Amoklauf in Erfurt Testbericht

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Erfahrungsbericht von AK_Systemkritik

Der ganz normale Wahnsinn

Pro:

-

Kontra:

-

Empfehlung:

Nein

Hier ein nicht mehr ganz aktueller Artikel, der jedoch erst jetzt veröffentlicht wird.

Auf den Amoklauf in Erfurt reagiert ganz Deutschland prompt und einhellig mit ungläubigem Entsetzen und Fassungslosigkeit. Das schlimmste Verbrechen der deutschen Nachkriegsgeschichte erschüttert die Nation noch mehr als die PISA-Studie und grosse Ratlosigkeit ob des Motivs macht sich breit. Bundespräsident und oberster Moralapostel Rau wendet sich in einer Trauerrede an die Hinterbliebenen und das Volk und spricht das kollektive Erklärungsverbot aus :
„Wir sind ratlos. Wir haben nicht für möglich gehalten, dass so etwas bei uns geschieht. Wir sollten unsere Ratlosigkeit nicht zu überspielen versuchen mit scheinbar naheliegenden Erklärungen. Wir sollten uns eingestehen: Wir verstehen diese Tat nicht.“
Die gesamte demokratische Öffentlichkeit teilt diesen Gestus der Ratlosigkeit, wohlgemerkt nur als demonstratives Entsetzen, das die Schwere der Tat eben erfordert. Und so geizen Medien und Experten nicht mit einfühlsamen und falschen Erklärungen : Der eine findet, dass das prinzipiell befürwortete Prinzip der Selektion in diesem Fall allzu hart durchgezogen wurde, der andere stellt ein Versagen von Schule und Elternhaus fest, die notwendigen Härten ein bisschen aushaltbarer zu vermitteln.Pädagogen und Medienexperten bringen wieder mal die alte Leier vom Realitätsverlust und der willenlosen Imitation von Computerspielen und Gewaltvideos und streichen damit gleich jeglichen Grund für die Tat weg. Politiker stören sich an Gesetzen, die einen leichten Zugang zu Waffen ermöglichen und beklagen sich über eine zunehmende „Ellbogen-Mentalität“.
Und bei aller verständnisvoller Ursachenforschung präsentiert die bürgerliche Öffentlichkeit die Stufenleiter des ganz normalen Wahnsinns, den sie mit Robert S teilen.

Erstens ist ihnen klar, dass die Institution Schule den Grundstein dafür legt, wie sich die Lebenschancen und –mittel später einmal auf die Leute verteilen : Sie produziert mit statistisch nachprüfbarer und auch beabsichtigter Regelmässigkeit sowohl eine Minderheit, die – mit Abitur und Studium ausgestattet – zu den Spitzenverdienern zählt, als auch eine grosse Mehrheit, die die Loser der Gesellschaft ausmachen. Das wird allerdings von Journalisten und Amokläufern per se gar nicht als Zweck genommen, über den man vielleicht mal auf ein negatives Urteil über die Schule kommen könnte. Im Gegenteil : Schule kommt immer nur vor als Chance, als Hürde im Leben, die im Prinzip jeder schaffen könne, wenn er sich nur genug bemühe. Die Methode, mit der die Unterschiede an den Leuten hergestellt werden, wird in dieser positiven Sichtweise einfach weggestrichen : Es kommt nämlich gar nicht auf die Leistung des Einzelnen an sich an, sondern es wird unter den Schülern ein Leistungsvergleich angestellt, anhand dessen die Hierarchie der Schulabschlüsse und Berufe hergestellt wird. Wenn Leistung immer nur relativ zu der der Anderen zählt, müssen notwendig immer welche scheitern, wenn andere relativ besser abschneiden. Das ist auch kein negativer Nebeneffekt einer Einrichtung, die eigentlich nur die Leute fördern will, sondern genau so beabsichtigt, und entspricht auch genau der Hierarchie der Berufe mit ihrer grossen Mehrheit an schlecht bezahltem Arbeitsvolk oder Leuten, die gar nicht gebraucht werden und einer Minderheit an Leuten, die sich „Elite“ schimpfen dürfen.
Mit einem falschen Bewusstsein über diese Normalität ausgestattet kommen die Menschen auf ein Fehlurteil über Lehrer und Schule, das derart verbreitet ist, dass es vermutlich schon jedem Schüler in den Sinn gekommen ist : Nämlich das Resultat des Schulbetriebs, dass man meist mit eher mässigen Noten und Abschlüssen dasteht, zu seinem Zweck zu erklären und damit den Lehrern die gewissermassen böse Absicht zu unterstellen, einen persönlich fertigzumachen. Das haben die aber gar nicht im Sinn : Für den Lehrer gehört es zu seinem Berufsbild, die Schüler relativ gleichgültig und unterschiedslos anhand festgegebener Lehrpläne und Notenstufen zu unterrichten und zu beurteilen. Da mag sich zwar die eine oder andere Aversion entwickeln, aber das ist es nicht, was den Lehrer primär auszeichnet.Genauso wurde auch mit Robert Steinhäuser verfahren : Er wurde anhand feststehender Regeln als leistungsmässig und moralisch (wegen gefälschter Atteste) als nicht „reif“ für die Reifeprüfung erklärt, was für das Kollegium ein alltäglicher Vorgang, für Robert allerdings ein vernichtendes Urteil darstellt: Er wird zum „Versager“ abgestempelt.Das ergeht vielen Schülern so und die Mehrheit begnügt sich damit, den Lehrern die Pest an den Hals zu wünschen oder bestenfalls mal einen Autoreifen aufzustechen.Robert allerdings wollte das negative Urteil über sich nicht auf sich sitzen lassen und somit ergibt sich nur eine Konsequenz : Rache an denen, die ihn aus seiner Sicht absichtlich kaputtgemacht haben, oder: „Die werden mich noch kennenlernen“

