Kurzgeschichten Testbericht

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Erfahrungsbericht von Phoenixe

Carolin - meine (lange) Kurzgeschichte

Pro:

ein Hoch auf die Menschlichkeit

Kontra:

*-*

Empfehlung:

Nein

Da saß sie. In der letzten Schulbank. Eigentlich war ihr Erscheinungsbild eher unauffällig mit sorgfältig frisiertem schwarzen Haar, einer Kinderbrille auf der Nase, einem eher altmodischen Strickpullover. Die Hose konnte man nicht sehen, da sie ja saß. Ruhig sah sie die Lehrerin an, die sie gerade gefragt hatte, ob sie sich nicht am Unterricht beteiligen möchte. Sie scharrte mit den Füßen, schaute beiläufig auf ihren geschlossenen Schulranzen und schüttelte dann leicht verschmitzt lächelnd den Kopf. Die Lehrerin, Frau Hoppe brummelte etwas und setzte dann den Unterrichtsstoff fort.
Später, im Lehrerzimmer sprach Frau Hoppe mit einer Kollegin. „Du, Ursula, Du hast doch die Carolin Simon in Mathe. Was für einen Eindruck hast Du denn von dem Mädel?“ Ursula Hecht überlegte kurz und meinte dann: „ Ach ja, die Carolin, das ist doch die Kleine, die vor 2 Monaten zu uns kam. Eigentlich ist sie unauffällig, sie hat immer ihre Hausaufgaben, schreibt gute Noten – nur – ihre mündliche Mitarbeit lässt zu wünschen übrig“. Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: „ Genau genommen beteiligt sie sich überhaupt nicht am Klassengeschehen. Ich habe sogar den Eindruck, dass sie von den Klassenkameraden gemieden wird. In letzter Zeit ist diese Verweigerungshaltung eher schlimmer geworden...“ Frau Hecht sinierte vor sich hin und versuchte auf den Grund von Carolins Verhalten zu kommen. Frau Hoppe meinte, als sie ihre Beobachtungen bestätigt hörte: „Ich werde Carolins Mutter kontaktieren. So geht das nicht weiter. Da stimmt doch etwas nicht.“

In der großen Pause rief Frau Hoppe bei Carolins Mutter an. „Guten Tag Frau Simon. Hier ist Frau Hoppe, Carolins Klassenlehrerin...,“ Frau Hoppe legte eine Pause ein, aber es kam keine Begrüßung von Frau Simon. Etwas verwirrt meinte Frau Hoppe: „Frau Simon, ich rufe Sie an, weil ich mir Gedanken über Ihre Tochter mache. Von ihren schriftlichen Leistungen her bin ich zufrieden, aber sie beteiligt sich in keinster Weise am Unterricht. Sie verweigert regelrecht die Mitarbeit. Ich frage mich, woran das liegen könnte und wollte mir etwas Klarheit durch ein Gespräch mit Ihnen verschaffen.“ Wieder kam kein Ton von Frau Simon. „Frau Simon, sind Sie noch dran?“ fragte Frau Hoppe, „Wollen sie dazu gar nichts sagen?“ Da hörte Frau Hoppe nur noch das Klicken in der Leitung. Das Gespräch wurde unterbrochen.
Am nächsten Tag erschien Carolin nicht zum Unterricht. Anrufe bei ihr zu Hause ergaben nichts und die Klassenkameraden konnten auch keine Auskunft über die 8-jährige Mitschülerin geben.



***


Carolin war ein ganz normales Mädchen, aus ganz normalem Hause; zumindest dachte sie das von sich selbst. Sie empfand es als normal, dass die Mutter stumm war, der Vater seinen Feierabend im heimischen Arbeitszimmer verbrachte und dass sie keine Freunde hatte. Nachmittags nach den Hausaufgaben, stromerte sie allein durch die benachbarten, verwilderten Gärten, baute sich ein Baumhaus und brachte abends ihre Fundstücke mit nach Hause. Für Carolin war die Welt in Ordnung. Sie nahm ihre Umgebung mit klugen Augen und einem für ihr Alter überdurchschnittlichen Verständnis wahr.
Sie wohnte jetzt mit ihren Eltern seit 3 Monaten in dem schönen neuen Haus, das in einem neuerschlossenen Gebiet oberhalb der Stadt stand. Wie die Stadt hieß, hatte Carolin schon wieder vergessen. Die neue Schule, die sie besuchen musste, jagte ihr etwas Angst ein. Es waren einfach zu viele neue Eindrücke zu verarbeiten. Sie wurde oft von den Mitschülern befragt, die Lehrerin löcherte sie mit Schulstoff. Gerne hätte sie die leichten Fragen beantwortet. Aber sie konnte nicht.



