Erfahrungsbericht von Indigo
Schule und Jugend - Eine notwendige Annäherung
Pro:
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Kontra:
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Empfehlung:
Nein
Will man Schule und Jugend diskutieren, ohne junge Menschen bzw. Schülerinnen und Schüler an der Diskussion zu beteiligen, so muß zumindest ausdrücklich betont werden, dass hier eine Diskussion aus der "Vogelperspektive" geführt wird.
Die Diskussionsinhalte haben demnach auch andere Verwertungskriterien; es geht nicht um Verständigung zwischen Entscheidungsträgern und professionell Beteiligten auf der einen Seite, und jungen Menschen und Schülerschaft auf der anderen Seite.
Vielmehr möchte dieser Aufsatz eine Anregung geben, eine Reflexion oder auch eine Kritik und Provokation der beteiligten Institutionen (Schule, Verwaltung) und der darin Beschäftigten Menschen forcieren.
Der Verfasser betont zudem ausdrücklich, daß vor diesem Hintergrund die sprachliche Form bewußt gewählt wurde und die Argumentation aus einer sozialpädagogischen Perspektive geführt wird.
Gesellschaftliche Implikationen
In der bundesrepublikanischen Gesellschaft haben sich insbesondere nach der Wiedervereinigung Probleme ergeben, die im folgenden Diskurs unter dem Aspekt sozialer Ungleichheiten verhandelt werden sollen.
Soziale Ungleichheiten spielen hier nicht nur im Ost-West-Verhältnis eine herausragende Rolle, sondern in der Binnendifferenzierung der formal vereinheitlichten Länder sind die Erfahrungen von Ungleichheit, von vorenthaltenen Lebensmöglichkeiten , ebenso spürbar.
Nicht nur der verfügbare Reichtum in der Konsumgesellschaft wächst, sondern auch der als allgemeine Norm suggerierte Standard erzeugt berechtigten Neid. In den neuen Bundesländern kommt die ENT-TÄUSCHUNG hinzu, die logische Konsequenz einer breit angelegten Täuschung, die sich über Jahrzehnte manifestiert hat und in der Wiedervereinigung neben ihren Brüchen gleichzeitig fortgesetzt wurde.
Für junge Menschen, diejenigen also, die noch nach einem Bild der gesellschaftlichen Realität suchen, die ihre Rolle noch finden müssen, wirken diese Differenzierungen besonders provozierend. Ausdrucksform dieser Situation sind Haß, Protest oder Rückzug ( z.B. Sucht oder andere Isolation ). Wissenschaftliche Untersuchungen der Universität Jena bestätigen in diesem Zusammenhang, daß die o.g. Ausdrucksformen in Thüringen keine schichtspezifischen Ursachen haben, sondern benachteiligte soziale Milieus sogar signifikant unterrepräsentiert sind ( vgl. Dialog, Dez. 94 ).
Wenn auf der subjektiven Ebene Benachteiligung hinsichtlich Ausbildungsmöglichkeiten und somit auch Berufschancen nachvollziehbar werden, so etabliert sich neben Konkurrenz und Herausforderung auch das Bedrohungsmoment. Als ein objektives Ergebnis kennen wir Rassismus und Extremismus.
Diese gesellschaftlichen Rahmenbedingungen müssen für unsere spezifische Situation in Deutschland aber auch mit dem Tatbestand vermittelt werden, daß eine zunehmende Auflösung traditioneller Lebensentwürfe und eine Pluralisierung und Individualisierung von Lebensverhältnissen nicht mehr zu revidieren ist.
Einerseits kann nur noch durch Rechtsnormen ( KJHG ) definiert werden, was überhaupt Jugend ist, andererseits werden traditionelle normative Instanzen wie Eltern oder Schule fragwürdig und unglaubwürdig. So verfügen Kinder in der modernen Gesellschaft immer häufiger über mehrere Eltern.
Junge Menschen sind aufgefordert, Lebenswege selbst zu wählen und zu legitimieren. Sie sind die Regisseure ihrer eigenen Verhältnisse, was neben Verunsicherung und Überforderung gleichzeitig auch Kompetenz und Selbstbewußtsein produziert.