Zweitens wissen Amokläufer ebenso wie die „normal“ Geblieben, was angesichts solcher Drangsale nicht geboten ist : Nämlich eine grundsätzliche Kritik an Schule und Gesellschaft.Unser oberster Moralapostel Rau drückt das recht direkt aus :
„Unsere Kinder und Schüler müssen sich aneinander messen. Sie müssen lernen, Konkurrenz auszuhalten. Ohne Leistung, ohne Leistungsbereitschaft wäre jede Schule wirklichkeitsfremd.“
Das ist erstens eine schöne Auskunft über unsere „Wirklichkeit“, in der ein prinzipielles und ganz schön schädliches Gegeneinander unterstellt ist, das gefälligst „auszuhalten“ ist. Zweitens ist auch für Rau selbstverständlich, dass Leistung immer und nur als Mittel des Vergleichs in der Konkurrenz was taugt und nicht etwa ein positives Mittel für jeden ist, seine Vorhaben und Interessen durchzusetzen.
Dementsprechend richten Bürger ihr Bewusstsein darauf ein und entwickeln den Willen, sich in diesen Zuständen zu bewähren : Jeder soll sich dadurch auszeichnen, zu welchen Erfolgen im Leben er gekommen ist, an jedem selbst soll es liegen, wie gut oder schlecht er die ganzen tollen „Chancen“ im Leben wahrnimmt. Und aus den Ergebnissen dieses Wettbewerbs entnehmen Bürger ganz selbstverständlich eine Auskunft über den ureigenen Wert ihrer Person, über die Begabung, den Willen, die Leistungsfähigkeit, die halt einfach in ihnen „steckt“. Aus diesem Blickwinkel kommt die ganze Selektion an Schule und Arbeitsplatz nur noch vor als die Zuweisung eines jeden auf den gesellschaftlichen Rang, auf den er gehört.
Diese psychologisierte Moral der Konkurrenz teilen auch die „normalen“ Wortführer der Öffentlichkeit wie Johannes Rau, nur auf eins wird im Unterschied zu den „Verrückten“ schon wert gelegt : „Immer muss aber klar sein, dass die Beurteilung einer Leistung kein Urteil über eine Person ist. Kein Schüler, kein Mensch ist ein hoffnungsloser Fall.“ und ausserdem : „Jeder ist wertvoll durch das, was er ist, und nicht durch das, was er kann“.
Das Streben nach „Selbstwert“ getrennt von den konkreten Ergebnissen der (Schul)konkurrenz ist also grundsätzlich akzeptiert in unserer Gesellschaft, es wird von Eltern, Lehrern, Politikern, Psychologen etc. sogar gefördert.Man muss eben nur darauf achten, dass es sich in akzeptierten Bahnen austobt und nicht auf radikalisierte, unerlaubte Art, wie etwa im Willen, sich dadurch als Sieger auszuzeichnen, dass man den Lehrerbestand der heimischen Schule um die Hälfte reduziert. Genau so wollte Robert S nämlich zeigen, „was er ist“.