„Hey, Du, ja Dich mein ich!“ Carolin drehte sich nach dem Mann um, der sie angesprochen hatte.
Fragend deutete sie mit ausgestrecktem Zeigefinger auf ihre Brust und lächelte unsicher. Der große Mann mit langem Wachsmantel und dichtem Vollbart sah sie belustigt an. „Redest wohl net mit jedm, wie?“ fragte er und stützte sich dabei auf einen langen Holzknüppel. „Was machst`n hier? Hast’n Schulranzen noch um und stromerst durch die Gegend, hm?“ brummelte er. „Komm, magst mit mir die Schäf hütn gehn?“ Interessiert schaute Carolin auf und wurde jetzt erst der Umgebung gewahr, in die sie sich blindlinks begeben hatte. Ringsum sah sie Acker und Weide, teils umzäunt, teils mit tiefen Furchen durchzogen. Und überall Schafe. Sie nickte stürmisch mit leuchtenden Augen und hüpfte glucksend dem bereits vorausgegangenen Schäfer hinterher.
Auf einer kleinen Anhöhe ließen sich der Schäfer und Carolin nieder und sahen den Schafen beim Weiden zu. Der Schäfer gab seinen Hunden durch Pfiffe Anweisungen, die unverzüglich befolgt wurden. Carolin schürzte ihre Lippen und versuchte den Pfiff nachzuahmen. „Kleine Dame, das machsde aber gut,“ meinte der Schäfer mit anerkennendem Nicken, „Musst nur noch e bissl übn. Ich bin der Jupp, wie heißt Du?“ fragte er. Angestrengt versuchte Carolin ihren Namen auszusprechen: „Hooin,“ und noch einmal: „ Aaaaaaaaaoooooin...“ verzweifelt brach sie ab, warf resigniert die Arme in die Luft und versteckte danach aufschluchzend ihr Gesicht in den Händen.
Der Schäfer beobachtete das verzweifelte Sprechen des kleinen Mädchen und runzelte die zerfurchte Stirn. „Was geht’n da ab,“ dachte er bei sich, „Wieso kann die Kleine ned redn. Die is doch ganz normal un dann das.“
“Horsch, Kleine,“ sagte er, „Kannsde die Schäf nachmache?“ Verdutzt schaute Carolin mit Tränen in den Augen auf den seltsamen Mann. „Warum schickt er mich nicht weg, wie all die anderen,“ fragte sie sich. Um ihm zu gefallen, blökte sie versuchsweise wie ein Schaf und gleich noch ein paar Mal, bis einer der großen Hunde zu ihr kam. „Da schau, Kleine, der Zeuss denkt, bist’n Schaf und will Dich zur Herde treibn,“ lachte Jupp. „Oooooooooooooooiiiiiiii,“ wiederholte Carolin und dann noch mal fragend „Sooiiiss?“ „Ja genau, Zeuss heißt der. Kannst doch redn, Kleine. Komm, setz Dich dicht zu mir, wir schaun uns das Heft hier an.“ Er schlug dabei eine Illustrierte auf, die viele landwirtschaftliche Fotos enthielt. „Gehst doch in die Schule, Kleine, dann kannsde auch lesen. Da schau, was steht’n da.“ Er deutete auf die Überschrift eines Artikels. „Aaaafaaaaaaaaltunn.“ „Genau, Schafhaltung steht da. Schau mich emal an Kleine und gib mir Deine Hand,“ meinte Jupp aufmunternd. Zögernd streckte Carolin dem Schäfer ihe kleine Hand entgegen. Er nahm sie in seine große schwielige Hand und legte sie sich auf seinen Kehlkopf und wiederholte das Wort. Carolin sagte darauf „Saf altung.“ Entzückt über das spürbare Vibrieren, wenn der Schäfer sprach, legte sie ihre Hand an den eigenen Kehlkopf und machte die verschiedensten Geräusche. Jupp amüsierte sich über diese kindliche Freude und fühlte sich aufgefordert, mit dem Mädel weitere Sprachübungen durchzuführen.
Mittlerweile wurde es dunkel, die Schafe standen verteilt auf der Weide, selbst die Hunde hatten sich abgelegt. Jupp schaute Carolin forschend an und fragte: „Mussde nich langsam heim gehen, Kleine? Wo wohnsde überhaupt?“ Etwas ängstlich schüttelte sie den Kopf und deutete in eine imaginäre Richtung. Jupp hakte nach: „Mädel, weisde überhaupt, von wo Du herkommen bist?“ Wiederum schüttelte Carolin den Kopf und deutete fragend auf den Schäfer. Jupp verstand sofort, sagte aber: „Was willsde mir sagn, Kleine?“ Etwas unwillig sagte sie: „Mi Die eehn.“ „Das geht nich!“ sagte Jupp. „Deine Eltern wartn doch auf Dich. Du musst jetz heim!“
Carolin sackte innerlich zusammen, schaute noch einmal flehend auf den Schäfer und ging davon – in die entgegengesetzte Richtung, aus der sie gekommen war. „Ich will endlich sprechen lernen,“ summte es in ihrem Kopf. Bei jedem Schritt, den sie weiter ging, dröhnte der Satz dort. Sie legte ihre Hand an den Kehlkopf, ahmte erlernte Laute nach und versuchte sich dann an ihrem Vornamen, wie es ihr Jupp gezeigt hatte. „G G G Garolin....“