Schule:
Der Begriff Schule ist nicht eindeutig zu fassen. Schule ist ein Konglomerat sehr differenter Institutionen: Grundschule, Hauptschule, Berufsschule, Sonderschule, Realschule, Gymnasium, Internatsschule und Gesamtschule sind Sozialisationsinstanzen, die Menschen mit unterschiedlichen Voraussetzungen durchlaufen.
Hier geht es grundsätzlich um den Doppelaspekt von Bildung und Ausbildung.
Gleiches gilt für Fachschulen, Fachhochschulen, Gesamthochschulen und Universitäten. Daneben kennen wir aber auch noch Musikschulen, Ballettschulen, Fahrschulen und andere Orte, in denen sich Menschen in einer pädagogischen Situation befinden.
Kurzum, es gibt nicht die Schule, über die geredet werden kann, da die Institutionen sehr unterschiedlich sind und auch gleiche Institutionen nur sehr differenziert betrachtet werden können.
Hier bilden spezifisches Arbeitsklima, spezifische Arbeitskultur, pädagogische Kompetenzen und individuelle Motivation neben differenzierten Rahmenbedingungen für die Verwertungskriterien der Abschlüsse die wesentlichen Unterscheidungsmerkmale.
Auch vor dem Hintergrund der hier dargestellten Vielgestaltigkeit bietet sich die Diskussionsperspektive von außen an, da gewagte Pauschalisierungen unausweichlich sind, andererseits jedoch aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln verwertet werden können.
Trotz dieser Eingrenzungen ergeben sich strukturelle Differenzierungen, die nicht verschwiegen werden dürfen. Die Erfahrungen des Verfassers rekurrieren auf die eigene Sozialisation in der ehemaligen BRD und die institutionelle Funktion als Schulträger einer Gesamtschule im Land Brandenburg.
In den alten Bundesländern ist Schule trotz aller Vielgestaltigkeit weithin einheitlich und nachvollziehbar strukturiert. Die öffentliche Akzeptanz ist - auch unter Berücksichtigung der Glaubwürdigkeitskrise von Schülerinnen und Schülern - vorwiegend auf eine feste Tradition zurückzuführen. Das in den siebziger Jahren entwickelte Modell einer Gesamtschule wird jedoch bis in die Gegenwart mit Vorbehalten konfrontiert.
In den neuen Bundesländern ist mit Traditionen nicht viel anzufangen, sie sind unübersichtlich und nur wenig respektiert. So ist es aus einer konservativen Perspektive nicht verwunderlich, daß nach dem Anschluß der DDR die Kompatibilität traditionell etablierter Bildungskonzepte eher unterstützt wird als der immer noch experimentelle Entwurf eines Gesamtschulmodells.
Umso erstaunlicher wirkt da die politische Strategie, welche zumindest verbalakrobatisch die Sekundarschule als Einheitsschule favourisiert hat. Wie das Kind nun perspektivisch genannt wird, ist für unsere Diskussion erst einmal unerheblich. Die offensive Herangehensweise berücksichtigt sehr wohl die geographischen Gegebenheiten und produziert Sensibilität und Verantwortung in der Breite.
Kommen wir zur Innenbetrachtung von Schule. Wissen und Lernstoff beanspruchen Relevanz, was in der praktischen Situation nicht nur von Schülern als Stoffhuberei interpretiert wird. Neugier wird marginalisiert, wo doch jedem Pädagogen klar sein müßte, daß sich Erkenntnis ohne Interesse nicht einmal denken läßt.
Auch in Gesamtschulen steht das tradierte Regelwerk des Vortrags im Vordergrund, dem folgt dann das beliebte Frage-Antwort-Spiel. Aktivitäten der Schüler gelten vielfach als ineffektiv. Der Grund sind selten die Schüler, sondern vielmehr die defizitäre Vorbereitung und Anleitung.
In der Schule wird aneignendes Wissen und soziales Lernen marginalisiert und gewinnt genau deswegen allenfalls vom Rand her einen Zugang in den Lernort Schule. Was zählt, ist intellektuelles Wissen und Können auf der individuellen Ebene. Gruppengefüge und allgemeine Bedürfnisse sind Randwerk.
