie dessen Motiv bereits nach der ungefähren Buchhälfte offen auf der Hand liegt. Dass dies allerdings keineswegs bedeutet, dass „Abgeschnitten“ auch nur einen Deut an Spannung einbüßen muss, beweist der Thriller selbst am besten. Mehr noch: jener Moment, ab dem (zumindest vorläufig) auf weitere Perspektivwechsel gen Folter-Bunker verzichtet wird, ahnt nicht nur Paul, dass seine Tochter bereits tot ist ~ ebenfalls kann sich der Leser jener Befürchtung kaum entziehen und bangt ähnlich wie die literarische Figur um dessen (ebenfalls fiktive) Tochter.

Knackpunkt und großes Lob für das Autorenwerk zweifelsfrei definitiv der Aspekt, dass der Leser oftmals förmlich vergisst, dass es sich hier lediglich um ein Buch, eine erfundene Geschichte somit, handelt und es an für sich gar keinen Grund gäbe, sich derartig atemlos-mitgerissen an die Lektüre zu klammern, wie es die meisten Interessenten meiner Vermutung nach tun werden.
Keine Auflockerungsmomente erhält „Abgeschnitten“ durch die vereinzelt flappsige Art Lindas, welche immerfort dafür Sorge trägt, dem Leser gewisse Atempausen zu gönnen. Auch der kleine Seitenhieb auf andere Publikationen a la

„Das hier ist nicht der Showdown, in dem der Killer aus purer Angeberei seine Motive erläutert, um dem Helden die Zeit zu geben, damit er sich befreien kann.“
(Zitat, S. 281)

hat durchaus etwas für sich, was den Thriller umso liebenswerter macht. Besonders positiv hervorzuheben ebenfalls, dass dem Autorenduo offenkundig daran gelegen war, den Leser durch etliche vermeintliche Randinformationen nicht zu überfordern: zugute halten muss man „Abgeschnitten“ somit weiterhin, dass Paul Herzfeld an betreffender Stelle gedanklich noch einmal die wesentlichen interpersonellen Eckpfeiler zusammenfasst, um dem Leser mit aufs Boot der gefassten Schlussfolgerungen zu holen.

Obschon darüber hinaus auf S. 49 sogar ein Praktikantenwitz dahingehend erklärt wird, dass dem Leser der Begriff Defibrillator „übersetzt“ wird, geschieht dies auf eine vorbildliche Art, die nicht einmal ansatzweise die Lektüre wirken lässt, als würden die Verfasser den Leser für immerzu überfordert halten. Vielmehr lässt sich auf eben jene Weise durchaus schlussfolgern, dass „Abgeschnitten“ bezüglich der involvierten Materie für Laien wie auch Experten geeignet ist ~ nicht zuletzt aufgrund dessen, dass Michael Tsokos (wie in seinen Werken üblich) erneut auf obskure Legenden rund um die pathologische Arbeit eingeht und manches Detailwissen in den Leser verankern wird.
Ob dieser manche Feinheiten hingegen überhaupt so genau wissen wollte, sei einmal dahingestellt ~ vergessen wird meines Empfindens nach nach der Lektüre kaum jemand können, welche Auswirkungen es hat, wenn man tagelang daran gehindert wird, die Augen auch nur zum Blinzeln zu schließen oder gar den Aspekt, dass es eben nicht reicht, seinem Opfer alle Zähne zu ziehen, um die Identifikation unmöglich zu machen.

Die vermeintliche Moral, vielmehr die Aussage, die hinter dem Thriller steht, lässt sich mit Sicherheit bereits auf den Buchseiten erkennen, die der Geschichte vorangestellt wurden. Hier platzierten die Autoren zwei Zeitungsausschnitte, die über die unterschiedlichen Strafmaße bezüglich eines sexuellen Missbrauchs in 282 Fällen (2 Jahre Haft auf Bewährung) respektive eines Börsenbetrugs (5 1/2 Jahre Haft ohne Bewährung) Aufschluss geben. Ein altbekanntes Thema, über dessen Debatte kaum einer je müde zu werden scheint, lässt sich zugleich jedoch keine Institution darauf ein, endgültig etwas an dieser Gesetzgebung zu ändern.

Ohne das ich allzu viel von der Handlung an sich vorwegnehmen mag, geht „Abgeschnitten“ hierbei noch einen Schritt weiter, stellt sich dem Leser zwischen den Zeilen zwangsläufig über kurz oder lang die Frage, ob gewisse Taten den Tot des Täters nach sich ziehen sollten.
Ein Umstand, der sich nicht nur meiner persönlichen Meinung nach zweiseitig gestaltet, während ich für mich selbst zu der (zweifellos umstrittenen und angreifbaren) Auffassung gelangt bin, dass Rache nie eine Lösung darstellen kann oder sollte.