Auf ihrer Wanderung kam sie bei einer kleinen Waldkapelle vorbei, wo sie Unterschlupf suchte. Sie setzte sich dort auf eine blanke Holzbank, packte die Vesper aus, die ihr der Schäfer mitgab und aß. Danach klatschte sie sich die Krümel von den Händen und war ganz verwundert über das Echo. Sie klatschte immer wieder, in verschiedenen Takten und begann zu singen. Sie stampfte dazu auf dem Boden, drehte sich dabei und sang immer lauter, bis sie außer Atem war.
Als sie wieder zu Atem kam, probierte sie wieder das Sprechen. „Garolin.“ Das wiederholte sie so oft, bis es durch das Echo so klang, wie die Lehrerin sie immer rief. Sie übte alle Worte, die sie mit Jupp erlernt hatte, ahmte das Blöken der Schafe, das Hundegebell nach, bis sich das Echo schier überschlug. Irgendwann schlief sie auf der harten Holzbank ein.

Am nächsten Morgen wurde sie durch die Vögel des Waldes geweckt. Hörte sie da nicht Hundegebell?
Schnell lief sie aus der kleinen Kapelle heraus und hielt Ausschau. Sie legte die Hände um ihren Mund und rief ganz laut „Zeuuuuss!“ Als sie sich abwenden wollte, kam um die Wegbiegung der Schäferhund gerannt und dahinter stolperte der schwer atmende Schäfer. „Kleine, Kleine, was machsdn Du hier. Alte Männer so erschrecken,“ schnaufte er und streichelte dabei seinen Hund. „Brav, brav, Zeuss, hasde gut gmachd.“ Carolin war so erfreut, dass sie stürmisch auf Jupp zu lief und ihn umarmte. „Jupp, Jupp“ gluckste sie. „Komm lernen, Worte, komm,“ plapperte sie aufgeregt. Jupp staunte nicht schlecht über das stumme Mädchen.

Sie setzten sich in die Kapelle, teilten redlich Jupps Vesper, bis der Schäfer ganz ernst auf Carolin hinunter sah. „Kleine...“ setzte er an – da schüttelte Carolin den Kopf und deutete auf sich. „Karolin“ sagte sie, „Karolin!“ Da hörte der Schäfer das Echo und ihm ging ein Licht auf. „Du hast mit dem Echo gelernt, stimmts, Kleine?“ Erfreut nickte sie und plapperte alles nach, was er ihr beigebracht hatte. Da lachte selbst der sonst so einsilbige Schäfer „Komm, Kleine, wir gehn in die Stadt, essn einkaufn,“ sagte er zu ihr. Sie nahm seine Hand und hüpfte vergnügt neben ihm her, bis hin zur 3 km entfernten Stadt. Zeuss lief brav neben dem Schäfer her. Die Leute sahen sich nach dem komischen Gespann um und schüttelten die Köpfe: ein alter Mann im Wachsmantel, ein kleines fröhliches verdrecktes Mädchen mit Schulranzen auf dem Rücken und ein zotteliger Riesenhund; und das Ganze um halb zehn morgens. Jupp steuerte zielstrebig ein Sandstein-Gebäude an und stopfte Carolin schnell durch den Eingang. Zeuss blieb vor der Tür sitzen.
Carolin besah sich mit beträchtlichem Unwillen die Polizisten und wäre am Liebsten weg gerannt, jedoch hielt Jupp sie an der Hand fest.