Das Ritual der Benotung und der Beurteilung bestimmt den formalen Schulablauf. Wenn Pädagogen die Notwendigkeit der Kontrolle und Disziplinierung vertreten, müssen wir uns auf der anderen Seite nicht wundern, wenn Eltern von Kindern der ersten Klasse mehrheitlich die Einführung von Notengebung nachdrücklich einfordern.
Das kleine Einmaleins des Pädagogen weist die Notengebung grundsätzlich als Produzent von Konkurrenz, Rivalität und dann auch Selbstzweifel aus. Soziale Kompetenzen wie Kooperation und Emanzipation werden nicht nur degradiert, sondern vielfach sogar sanktioniert. Treten in der Folge Schwierigkeiten auf, so werden diese gern in die Familien delegiert bzw. dem Individuum selbst zugeschrieben. Die Alternative zwischen Schulversager und versagender Schule avanciert zum Denkverbot in den Köpfen aller Beteiligten. Das aktuelle Beispiel aus Erfurt und die anschließende öffentliche Diskussion verdeutlichen das Dilemma.
Aus sozialpädagogischer Sicht ist in diesem Zusammenhang z.B. die Frage relevant, wie es unter diesen Bedingungen wohl Eltern geht, die ein sogenanntes schwieriges Kind haben. Häufig müssen sie sich dann auch noch mit den Problemen des Kindes identifizieren und als Nichtfachmenschen in ein kommunikatives Setting begeben, welches keineswegs herrschaftsfrei gestaltet ist. Stigmatisierung und Etikettierung stehen in derartigen Konstellationen auf der Tagesordnung.
Insgesamt erscheint Schule gegenwärtig als eine Institution, die Schwierigkeiten hat, ihrem Bildungsauftrag gerecht zu werden, die ihren Erziehungsauftrag weitgehend nicht zur Kenntnis nimmt und damit insgesamt die große Chance verspielt innovative Elemente zu etablieren. Die Verknüpfung von Leben, Erfahren und Lernen kann nicht gelingen, wenn die Institution die Lebenswelt ihrer Schülerinnen und Schüler als Problem interpretiert und die interinstitutionelle pädagogische Kollegialität defizitär ist.
Nun soll hier nicht der Eindruck erweckt werden, daß Schule nur aus Verwaltung und Lehrkörper besteht. Selbstverständlich gehören auch Schülerinnen und Schüler dazu, die vieles von dem, was sie sehen, wissen und realisieren könnten, eben nicht praktizieren. Die Motive dazu können mit Arbeitszwängen ebenso begründet werden wie mit Enttäuschung, Phantasielosigkeit, Genügsamkeit oder Feigheit. Weiterhin haben auch Schüler ihre Schwierigkeiten mit Solidarität, Kooperation und Kollegialität. In sozialpädagogischen Zusammenhängen wird diese Diskussion schon seit Jahrzehnten exzessiv geführt, ohne konkrete Lösungsansätze formuliert zu haben. Schulsozialarbeit wurde ebenso auf der Angebotspalette transportiert wie die Reduzierung von Klassenfrequenzen.
Exemplarisch läßt sich daran vorführen, daß auf hochkomplexe soziale Problemstellung in der modernen Gesellschaft regelmäßig mit Programmen oder Personalressourcen reagiert wird. Dem Verfasser ist durchaus geläufig, daß beide Ebenen der Kritik eine Abwehrfunktion provozieren können. Die Kritik an Schule darf jedoch keineswegs durch die Gegenkritik an Schülerinnen und Schülern relativiert bzw. sogar aufgehoben werden.
Wenn der Versuch einer Annäherung nicht zum plakativen Anliegen verkommen soll, so erhält die kritische Darstellung ihre Legitimation dadurch, daß durch die angesprochene Differenz von Gemeinsamkeit und Unterschied, von Betroffenheit und Projektion gerade durch die gewählte Herangehensweise besonders deutlich und klar wird.
Jugend:
Wenn dem vorhergehenden Abschnitt eine einseitige Argumentation zuungunsten der Schule durchaus eingestanden wird, so wird für die folgenden Abhandlung im Vorfeld eingeräumt, daß sich diese Argumentationslinie noch verstärken wird.