Gelinde gesagt stellt ein jeder, ohne lange darüber nachzudenken, bezüglich seines defekten PCs vorab die Überlegung an, diesen reparieren zu lassen, anstatt ihn sofortig wegzuwerfen.
Warum sollte man nicht den Menschen, die selbst in der modernen Dauer-Online-Welt zu leben denken, einen ähnlichen Behandlungsversuch zu Gute kommen lassen? Sind sie weniger wert als ein PC? Und was ist mit deren Familien, Freunden, Bekannten? Wen bestraft man schlussendlich wirklich damit, wenn man an dem Täter Rache übt und / oder jenen tötet?

Fakt ist: „Abgeschnitten“ verzichtet darauf, jenes Thema erneut auszuweiten, regt lediglich die diesbezüglichen Gedankengänge des Lesers automatisch an. Einen erhobenen Zeigefinger „sucht“ man somit vergeblich. Und das ist auch gut so.
Einzig negativer Punkt für mich an dem Gesamtwerk die Wendung, die die Geschichte auf den letzten 70 Seiten nimmt, wo es für meinen Geschmack schlicht und ergreifend ein wenig „too much“ wird.

Während sämtliche Wendungen, Überraschungen und Offenbarungen zuvor dafür sorgten, dass ich mir vor Verblüffung des öfteren beinahe den Unterkiefer ausgerenkt hätte, neigen Fitzek & Tsokos zu guter Letzt dazu, den Thriller doch noch zu überladen. Der nochmalige Aufschwung hätte meines Erachtens nach nun wirklich nicht noch sein müssen, tendiert diese neuerliche Täter-Umkehrentwicklung a bisserl dazu, die Story doch noch minimal unglaubwürdig erscheinen zu lassen und obendrein in die unnötige Länge zu ziehen.
Dies jedoch lediglich als marginaler Kritikpunkt, schaffen es die tatsächlichen letzten Seiten sodann erneut, dass Ruder der Fesselungskunst wieder herumzureißen und mich als Leser mit einem Gefühl zu hinterlassen, ein Buch gelesen zu haben, für den die seitens Ciao begrenzte 5er-Besternung keinesfalls ausreicht.

==Summa summarum==

überrascht es somit kaum, dass ich das Buch nicht nur förmlich in mich aufgesogen habe, sondern darüber hinaus unabdingbar weiterempfehlen möchte. Nicht nur das Finale des Thrillers hat mich persönlich absolut umgehauen; während dieses jedoch obendrein vorab vollends zu verwirren, sodann jedoch etliche Gehirnknoten zu lösen verstand.

Die von mir getroffene Entscheidung, (zunächst) auf eine weitere Staffelbox von „Dexter“ zu verzichten und stattdessen knapp 20 Euro für dieser Meisterwerk zu investieren, ziehen keinerlei Deut Reue nach sich ~ wer hingegen allen Ernstes über (nicht nur) diesen Buchpreis moppern mag, der darf selbstredend gerne auf die potentielle Taschenbuchausgabe warten,ist mit seiner „Beschwerde“ bei mir jedoch vollends an der falschen Adresse.

31 Bewertungen, 8 Kommentare

  • nudelsuppe

    09.10.2012, 21:19 Uhr von nudelsuppe
    Bewertung: besonders wertvoll

    BW! Liebe Grüße und eine gute Woche!

  • sigrid9979

    09.10.2012, 16:46 Uhr von sigrid9979
    Bewertung: sehr hilfreich

    Netter Bericht LG Sigi.....

  • Noire

    09.10.2012, 16:04 Uhr von Noire
    Bewertung: sehr hilfreich

    Einen herrlichen Dienstag wünsche ich dir. (:

  • morla

    09.10.2012, 15:38 Uhr von morla
    Bewertung: sehr hilfreich

    lg. ^^^^^^^^^^^^^^petra

  • Bochsi

    09.10.2012, 14:59 Uhr von Bochsi
    Bewertung: besonders wertvoll

    BW der Bericht! lg Julian

  • Nina1805

    09.10.2012, 14:46 Uhr von Nina1805
    Bewertung: sehr hilfreich

    SH und eine schöne Woche!

  • sammelmeilen

    09.10.2012, 11:20 Uhr von sammelmeilen
    Bewertung: besonders wertvoll

    bw & lg sendet Antje

  • atrachte

    09.10.2012, 11:11 Uhr von atrachte
    Bewertung: sehr hilfreich

    sh. lg