„Ach, der Jupp,“ sagte der eine Beamte, „ist Dir ein Schaf abhanden gekommen?“ lachte er. „Nee,“ brummelte Jupp gedehnt, „ich bring euch’n Verlorenes. Hab’se bei der Kapelle im Wald heut morgn aufgefischt. Carolin heisst se!“ Der Beamte schaute erst freundlich auf das Mädchen und meinte dann stirnrunzelnd. „Soso, Du bist also die Carolin Simon, die seit gestern mittag von ihren Eltern vermisst wird?“ Carolin schaute entsetzt den Polizisten an und schüttelte energisch den Kopf. „Mama, Papa tot!“ sagte sie schleppend, deutete dann auf den Schäfer und sagte strahlend: „ Jupp mein Papa!“ Überrascht schauten der Polizist und der Schäfer das Mädchen mit offenem Mund an.
„Was hasde denn mit dem Mädel angestellt?“ fragte der Polizist den Schäfer. „Nix,“ brummte er, „Hab ihr nur Sprechen beigebracht.“ Nun verschlug es dem Polizisten gänzlich die Sprache, denn in seiner Aktennotiz stand, dass die Ausreißerin nicht sprechen konnte.




Plötzlich wurde die Eingangstür der Polizeistation aufgerissen. Herein kamen eine wild gestikulierende Frau und ein Mann, der sie zu besänftigen suchte. Sie bahnten sich den Weg zu einem Polizeibeamten. „Wir wurden angerufen, dass unsere Tochter endlich gefunden wurde!“ ließ sich der Mann vernehmen. „Simon ist unser Name,“ sagte er noch schnell, bevor er suchend um sich blickte. „Carolin, wo hast Du Dich denn versteckt?“ rief er in quängelndem Ton. „Wissen Sie, Carolin kann nicht reden, bei uns zu Hause wird kaum geredet, weil meine Frau,“ dabei schob er seine Frau ins Blickfeld, „ stumm ist und ich selbst bin kaum daheim oder im Haus am Arbeiten.“ Der eine Polizist hob fragend eine Augenbraue in die Höhe. „Welch Lichtblick für das Kind,“ murmelte er, „Kein Wunder, dass sich das Mädel einen anderen Vater sucht. Wo steckt denn bloß die Kleine?“ Er schaute fragend den Schäfer an und entdeckte dabei unter dessen Wachsmantel zwei kleine verdreckte Schuhe. Der Schäfer nickte ihm achselzuckend zu und öffnete seinen Mantel. „Hier iss ihre Tochter,“ nuschelte er und schob Caroline vor. „Komm, Kleine, geh zu Deinen Eltern, wo Du hingehörst, und vergiß mich nicht.“ Er drehte sich auf dem Absatz um und stapfte mit hängenden Schultern aus dem Präsidium raus. „Komm Zeuss,“ hörte man ihn noch mit rauher Stimme brummen, „wir müssen an die Arbeit.“ Doch Zeuss blieb wie angewurzelt sitzen und lugte zur Tür herein, mit Blick auf Carolin. „Zeuss!“ rief Carolin schluchzend und fiel auf die Knie, “Zeuss, Jupp, Carolin nih mitnehmn?“


***

Carolin spielte zu Hause im Garten, der neuerdings eingezäunt war. Sie konnte nicht über den Zaun schauen. Durch ein paar Gucklöcher schaute sie auf die verwilderten Gärten in der Ferne Hinter sich hörte sie die Mutter mit der Gartenschere hantieren. Als sie in die Hände klatschte, drehte sich Carolin unwillig zu ihr um. Die Mutter deutete mit einer herrischen Bewegung Richtung Terasse, wo ein Tisch stand. Missmutig ging sie darauf zu und las den Zettel, den die Mutter für sie beschrieben hatte und jeden Tag dort hinlegte. „Warum bist Du weggelaufen?“ stand da in krackeliger Schrift. Carolin schaute böse zu ihrer Mutter und sagte langsam: „I will weg. I will zu Jupp un Zeuss. I will lebn. I will redn.” Entgeistert starrte die Mutter Carolin an, schüttelte dann bestimmt den Kopf und unterstrich dieses Nein mit einer Handbewegung. Carolin achtete nicht darauf und ging wieder zu dem Zaun zurück, an dem sie seit drei Woche tagtäglich nach den Hausaufgaben saß. Die Eltern hatten ihr jegliche Freiheit genommen, die Mutter brachte sie morgens zur Schule und holte sie auch dort wieder ab.