Die Situation von Jugendlichen bzw. Heranwachsenden in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation ist determiniert durch die Pluralisierung von Lebenslagen und der Individualisierung von Lebensverhältnissen. Diese beiden Aspekte belegen gleichsam die Gegenläufigkeit der Entwicklung. Mit anderen Worten: die Relevanz gesellschaftlicher Vorgaben für den jeweiligen Lebensentwurf korrespondiert mit der Anzahl von individuell verfügbaren Möglichkeiten. Genau an dieser Schnittfläche sind soziale Ungleichheiten zu lokalisieren. Vielfach werden junge Menschen mit Normativen konfrontiert, die erstens für sie gar nicht zutreffen und, zweitens, von ihnen nicht eingehalten werden können, da die individuellen Voraussetzungen nicht vorhanden sind.
Sich in dieser Lebensphase eine Orientierung zu erarbeiten, ist für die meisten Jugendlichen heute in unterschiedlicher Intensität individuell, schwierig und aufwendig. Hinsichtlich sozialer Ungleichheiten lassen sich weiterhin weder Klassenlagen noch soziale Schichten identifizieren. Jugendliche leben in hochdifferenzierten sozialen Milieus wie Familie, Jugendszene, Schule, Ausbildung oder Arbeit, wobei sich alle genannten Konstrukte mehr und mehr öffnen und gleichzeitig unsicherer werden. Wenn Jugendliche Szene, Schule e.t.c. selbständig erfahren können, d.h., daß sie wählen können, was sie wählen wollen, dann geraten andere Institutionen und Erwachsene vielfach in Verwunderung über das hohe Engagement.
Im Bereich der sozialen Dienstleistung wird JUGEND durch JUGENDHILFE abgedeckt. Zur Verdeutlichung der Kritik soll der Begriff des Helfens im Kontext von Jugend aus sozialpädagogischer Sicht kurz näher bestimmt werden. Unter Helfen wird in der modernen Gesellschaft ein Beitrag zur Befriedigung eines Bedürfnisses eines anderen Menschen verstanden. Helfen in diesem Sinne kann also nur zustande kommen, wenn und soweit es gegenseitig erwartet wird. Ob es im Einzelfall Hilfe für Jugendliche ist, kann also im Sinne dieser Definition nur durch die Jugendlichen selbst festgelegt werden.
Hilfsangebote in vorgefertigter Form unterstellen einerseits eine Hilfsbedürftigkeit, andererseits gehen sie vielfach an den konkreten Bedürfnislagen der Adressaten meterweit vorbei. Darüber hinaus sind Hilfeangebote nicht selten der Legitimation des Anbieters geschuldet.
Wenn Jugendhilfeprogramme oder Jugendförderrichtlinien aufgelegt werden, so liegt diesen vielfach das Argument zugrunde, daß die Lebenswelt der Jugendlichen sehr genau analysiert und beobachtet worden sei.
Beispielsweise wurde der 9. Jugendbericht 1995 von der Bundesregierung vorgestellt. Hier hieß für die neuen Bundesländer die Kernausage des zuständigen Ministeriums, daß die meisten Jugendlichen die sogenannte Wiedervereinigung gut verarbeitet haben, ihre Identifizierungsprobleme und Orientierungssuche im Griff haben und nur eine kleine Minderheit unter diesen Rahmenbedingungen Schwierigkeiten hat.
Im 8. Jugendbericht aus dem Jahre 1990 war das neue KJHG Repräsentant und Hoffnungsträger einer sich abzeichnenden, weiterführenden und offensiven Jugendhilfe. Dieses Gesetz ist jedoch in vielen Bereichen eher eine Anregung oder Strukturvorgabe mit empfehlendem Charakter für die Praxis. Die notwendige sozialpolitische und fachöffentliche Diskussion, die die gesetzlichen Vorgaben konkretisiert und praktisch werden läßt ist bis heute defizitär geblieben und, wie die aktuellen Statements belegen, gar nicht so sehr gewünscht.
Die kritische Einschätzung hierzu lautet: die Erwachsenen beobachten die Jugend, die Jugend beobachtet die Welt und wie die Erwachsenen sie beobachten. Problematisch ist zudem, daß Erwachsene vielfach verdrängen, daß sie in ihrer Beobachtung beobachtet werden.