Drittens ist den verständisvollen Kommentatoren ganz klar, dass das schlimmste an den Niederlagen in der Konkurrenz nicht deren materielle Folgen sind, die man auszubaden hat, sondern das negative Urteil über die werte Person, das sich daraus ergibt. Zum Erfolg verpflichtete Zeitgenossen machen somit konsequent alle Misserfolge im Leben sich selbst zum Vorwurf und verachten sich, wenn sie nicht gut genug für das sind, worum es ihnen einzig geht : den Erfolg. Aktiv werden sie dann leichter in der Pflege ihres „lädierten Selbstwertgefühls“ als für eine Korrektur des wirklichen Misserfolgs, wofür heutzutage auch noch ein Heer von Psychotherapeuten unterstützend bereit steht. Wenig überraschend sind dann auch die radikalen Konsequenzen, wenn die „normalen“ Kompensationstouren scheitern : Der eine hält sich für einen ewigen „loser“ und hält an seinem Erfolgsmaßstab eisern fest, indem er sein untaugliches Selbst richtet : Erst neulich wurde das gebeutelte Gutenberg-Gymnasium wieder von einem Selbstmordfall erschüttert. Andere wie Robert S inszenieren einiges, um sich abnehmen zu können, dass sie – allen widrigen Umständen und ihrer realen Lage zum Trotz – zu den „winnern“ gehören und nicht zu den vielen „losern“, die sie verabscheuen. Vor diesem Hintergrund wirkt es umso absurder, dass die psychologisch geschulte Öffentlichkeit ausgerechnet einen Mangel an „Selbstbewusstein“ attestiert, der zu solchen Wahnsinnstaten führen soll, wo das doch gerade der einzige Maßstab ist, der solche Leute noch antreibt.

Und viertens teilt die bestürzte Öffentlichkeit mit dem Amokschützen ein Bedürfnis, das nur Leute entwickeln, die ganz auf die Pflege ihres Selbstbildes als ausgezeichnete Individuen aus sind : Das nach Anerkennung und Ehre. Ganz verständlich findet man, dass ein Ausschluss vom Abitur eine Demütigung darstellt, die man vor Eltern und Freunden lieber verheimlicht. Kein Mensch wäre auf die Idee gekommen, dem Schulversager trotz allem noch eine Chance aufs Abitur einzuräumen, aber seine gekränkte Ehre hätte schon wiederhergestellt gehört, dabei haben Schule und Elternhaus ganz klar versagt. Dieses Verständnis für den Täter kommt nicht von ungefähr, schliesslich ist auch in den allerbiedersten Kreisen die Sitte verbreitet, durch gelungene Selbstdarstellung ganz abstrakter Anerkennung von Gott und der Welt hinterherzuhecheln, ohne einen Gedanken darauf zu verschwenden, was einem das konkret bringt im Leben. Diese Tour hatte auch der Amokläufer drauf, darum die perfekte Planung und gelungene Inszenierung der Tat, darum die Kopie des „coolen“ Counterstrike-Outfits, darum die genaue Auswahl der Opfer. Er wollte der Welt beweisen, dass er zu den Siegern gehört. Dumm nur für ihn, dass er seinen Sieg über die, die ihm sein eingebildetes Recht auf Erfolg geraubt haben, nicht allzu lange geniessen konnte. Aber für jemanden, der alle materiellen Berechnungen der unbedingten Sucht nach Selbstwert und Anerkennung opfert, ist auch ein Selbstmord als Abschluss nur konsequent. Und das ist auch schon das einzige, was ihn vom normalen Anhänger des Selbstbewusstseinskults unterscheidet : Der reisst sich im Allgemeinen zusammen und bleibt zumindest soweit Realist, dass sein Leben nicht ganz den Bach runter geht. Ausgetobt wird sich dann auf anderen Feldern der Ehre: Sei es das schnellste Auto, das coolste Outfit, das erfolgreichste Mobbing, der härteste Alkoholkonsum oder die anständigste Famile – das Material der Selbstdarstellung ist ziemlich gleichgültig. Und dass bei all dem, was in unserer feinen Gesellschaft gang und gäbe ist, auch mal ein Amoklauf rauskommt, dürfte distanzierte Betrachter eigentlich nicht verwundern – aber solche sind halt nur schwer zu finden.

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