***


„Zeuss, Apollo!“ rief Jupp der Schäfer seine Hunde zu sich und murmelte, was für ihn untypisch war: „Wird Zeit, dass wir ne Wanderung machen.“ Er hatte irgendwann in der letzten Woche dem Polizeipräsidium nochmals einen Besuch abgestattet und nach der Adresse der Carolin gefragt. „Mensch Jupp, normal dürfen wir die nicht rausgeben“, hatte darauf der eine Polizist gesagt, „Aber was soll’s, hier hast Du die Adresse. Hast die Kleine ja wohlbehalten hier abgeliefert.“ Der Zettel wurde umständlich in die Tasche des Wachsmantels gestopft und danach ein befreundeten Schäfer besucht. „Kannsde 3 Tage auf meine Schäf schaun?“ hatte er ihn gefragt. „Muss mal was erledign!“ Interessiert hatte der Befragte aufgeblickt und nur kurz genickt. „Ich laß Apollo bei der Herde“

***

„Wir lesen heute eine Geschichte im Lesebuch,“ setzte Frau Hoppe, die Klassenlehrerin, an. „Schlagt dazu die Seite 38 auf und schaut Euch erst mal das Bild an.“ Ranzengeklapper, Stühlescharren und eine allgemeine Unruhe begleitete die Forderung der Lehrerin. Carolin kannte das Bild schon. Es war ihr Lieblingsbild in diesem Buch, das sie in den letzten Wochen aus Langeweile durchgelesen hatte. Es zeigte ein großes Floß, das auf das in der Ferne liegende Ufer zusteuerte. Ein Schäfer mit einem Teil seiner Herde und einem großen Hund befanden sich darauf. Carolin zückte ihren Bleistift und malte auf das Floß noch ein Mädchen. Die Lehrerin, die durch die Reihen ging, sah dies und fragte: „Carolin, warum malst Du denn in Dein Buch?“ Carolin schaute die Lehrerin verärgert an, weil sie wiedermal bei etwas Ungehörigem ertappt wurde. Mit Trotz in der Stimme sagte sie „I fehle da!“ Die Klassenkameraden lachten hinter vorgehaltenen Händen, wie immer, wenn Carolin etwas sagte. „Die lernt das wohl nie,“ hörte sie und „Was will die in der Schule. Die kann ja noch nicht mal richtig reden.“ Carolin sackte innerlich zusammen und schaute traurig auf das Bild. „Aber ih fehle doh auf dem Bild!“ murmelte sie erstickt. Neben ihr flüsterte jemand „Am Besten, die haut wieder ab, vielleicht kann die danach noch besser reden.“ Frau Hoppe verfolgte aufmerksam die Reaktionen der Kinder und schüttelte resigniert den Kopf. „Nun ist aber gut,“ ermahnte sie die Klasse. „Carolin gibt sich sehr viel Mühe. Ihr solltet ihr besser beim Lernen helfen und nicht immer hinter ihrem Rücken meckern. Das ist nicht fein!“ Überrascht schaute die Klasse die Lehrerin an, da sie zum ersten Mal für Carolin einstand. „Die kann aber nicht richtig mit uns reden!“ meldete sich Anne. „Und die spielt auch nicht mit uns!“ gab der Klaus zum Besten. „Habt ihr Carolin schon einmal gefragt, ob sie mitspielen möchte?“ fragte Frau Hoppe. Betretenes Schweigen folgte. „Denkt doch einmal darüber nach,“ setzte Frau Hoppe wieder an, „Wie es Euch gefallen würde, wenn keiner mit Euch spielen würde, weil ihr etwas nicht so gut könnt. Carolin kann sehr viel. Sie malt, schreibt und rechnet sehr gut. Das Einzige was sie noch nicht gut kann, ist Sprechen. Warum helft ihr Carolin nicht dabei?“ Nach einer kurzen Denkpause sprach sie weiter: „So, dann erzählt mir, was ihr alles auf dem Bild seht.“ Erwartungsvoll schaute sie auf ihre Schüler. Doch da klingelte es zur Pause. „Nun gut,“ sagte die Lehrerin, „Wir machen morgen weiter. Schaut Euch zu Hause das Bild an und schreibt in zwei Sätzen, was ihr seht und wie das Bild heißen soll. Wenn ihr wollt, könnt ihr auch selbst ein ähnliches Bild malen. Bis morgen Kinder!“ rief sie den davoneilenden Kindern hinterher. Sie schrieb in das Klassenbuch die Vorfälle des Tages.