Jugendliche bzw. Heranwachsende konstituieren eine Jugendkultur, die mit Eigenwilligkeit und Arbeitsintensität zur Gestaltung von Gegenwärtigkeit des Lebensalltags beschrieben werden kann. Hier sind Expressivität und Authentizität zu beobachten, die gesamtgesellschaftlich wertvoll sind - auch für die Zukunft.
Glücklicherweise hat Jugendarbeit in den alten Bundesländern seit je keine ausgewiesene Sanktions- oder Gratifikationsmechanismen entwickelt, sondern mußte für ihr Angebot werben und gleichzeitig versuchen, Jugendliche zu begeistern, sie zu fesseln und zu motivieren. Jugendarbeit konkurriert mit den Pflichtinstanzen wie Familie, Schule und Arbeit, aber ebenso mit Medien und anderen kommerziellen Offerten. In diesem Kontext hat sich Jugendarbeit qualifiziert, aber nur weil sie nicht ersetzen, sondern ergänzen wollte. Sicherlich war der Qualifizierungsmarathon steinig und mit vielen Niederlagen verbunden. In der ehemaligen DDR hingegen wären die letzten drei Gedanken ideologisch interpretiert und umgekehrt formuliert worden.
In der gegenwärtigen Situation ist aus der Perspektive der Jugendlichen gegenüber den Werbestrategien der Angebotspalette ein gesundes Mißtrauen geradezu zu empfehlen. Nicht umsonst habe ich in einem anderen Zusammenhang darauf hingewiesen, daß es für eine große Zahl von Jugendlichen lukrativer ist, an einer Bushaltestelle Bier zu trinken als im Jugendfreizeitheim mit professioneller Sozialpädagogik konfrontiert zu werden. Insbesondere Angebote der öffentlichen Träger sind mit Vorbehalten besetzt, zu deren Abbau die Beweislast eindeutig bei den öffentlichen Trägern liegt.
Jugend und Schule
Schule ist für Jugendliche eine wesentliche Sozialisationsinstanz. Ging man früher davon aus, daß die Sozialisationsbedingungen die Determinanten jeder Entwicklung sind, etwa nach dem Motto, daß Sein Bewußtsein impliziert, so räumt die sozialwissenschaftliche Diskussion mittlerweile ein, daß eine Wechselwirkung von Individuum und Umwelt stattfindet. Jede individuelle biographische Situation verlangt eine produktive selbständige Bewältigung.
Diese selbständige Bewältigung korrespondiert mit stark veränderten Familienstrukturen, mit neuen Erziehungseinstellungen und partnerschaftlichen Beziehungen zwischen Eltern und Jugendlichen. Die Institution Schule hat auf diesen Paradigmenwechsel bisher nur unzureichend reagiert. Der alte lateinische Spruch "non scholae, sed vitae discimus" hat in sofern Bestand, daß das Leben die eigentlichen Verwertungskriterien für Bildung und Ausbildung darstellt. Neu ist in diesem Kontext die Auffassung, daß das Leben auch schon während der Schule stattfindet. Andererseits lernt man natürlich genauso wenig für die Schule wie man für eine Krankenhaus gesund wird.
Dennoch empfiehlt es sich Schule und Leben als Differenz zu verhandeln, da nur unter dieser Voraussetzungen Reflexionschancen aus beiden Perspektiven etabliert werden können.
Wählt man für dieses Theoriemanöver eine exponierte Beobachtungsposition, so wird transparent, daß die Vermittlung zwischen Schule und Leben (-swelt) eine soziale Dimension hat, die als Kommunikation bezeichnet werden kann. Kommunikation verändert regelmäßig Psyche und Körper beteiligter Individuen und Gruppen insofern, als diese von dieser Kommunikation auf eine Art und Weise irritiert werden, die sie zur Selbstveränderung anregt.
Schule selbst ist ebenfalls eine Kommunikation, die entsprechend ihrer Funktionsbestimmung auf Bildung und Ausbildung abstellt. Schule ist Kommunikation, die über Sachverhalte informiert, die mitteilt, daß dieser Sachverhalt für das Leben eine Relevanz hat, und verständlich machen sollte, daß zwischen dem Sachverhalt selbst und seiner Bedeutung nicht etwa ein kausal verläßlicher, sondern ein höchst kontingenter Zusammenhang besteht.
Schule formuliert dieses Vorhaben ( Kommunikation ) regelmäßig für den Lebensabschnitt nach der Schulzeit, indem sie für das vermittelte Wissen Anschlußmöglichkeiten im späteren Leben in Aussicht stellt. Die Verwertungsabsichten von Schülern sind in der Regel aus verschiedenen Gründen kurzfristiger angelegt.
So erreichen Jugendliche heute in vielen lebensweltlichen Bezügen viel eher Selbständigkeit als noch vor wenigen Jahren. Jugendliche müssen, dürfen und wollen ihre lebensweltlichen Angelegenheiten zudem selbständig regeln. Schule hingegen ist strukturell schon so angelegt, daß die Botschaft im Raum schwingt, die Jugendlichen seien aktuell gerade dazu nicht in der Lage.
Schule übt auch Aufsicht aus, die Eltern gar nicht mehr wahrnehmen. Dieser Umstand ist jedoch nicht den Lehrern geschuldet, sondern vielmehr den rechtlichen Rahmenbedingungen, die den Schulalltag strukturieren.
Unter dem Aspekt sozialer Ungleichheiten sind diese neuen Freiheiten eng mit neuen Zumutungen und Überforderungen verknüpft. Im vorausgegangenen wurde schon deutlich formuliert, daß Freiheit nur dann ein Gütekriterium abbildet, wenn die Anzahl der Nutzungsalternativen subjektiv größer als eins interpretiert wird.
Lehrer und auch Eltern reduzieren ihr Interesse vielfach auf die äußere Erscheinungsebene dieser Selbständigkeit im Alltag: wenn sich das Kind im Straßenverkehr sicher fühlt, wenn gute Noten erzielt werden, dann ist die bisherige Sozialisation als gelungen zu verstehen.
Neben dieser funktionalen Variante hat Selbständigkeit aber immer auch eine produktive Seite. Produktiv meint in diesem Kontext eigene Urteilsbildung der Jugendlichen, eigene Initiative und Engagement, also Formen die nicht affirmativen Charakter haben.
Erst ein Budget von relativer Unabhängigkeit gegenüber aktuellen äußeren Einflüssen wie Schule, Politik oder Alltag dokumentiert produktive Selbständigkeit. Eltern, Lehrer und Administration sollten sich vor diesem Hintergrund nicht länger darüber wundern, daß sich Jugendliche und Heranwachsende natürlich auch von denen emanzipieren, die den sinnlosen Versuch unternehmen Emanzipation intellektuell zu vermitteln.
Wird der Anpassungsdruck durch Schulalltag für Jugendliche zu groß, so entwickeln sie sehr häufig eine Fassade erfolgreichen Verhaltens, hinter der sich nur ein schwaches Selbst konstituieren kann. Wenn dann diese in der Situation noch stabilisierenden Faktoren wegfallen kommt es zu vorübergehender oder gar anhaltender Desorientierung.
Für die Situation in Ostdeutschland muss Schülerinnen und Schülern die Frage beantwortet werden, ob das, was richtig und gut war, nun falsch und schlecht ist. Wenn ja, dann haben Lehrerinnen und Lehrer Legitimationsprobleme. Wenn nein, dann entsteht erheblicher Erklärungsbedarf. Schlimmstenfalls bleibt für die Schülerinnen und Schüler die Antwort unbearbeitet offen. In der Folge werden so Denkverbote vermittelt, die die Jugendlichen subjektiv gar nicht haben.
Festzuhalten bleibt, daß die Diskussion apriori nicht den Anspruch erhoben hat, Lösungsrezepte zu formulieren, sondern die Kritik zur Methode zu erheben. Deutlich wurde sicherlich, daß jegliche Veränderung nur über Kommunikation zu erreichen ist. Lehrer sollten berücksichtigen, daß Kommunikation mit Schülern hierarchisch strukturiert ist, und von diesen nicht verwechselt wird. Jugendliche haben andere Sprachformen und Interaktionsvarianten, die für Erwachsene sogar fremd sind.