Im Pausenhof zeigte sich das übliche Bild: lärmende, herumrennende Kinder, einige spielten Gummi-twist, andere Fangen und dort im Eck stand Carolin. Sie schaute wehmütig über die Mauer, hinüber zum Wald. Auf einmal sah sie einen großen Mann mit langem Mantel und einem großen Hund vom Wald herkommen. Sie stand dort wie erstarrt und schaute ungläubig auf die Erscheinung, ballte ihre Hände zu Fäusten und begann zu weinen. Da kam Anne auf sie zu und fragte sie: „Carolin, was ist mit Dir, warum weinst Du, tut Dir was weh?“ Carolin schüttelte den Kopf und deutete über die Mauer. „Da, Jupp, Zeuss.....“ schluchzte sie. Anne lief zu Frau Hoppe, die Pausenaufsicht hatte und plapperte los: „Frau, Hoppe, Frau Hoppe, kommen sie schnell, Carolin weint und sagt irgendwas, kommen sie, schnell!“ Das ließ sich Frau Hoppe nicht zweimal sagen und lief hinter der davoneilenden Anne her. Als sie Carolin erreichten, strahlte diese über das ganze Gesicht. Wieder zeigte sie über die Mauer auf den jetzt gut sichtbaren Mann. „Jupp und Zeuss,“ hauchte Carolin atemlos und rannte auf einmal los. „Carolin, bleib hier, Du darfst nicht weg rennen!“ rief noch die Lehrerin und lief nun Carolin hinterher. Carolin hörte und sah nichts, rannte lachend vom Schulgelände auf Jupp zu. Einmal blieb sie kurz stehen und rief nach dem Riesenhund. „Zeuss, Zeuss, Zeuss!“ jubelte sie. Der Hund spitzte seine Ohren und trabte auf Carolin zu, was Frau Hoppe mit erschrecktem Japsen bemerkte. Zeuss setzte sich vor Carolin nieder und ließ sich schwanzwedelnd streicheln, bis der Schäfer sie erreicht hatte. Carolin sprang auf und umarmte stürmisch ihren Weggefährten. „Jupp, Jupp,“ lachte sie, und noch einmal, als wären alle Lasten von ihr gefallen: „Papa Jupp“


***

Im Stadtpark trafen sich vier Erwachsene, ein Kind und ein Hund. „Guten Tag Frau Simon, Herr Simon, hallo Carolin und schön, dass sie auch gekommen sind, Herr Weiler!“ begann Frau Hoppe ihre Ansprache. „Ich habe um dieses Gespräch auf neutralem Terrain gebeten,“ dabei schaute sie vielsagend auf den Schäfer und dessen Hund, „ weil heute in der Schule Seltsames vorgefallen ist und ich dem Ganzen gern auf den Grund gehen möchte.“ Sie legte eine Pause ein und schaute die Eltern und den Schäfer ernst an. Carolin kniete auf dem Weg und streichelte verzückt den Riesenhund. Frau Simon deutete auf den Schäfer, verzog das Gesicht und gestikulierte in Gebärdensprache. Herr Simon räusperte sich und sagte in unverkennbar ärgerlichem Ton: „Dieser Mann da hat unsere Tochter auf den Kopf gestellt. Zu Hause hängt Carolin geistesabwesend am Zaun und ist überhaupt nicht mehr ansprechbar. Was haben sie mit unserer Tochter gemacht?“ fragte Herr Simon und machte einen Schritt auf den Schäfer zu. Zeuss spürte diese Aggression und stellte sich drohend knurrend dazwischen. „Tun sie den Köter weg!“ kreischte Herr Simon. Jupp pfiff leise den Hund zu sich.
„Zeuss lieb, Papa Jupp auh lieb!“ mischte sich da Carolin in aufgebrachtem Ton ein. „Jupp laht mih nih aus. Jupp übt mit mir redn!“
Da erzählte der Schäfer in seiner brummigen Art von dem Tag von vor 3 Wochen. Er konnte es sich nicht verkneifen hinzu zusetzen: „Die Eltern von der Kleinen sin nich gut. Geben sich keine Mühe.“
Nach langem Hin und Her wurde beschlossen, dass Carolin an Wochenenden den Schäfer besuchen darf und zweimal die Woche zu einem Logopäden gehen wird.


***


„So, Kinder, jetzt beruhigt Euch wieder,“ rief Frau Hoppe. „In der letzten Stunde schauten wir uns ein Bild im Lesebuch an. Wer von Euch kann mir sagen, was darauf zu sehen war?“ fragte sie erwartungsvoll. „Ich weiß es!“ riefen etliche Kinder und meldeten sich eifrig. „Ja, Lukas?“ forderte Frau Hoppe einen Schüler auf. „Da war ein Schäfer mit seiner Schafherde und einem großen Hund,“ rief Lukas strahlend. „Gut, sehr gut,“ sagte die Lehrerin ermunternd. „Ja, Carolin, was willst Du dazu erzählen?“ fragte Frau Hoppe erfreut. „Der Säfer rudert auf dem Floß ans andere Ufer,“ antwortete Carolin ruhig, fast ohne Fehler. „Ja, genau!“ riefen einige Schüler. „Fein ! So, dann holt Eure Hefte raus und zeigt mir, was Ihr zu dem Bild geschrieben oder gemalt habt!“ forderte Frau Hoppe ihre Klasse auf.
Da saß sie. In der letzten Schulbank. Erwartungsvoll sah sie die Lehrerin an, die gerade die Klasse aufgefordert hatte, die Schulaufgaben vorzuzeigen Sie scharrte mit den Füßen, klappte den Schulranzen auf, holte das selbstgemalte Bild heraus und reichte es leicht verschmitzt lächelnd der Lehrerin.
Später schaute Frau Hoppe die Bilder ihrer Schüler an. Bei Carolins Bild atmete sie überrascht ein. Sie hatte das vorgegebene Bild sehr genau nachgemalt. Jedoch standen auf dem Floß gut erkennbar ihr Schäfer, dessen Hund und Carolin selbst, ebenfalls mit einem Paddel in der Hand. Am entfernten Ufer konnte sie viele kleine und große Personen mit Sprechblasen erkennen. Wer sie wohl waren?





20 Jahre später stand eine junge Lehrerin vor dem Rektor einer Grundschule „Guten Tag Frau Simon, ich freue mich, Sie an unserer Schule begrüßen zu dürfen,“ sagte dieser aufgeräumt, „Bitte nehmen Sie doch Platz!“ Carolin Simon setzte sich und zog ihren Rock über die Knie. „Es hat mich auch sehr gefreut, dass Sie meiner Anfrage zustimmten und mich in Ihr Lehrerkollegium aufnehmen möchten,“ antwortete Carolin in klarem Hochdeutsch. „Wie ich Ihrem Lebenslauf entnehmen kann, kehren Sie an Ihre schulischen Ursprünge zurück?“ meinte Herr Wesely schmunzelnd. Caroline nickte und fragte: „Können Sie sich noch an mich erinnern?“ „Oh ja, das kann ich sehr wohl, Frau Simon,“ antwortete er sinnend und schaute dabei nachdenklich an Carolin vorbei an die Wand. Dort hing ein Kindergemälde mit dem Namen „Land in Sicht“

19 Bewertungen, 3 Kommentare

  • harmonbaker

    31.03.2002, 21:52 Uhr von harmonbaker
    Bewertung: sehr hilfreich

    aha, neuer Name...Grüßlis

  • jacko

    14.03.2002, 17:33 Uhr von jacko
    Bewertung: sehr hilfreich

    Hui, war das eine lange Kurzgeschichte. Aber ich habe es genossen sie zu lesen.

  • anonym

    14.03.2002, 17:27 Uhr von anonym
    Bewertung: sehr hilfreich

    Klingt gut, nur zuuuuu lang