Darüber hinaus informiert Schule auch über Sachverhalte, wo Schüler nachweislich einen Informationsvorsprung haben ( Thema "Drogen" ), teilt eine Relevanz mit, die Schüler wesentlich früher erkannt haben ( Thema "Informatik" ) und versucht sich verständlich zu machen, wo Verständnis von vornherein vorhanden ist ( Thema "Aufklärung" ).
Schule unterstellt jedoch systematisch, daß Motivation extrinsisch wie intrinsisch vermittelbar ist und daß die Voraussetzung für das erkenntnisleitende Interesse Nicht-Wissen ist, da Interesse für das, was jemand sich schon über Kommunikation angeeignet hat, regelmäßig gering ist. Das Selbstverständnis jeder Pädagogik impliziert zudem, daß sie sich die Erfolge ihrer Tätigkeit auch selbst zurechnen möchte.
Und genau darin liegt natürlich ein Widerspruch begründet. Wenn wirklich die Motivation der Beteiligten Personen ( Schüler; Lehrer ) das sine qua non darstellen würde, dann wäre die Funktionsbestimmung von Schule nur solange realistisch einzulösen, wie die Motivation des jeweiligen Gegenübers unklar bleibt.
Wenn aus der Vogelperspektive deutlich wird, daß hier verschiedene Personengruppen, nämlich Lehrer, Schüler und Eltern, eigentlich die gleichen Probleme bearbeiten, so ist der inhaltliche Schnittpunkt dort zu suchen, wo alle Beteiligten sich mit ihren lebensweltlichen Bezügen als Subjekt beteiligen können.
Wenn es nicht gelingt, daß sich Schule als verbindliche Sozialisationsinstanz für alle Schülerinnen und Schüler neben der Durchsetzung von Grenzen ( Werten ), die Einsetzung bzw. Konstitution von Grenzen ( Werten ) vorstellen kann, dann ist der Strukturwert für die Entwicklung bzw. die weitere Sozialisation aller Beteiligten stark beschnitten.
Sozialisation wird hier verstanden als lebenslanger Lernprozess, der inhaltlich das Lernen von Werten, Normen und auch Grenzen meint, wobei der Lernvorgang nicht nur in der Übernahme vorgegebener Norm-, Wert- und Grenzbestimmungen besteht, sondern vielmehr intendiert, daß in diskursiver Verständigung zwischen allen Beteiligten ( Lehrer, Schüler und Eltern ) bestehende Normative reformiert und neu konstituiert werden.
40 Bewertungen, 7 Kommentare
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05.06.2002, 16:09 Uhr von Archmage
Bewertung: sehr hilfreichfast schon zu lang, mein reservierter RAM ist auf "Pre-Internet" zurückgefallen, und das nur beim lesen... aber stimme dir zu... Gruß Archmage
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30.05.2002, 16:30 Uhr von fuchseline
Bewertung: sehr hilfreichich stimme dir zu!Wirklich super Beitrag,super ausführlich!!!!!Gruß
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29.05.2002, 11:58 Uhr von blauersafir
Bewertung: sehr hilfreichhättest du nicht noch mehr schreiben können, aber sehr gut meinung! stimme dir zu! Gruss blauersafir
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28.05.2002, 09:45 Uhr von Ingwer
Bewertung: sehr hilfreichGuter und differenziert dargestellter Bericht auf gehobenem Niveau!
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24.05.2002, 21:53 Uhr von Andreas68
Bewertung: sehr hilfreichPlaton schon beschrieb die dummen Alten, die sich zu den Jungen setzen, deren Sprache nachzuäffen versuchen u. von ihnen zu lernen meinen, statt ihnen Werte zu vermitteln, nach denen sie sich sehnen, u. Grenzen aufzuzeigen, innerhalb derer sie sich fr
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23.05.2002, 23:48 Uhr von SusanneRehbein
Bewertung: weniger hilfreichDu magst ja mit dem was Du sagst recht haben, aber in der Kategorie die beste Bewertung abzugeben ist schon etwas unpassend!
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23.05.2002, 10:52 Uhr von LaMagra
Bewertung: sehr hilfreichguter Bericht
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